Arda Fanfiction

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Der Schatten von Angmar

von Dairyû

Kapitel II - Cardolan

Besorgt lauschte König Varahir von Cardolan den Berichten der Boten, die von den Ostgrenzen seines Reiches gekommen waren, so schnell ihre Pferde sie hatten tragen können.
Von Unruhen war die Rede, von Orks, die sich zusammenrotteten und in Scharen an den Grenzen auftauchten, um Angst und Schrecken unter die Menschen zu bringen.
Auch von anderen Übeln wurde berichtet, die noch mehr gefürchtet wurden, als die hässlichen Orks, denn diese waren wenigstens zu bekämpfen. Aber die Schatten in der Nacht, die in die Häuser eindrangen und mordeten, die konnte keiner vernichten.

Und um es noch schlimmer zu machen, war der frühe Winter mit einer solchen Wucht über Arnor hereingebrochen, dass viele Lebewesen starben, weil sie erfroren oder verhungerten und von den wilden Wargen verschlungen wurden, die hungrig aus dem Nebelgebirge kamen.
Manch einer äußerte den Verdacht, dass der Hexenkönig aus Angmar daran Schuld war, denn von dort war nie etwas Gutes gekommen, solange die Menschen des Nordens sich erinnern konnten. Varahir war mehr als geneigt, diesen Äußerungen zu glauben. Der Herr von Angmar war unberechenbar.

Ein einziges Mal erst hatte er den Hexenkönig gesehen, in seine Augen geblickt und seitdem die Furcht vor diesem Wesen nicht mehr verloren. Es war schon lange her, denn Varahir war alt, selbst nach den Maßstäben der Dúnedain, die länger lebten, als die gewöhnlichen Menschen. Damals war er noch ein Knabe gewesen, hatte an der Seite seines Vaters gestanden und den unerwarteten Gast betrachtet, der dem König von Cardolan seine Aufwartung gemacht und vielerlei Dinge angeboten hatte. Doch er war abgewiesen worden, denn der Fürst hatte gar wohl gewusst, wer ihn zu betören suchte. Noch immer hörte Varahir die Worte des Hexenkönigs und erinnerte sich an das Lächeln auf dem bleichen Gesicht. "Nun denn, ich achte Euren Mut, Fürst von Cardolan, doch er wird Euch nichts nützen. Eines Tages werde ich wiederkehren und dann wird Euer Reich fallen!"

Aus Angmar kam nichts Gutes, das war gewiss, aber fast sechzig Jahre war aus Angmar auch kein Lebenszeichen mehr gekommen. Immer wieder hatte das Schreckensreich im Nordosten Krieg in die Länder der Dúnedain gebracht. Aber immer wieder hatten sie gegen den Ansturm der wilden und grausamen Horden bestehen können, weil sie gewandte Krieger waren und weil die Elben ihnen Hilfe leisteten.
Vor gut einem Menschenalter hatten die Angriffe aus Angmar plötzlich aufgehört.
Viele hofften damals und auch jetzt noch, der Fürst des Landes sei in die Schatten zurückgekehrt, aus denen er gekommen war.

Auch König Varahir hoffte aus tiefstem Herzen, dass die Unruhen an seinen Grenzen keinen anderen Grund hatten, als den schlimmen Winter, der die Orks und die anderen Bewohner des Nebelgebirges aus ihren Verstecken hervortrieb, sie in die Nähe der Menschen und ihrer Siedlungen führte ... Doch sein Herz wusste es besser; allein, er weigerte sich, dem Verhängnis ins Auge zu sehen, um den Mut nicht zu verlieren.
Baradour, einer der geschicktesten und tapfersten Fährtensucher und Anführer der Boten aus dem Grenzgebiet, hatte dem König Bericht erstattet und stand nun vor Varahir in der düsteren Halle, die als Versammlungsort und Thronsaal diente.

Felle und gewebte Tücher bedeckten den steinernen Boden in vielen Schichten. Sie waren nicht nur zur Zierde da, sondern hielten die Kälte, die aus der Erde kroch, ein wenig ab. Die Wände der Halle waren mit wunderschönen Ornamenten und Bildern bemalt, die Szenen aus der ruhmreichen Vergangenheit der Dúnedain zeigten. Oftmals regten die Bilder die Sangesfreudigen unter den Menschen von Cardolan an, ein Lied über Elendils Taten und die seiner Söhne anzustimmen; die Schöpfer von Arnor und Gondor.
Aber die Gäste, die sonst bei König Varahir weilten, waren seit Wochen ausgeblieben. Schuld war der bittere Winter, der Schneemassen und Frost aus der nordöstlichen Ebene herantrug und die Menschen zwang, in ihren Häusern zu bleiben und sich zu verkriechen wie die wilden Tiere.

