Arda Fanfiction

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Die Heilung

von Anarya

Chapter #1

Mein Gemach wird erhellt von den ersten Strahlen der Morgensonne, die durch ein breites Fenster einfallen und kunstvolle Muster auf den Boden malen, wenn sie das feine Gewebe des Vorhangs durchdringen, der sich in einem leichten Wind bewegt.

Ruhe und Frieden erfüllen mich. Es dauerte lange, bis ich mich der erhofften Stille in mir vollends hingeben konnte. Allein wäre ich nicht imstande gewesen, diesen ersehnten Zustand zu erreichen... Ein Mann ist an meiner Seite, und ich will seine Gefährtin sein bis ans Ende unserer Tage.


Der kristallene Spiegel, vor dem ich stehe, zeigt mir eine junge Frau im Hochzeitsstaat. Hochgewachsen und schlank ist sie, und das klare Blau ihrer Augen wiederholt sich in ihrem schlichten Kleid aus kostbarer, matt schimmernder Seide. Ihr reiches blondes Haar ist kunstvoll geflochten und aufgesteckt, und als einzigen Schmuck trägt sie einen silbernen Stirnreif mit einem saphirblauen Stein.


Bin ich es - Eowyn - die mir entgegenblickt?

Ja, ich bin es!

Und ich suche vergebens in meinen Augen Eowyn, die Schildmaid Rohans, die ich einst war.

Vor mir steht Eowyn, die künftige Fürstin von Ithilien. Voller Hoffnung und Vertrauen nehme ich mein Schicksal an der Seite des geliebten Mannes an.

Ihm gleichgestellt werde ich sein als seine Beraterin, Gefährtin, Geliebte – und doch dankbar für seinen Schutz und seine Fürsorge.


Meine Dienerin Mereth, die zugleich meine Freundin ist, ist bei mir in dieser letzten Stunde, bevor sich mein Leben wandelt. Sie stört mich nicht in meinen Gedanken, schaut nur hin und wieder auf, zupft hier und dort an meinem Gewand und legt die mit silbernen Fäden durchwirkte Schleppe in schöne Falten.


Meine Gedanken wandern in die Vergangenheit und es hat den Anschein, als legten sie einen langen Weg durch viele Zeitalter zurück.


War ich das Kind, das seine Eltern viel zu früh verlor?

Ein Mädchen von sieben Jahren war ich, als mein Vater Eomund starb, erschlagen von Orks. Meine geliebte Mutter folgte ihm in ihrem unermesslichen Kummer bald nach.

So wuchs ich auf in der fürsorglichen Obhut meines Königs, der mir wie ein Vater war.

Wir haben ihn zu Grabe getragen, denn er fiel in der Schlacht bei Minas Tirith. Nun ruht er neben seinem Sohn und auf dem Grabhügel blüht Simbelmyne, der weiße Stern.


Ein wildes Kind war ich und oft entschlüpfte ich der Aufsicht meiner Kinderfrau, um mit meinem Bruder Eomer und mit meinem Vetter Theodred in wildem Galopp über das Grasland zu reiten.

Ich lernte den Gebrauch der Waffen mit einem Eifer, der seinesgleichen suchte und die Frauen meiner Umgebung erschreckte.

Es war nicht mein Bestreben, am Fenster zu sitzen und Bänder und Fahnen zu besticken. Eine Kriegerin wollte ich werden und Rache nehmen für den Tod meiner Eltern und so vieler wackerer Männer.

Ich sah das Leiden des Volkes von Rohan und war zornig.


Meine liebe Kinderfrau lief oft zum König, um sich zu beklagen und ihn händeringend anzuflehen, mich zu ermahnen, doch Theoden nahm nur tröstend ihre Hand und sprach: „Lass sie, gute Mari, sie folgt ihrem Herzen.“

Recht hatte er, mein König! Was kümmerten mich meine wehenden Haare und meine fliegenden Röcke und dass meine Hände und Wangen mit Erde beschmutzt waren!


Mari, meine liebe Mari, hattest deine Not mit mir. Ich muss lächeln, wenn ich daran denke, wie du hinter mir her ranntest und nicht Schritt halten konntest mit diesem wilden, ungebärdigen Kind. Sollst in der Zukunft für meine Kinder sorgen und ich werde Acht geben, dass sie dir folgen und dich mehr ehren, als ich es tat. Sei bedankt, Mari! Du wusstest damals schon, wovor ich mich am meisten fürchtete:

Nichts fürchtete ich mehr, als in einen Käfig gesperrt zu werden!


Und so kam es, wie es kommen musste: Ich wuchs heran und Freier stellten sich ein, die beim König um meine Hand anhielten: Hochangesehene, stattliche Männer aus allen Gegenden Mittelerdes. Doch ich wies alle ab.

Sollte ich den Herd und die Kinder hüten und meinem Gemahl ein weiches Lager bereiten, wenn er aus dem Kampf zurückkehrte?

Nein! Das war niemals meine Bestimmung! Mein Schicksal sollte es sein, als Kriegerin auf dem Schlachtfeld zu sterben und in Liedern sollte mein Mut noch in fernen Zeitaltern besungen werden!

So galt ich bald als kühl und unnahbar.


Als mein König erkrankte und seine Kraft und Klarsicht verfiel, stellte sich ein weiterer „Bewerber“ ein. Er tat es nicht offen, sondern heimlich beobachtete und belauerte er mich: Grima Schlangenzunge, der Mensch aus dem Norden im Dienste Sarumans. Ekel und Entsetzen schüttelten mich, wenn seine gierigen Blicke nach mir tasteten. Ich hätte mir eher selbst den Tod gegeben, als zu ertragen, dass mich auch nur einer seiner schleimigen Finger berührt.


„Herrin, würdet Ihr Euch bitte drehen?“, höre ich Mereth sagen. Sie versucht, einen Saum festzunähen, der sich gelöst hat.

Ihre Worte rufen mich zurück aus der Vergangenheit und ich sehe wieder die junge Frau im Spiegel.


Unwirklich scheint es mir, dass ich vor nicht allzu langer Zeit eine Rüstung trug wie ein Mann, dass ich tötete und mit dem Schwert Leiber in Stücke hieb wie ein Krieger.

Ja, da war jene Schlacht auf den Feldern der Weißen Stadt und ich hatte sie herbeigesehnt.

Mein Leben war zu Ende, als sich der Mann, den ich zu jener Zeit liebte, auf die Pfade der Toten begab. So lange, bis zu diesem bitteren Abschied, war Hoffnung in mir, seine Liebe zu erlangen. Doch er ging, so glaubte ich, in den sicheren Tod, und er hörte nicht auf meine flehende Bitte, zu bleiben oder mich wenigstens mit sich zu nehmen. Er ging und in seinen Gedanken blieb kein Raum für mich. Sein Herz gehörte ganz und gar der anderen Frau, die ich hasste, obgleich ich sie nicht kannte.

Ich tat ihr Unrecht.

Doch regierte je der Verstand, wenn das Herz sprach und wenn man liebte?


Als die nachtschwarze Dunkelheit mich umfing, fühlte ich mich wohl und warm. Jeder Hauch, der meinen Körper verließ, brachte mich näher ans Vergessen, näher in die ersehnte Freiheit.

Während ich dahintrieb in bodenloser Finsternis, suchten mich seltsame Traumgesichte heim: Mein Vater und meine Mutter, so lange schon schmerzlich vermisst, erschienen und streckten ihre Hände mir entgegen, als wollten sie mich auffangen und mit sich nehmen in die schöne Welt, in der sie weilten. Doch ich trieb davon, ohne sie zu erreichen.

Mein Onkel, mein geliebter König, wartete mit ausgebreiteten Armen, doch ich trieb vorbei und ließ ihn zurück.


Aragorns Bild verblasste. Darüber sollte ich doch glücklich sein, denn das war es doch, was ich mir wünschte.

Warum war ich nicht froh?


Ich fürchtete mich, denn die Dunkelheit wurde kalt und böse.

Ich trieb nicht mehr dahin im warmen Strom des Vergessens und der Empfindungslosigkeit, sondern ein Sog ergriff mich und zog mich hinunter in einen bodenlosen Abgrund, aus dem die Kälte des Grauens, das sich nicht beim Namen nennen lässt, mit eisigen Klauen nach mir griff. Schmerzen fühlte ich, unsagbare Schmerzen, als würde mir das Herz aus dem Leib gerissen. Welche Qual, welche Folter...

Die Worte des Fürsten der Nazgul waren in meinem Kopf und schlugen auf mich ein wie eiserne Hämmer:

„Tritt niemals zwischen den Nazgul und sein Opfer! Oder er wird dich nicht töten! Davon trägt er dich in die Häuser des Jammers hinterm ewigen Dunkel, wo dein Fleisch verzehrt wird und dein verrunzelter Geist nackt dem lidlosen Auge preisgegeben.“[1]


Hatte ich ihn nicht getötet? Erreichte mich sein Fluch noch nach dem Tode?