Kaum einer wagte sich hinaus, wenn er nicht musste und diejenigen, die für den Winter gut vorgesorgt hatten, waren nur zu beneiden. Viele jedoch hatten sich nicht vorbereiten können.
Unter ihnen waren die zahlreichen Krieger, die nicht die Zeit und das Wissen eines Bauern oder Jägers besaßen. Sie lebten von den Erträgen der Ackerbaukundigen und Waidmänner, für deren Schutz sie sorgten, indem sie über Cardolan wachten.
Jahraus und jahrein war diese Gemeinschaft keinen Herausforderungen unterworfen worden.
Manch einer meinte, es würde ewig so weiter gehen.

Aber dann kam der Winter, viel zu früh und viel zu heftig in diesem Jahr, und mit ihm kamen die Probleme.
Die Nahrung wurde allmählich knapp. Das allein hätten die riesigen Kornkammern des Königs auffangen können, aber viele Menschen waren gar nicht in der Lage, aus den entlegenen Gebieten in die Hauptstadt zu kommen, um sich Nahrung zu holen. Die Straßen waren unpassierbar für Gespanne, und auch Pferde und Ochsen kamen nur mit sehr großer Mühe voran. Einzig den wandererfahrenen Kriegern der Dúnedain setzte der Schnee nicht so zu.
Mit dem Schnee kamen die Orks und Warge und der Schrecken über die Menschen in den Grenzgebieten.

König Varahir zog das dicke Wolfsfell eng um seine knochigen Schultern. Man mochte Dutzende Feuer in seiner Thronhalle entzünden - sie kamen gegen die eisige Kälte nicht an, die überall hinkroch. Kein noch so dicker Pelz war auf Dauer ausreichend.
Varahir sah seinen Boten nachdenklich an. Der Schnee auf Baradours Gewändern schmolz nur langsam und der Mann verströmte einen eisigen Hauch, den sogar Varahir auf seinem Thron spürte.

Baradour war groß und kräftig, ein vergnügter Mensch, dessen Mund immer zu einem Lächeln bereit war. Jetzt jedoch erschien seine Miene düster und Varahir glaubte, Resignation auf seinen Zügen zu erkennen.
Vielen Dúnedain aus Cardolan ging es nicht anders. Der Winter war etwas, dass sie nicht zu bekämpfen vermochten! In jede Schlacht hätten sie sich mit Begeisterung geworfen, denn dort war der Feind greifbar und mit Schwert und Lanze zu vernichten. Aber Schnee und Eis konnte kein Sterblicher aufhalten.
Dennoch gab es eine Aufgabe für die Dúnedain ...

"Baradour, ich danke Euch für den Bericht", sagte König Varahir nach einer Weile. "Ich möchte, dass Ihr Euch ausruht, denn ich fürchte, dass jetzt jeder Kämpfer aus Cardolan gebraucht wird. Man wird Euch rufen lassen, wenn es an der Zeit ist."
"Mein König!" Baradour verneigte sich ehrerbietig vor seinem Herrn. Er verbarg seine Sorgen um den gebrechlichen Fürsten von Cardolan.
Varahir war alt und ausgezehrt.
Sein einstmals stattlicher Körper war nun gebeugt von der Last der Jahre und seine langen, schwarzen Haare waren grau geworden. Nur in seinen funkelnden, dunklen Augen sah man den Schein des Feuers, das ihn in seiner Jugend erfüllt hatte.