Als Jammer und Pein am größten waren, spürte ich, wie eine Hand die meine ergriff. Fest packte sie zu und sie war warm und tröstlich. Ich war nicht mehr verlassen. So hielten wir einander und trieben hinab in jene abgrundtiefe Finsternis.

Halt mich fest! Lass mich nicht allein!


„Herrin! Herrin! Warum weint Ihr?“

Mereths Stimme holt mich aus meinen Gedanken, und ich blicke in ihre erschrockenen grauen Augen.

„Ihr solltet nicht weinen! Heute ist ein Freudentag!“

„Es ist alles gut, Mereth. Sind nicht die Tränen einer Braut wie Perlen? Und bringen sie nicht Glück?“

Warum sollte ich sie beunruhigen mit meinen schweren Gedanken?


Ich glaubte, Zeitalter wären vergangen, als sich die Dunkelheit lichtete und eine Stimme zu mir drang: „Wacht auf, Eowyn!“

Aragorn! Sein vor Erschöpfung graues Gesicht war über mir und er küsste meine Stirn.

Ich war zurück aus dem Reich der Schatten dank der Heilkunst eines Königs.

Als ich vollends erwachte, war Aragorn schon fort zum Schwarzen Tor von Mordor.

Nichts hielt mich länger auf meinem Krankenlager, denn noch immer war in mir der Wunsch zu kämpfen, denn ich fühlte keine Lebensfreude.


Dann begegnete ich ihm: Faramir.

Als er zum erstenmal meine Hand nahm und als ich die Stärke und Wärme dieser Hand spürte, da erkannte ich, wer mich hielt, während ich in die Dunkelheit fiel...

Auch ihn hatte der Schwarze Atem der Nazgul berührt und gleich mir war er geschwächt durch ein bitteres Schicksal, doch traf es ihn ungleich härter: Die Liebe eines Sohnes zu seinem Vater wurde nicht erwidert und in den lichten Momenten, als das Fieber ihn verbrannte, sah er über sich das Gesicht eines Wahnsinnigen und den todbringenden Schein einer Fackel.


‚Wer ist dieser Mann’, dachte ich, verwirrt darüber, dass ich mich hingezogen fühlte zu ihm. Sehr schnell erkannte ich seinen edlen Charakter und seine Sanftmut. Es ging mir gut, wenn er da war und so suchte ich immer öfter seine Nähe. Ich sehnte mich nach seiner Wärme und er bot mir Schutz und Geborgenheit.


Weiße Frau von Rohan nannte er mich.

Frau – wie gut das klang!

Noch hielt ich sein Gefühl für Mitleid, doch als er mit sanfter Hand mein Gesicht zu sich erhob und ich in seine klaren grauen Augen blickte, versank ich darin wie in einem ruhigen Wasser, denn ich sah nichts als Liebe und ich erkannte: Meine unselige Liebe zu Aragorn war die Liebe einer Kriegerin zu ihrem Feldherrn. Bis in den Tod wäre ich mit ihm gegangen.


Nun wollte ich leben!

Ich lauschte und suchte Rohans Schildmaid in mir. Ich fand sie nicht. Sie war fort.

Eine Frau wollte ich sein, seine Frau!

Als er mich küsste am helllichten Tag auf der Mauer bei den Häusern der Heilung, erkannte ich meine Bestimmung: Ich bin eine Frau, und mit ihm will ich leben und nie mehr kämpfen müssen. Ich liebe ihn, wie eine Frau einen Mann liebt, und ich will ihm zur Seite stehen mit all meiner weiblichen Stärke.


Es ist ein seltsames Geschick, dass erst Schmerz und Unglück nötig sind, sich selbst zu erkennen.


„Herrin, man erwartet Euch! Es ist soweit!“


Ein letzter Blick in den Spiegel aus Kristall zeigt mir eine junge Frau im Hochzeitsstaat, die aufbricht in ein neues Leben. Ihre Augen leuchten blau wie der Sommerhimmel über ihr.

Ich wende mich ab und ich weiß, wenn dieser Tag vorüber ist, werde ich mit letzter Gewissheit niemals wieder die sein, die ich einst war


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[1] J.R.R. Tolkien: Der Herr der Ringe, Teil III, Die Wiederkehr des Königs, Klett-Cotta Stuttgart 2001, S.135
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