Aufregungen waren jetzt nichts mehr für ihn. Da er ein guter König war, liebten ihn seine Untertanen. Sie wollten ihn noch lange auf dem Thron von Cardolan wissen, denn er war besonnen und klug. Und er hatte keine Söhne. Wenn der Thron Cardolans verwaiste, bevor sich ein würdiger Nachfolger gefunden hatte, dann war es für Arthedain ein Leichtes die Oberhand zu gewinnen. Vielen Dúnedain Cardolans widerstrebte dieser Gedanke, denn sie waren der Ansicht, dass Arthedain keinen größeren Anspruch auf Arnor hatte, als Cardolan.
Aber wer konnte ahnen, was die Zukunft brachte? Sie wandelte sich unentwegt und kein Sterblicher vermochte sie vorherzusagen.
Als Baradour wie geheißen den Saal verlassen hatte, befahl Varahir seinen Herold zu sich, um einen Rat einberufen zu lassen.

~~~

Varahir erhob sich langsam und schwerfällig von seinem Thron. Es war fast zwei Wochen her, dass er nach den besten Kriegern und Weisen seines Landes geschickt hatte. Es war bedauerlich, viel Zeit verloren zu haben, aber daran ließ sich nichts ändern. Die Menschen waren dem Wetter unterworfen, und etwas anderes, als sich zu beugen, blieb ihnen nicht.
Der König schaute die Männer an, die sich in der großen Halle versammelt hatten. Viele vertraute Gesichter sah er und sein Herz wurde etwas leichter, denn er wusste, dass die Dúnedain zwar nur wenige waren, aber dass das Blut ihrer ruhmreichen Vorfahren noch immer ungetrübt ihn ihren Adern floss. Sie würden füreinander und für ihr Reich einstehen, was es auch kosten mochte.

Die Feuer, die der Halle wenigstens etwas Wärme spenden sollten, warfen Schatten auf die Gestalten in ihren groben, dicken Gewändern, so dass es schien, als seien sie Gefährten aus längst vergessenen Zeiten, wie sie in den Liedern besungen wurden, die die Dúnedain an ruhigen Tagen vortrugen. Und vielleicht glichen sie den Altvorderen tatsächlich mehr, als sie ahnten, denn auch ihnen stand Schwieriges bevor. Keiner konnte es genau benennen, aber jedem einzelnen der Männer war bewusst, dass der einberufene Rat eine große Bedeutung hatte, ging es doch um nicht weniger, als um die Sicherheit Cardolans und seiner Bewohner.
"Mein Fürst", begann Cevaron, ein großer Kämpfer unter Varahirs Getreuen und Krieger aus den östlichen Gebieten, "wir müssen etwas gegen die Unruhestifter an unseren Grenzen unternehmen. Mit jedem Tag wird es schlimmer. Die wenigen Kämpfer, die wird dort haben, sind kaum in der Lage gegen die Orks und die Warge zu bestehen. Ich habe meine Mannen ungern allein gelassen. Jedes Schwert und jeder Bogen zählt! Es geht nicht an, dass Eure Untertanen im Osten in Schrecken leben sollen. Stellt eine Streitmacht auf und schickt sie aus, die Eindringlinge zu vernichten."

Beifälliges Gemurmel erhob sich unter den Männern. Sie alle waren bereit, sich für den Frieden an der Grenze und die Menschen dort einzusetzen, die hauptsächlich Bauern und Handwerker waren und nur wenig oder keine Erfahrung in kriegerischen Auseinandersetzungen hatten.
"Eure Bereitschaft in den Kampf zu ziehen ehrt Euch, meine Getreuen", erwiderte Varahir bedächtig. "Auch ich sorge mich um die Bewohner der Grenzlande, aber eine innere Stimme warnt mich davor, überstürzt zu handeln. Der Winter und die Unruhen scheinen mir nicht die einzigen Bedrohungen zu bleiben. Etwas anderes, schlimmeres ist im Entstehen. Ich fühle es wie die Kälte um uns herum, auch wenn ich nicht weiß, welcher Art das Unheil ist, dass drohend seine Schatten vorauswirft. Zudem Sorgen mich die Nachrichten aus Rhudaur.
Vielleicht sind die Berichte wahr, die davon künden, dass die Fürsten des Landes vor Jahren vom Dunklen aus Angmar verführt wurden ..."

König Varahir seufzte. Sah er vielleicht Gefahren, wo keine waren?
Aber es galt vieles zu bedenken in unsicheren Zeiten.
Die Männer nahmen seine Worte nachdenklich auf. Auch mancher unter ihnen glaubte, in Schnee und Eis nur Vorboten eines größeren Übels zu erkennen.
Oronir, Varahirs Heermeister, wiegte bedächtig den Kopf, dann sagte er: "Ihr habt recht, mein König. Düstere Zeiten ziehen für uns auf! Sie beginnen schon jetzt - an unseren Grenzen, dessen bin ich überzeugt. Sollten wir der Bedrohung nicht schon dann gegenübertreten, wenn sie erst am Horizont sichtbar ist, so wie es auch Cevaron vorgeschlagen hat?
Lasst einen großen Teil Krieger aus Cardolan zusammenziehen und in die östlichen Grenzgebiete schicken, damit sie die Ordnung wieder herzustellen versuchen."

Bis spät in die Nacht redeten die Männer in Varahirs Halle. Fast alle brachten sie etwas hervor, was bedenkenswert war und sorgfältig abgewogen wurde. Aber schließlich befanden sie Oronirs Vorschlag für gut. Cevaron wurde ausgewählt, die Krieger aus Cardolan zu führen, denn er kam aus dem Osten, kannte die Gebiete, die Wege und Siedlungen, und so wusste er um die besten Möglichkeiten der Verteidigung oder des Angriffs.
Am frühen Morgen machten sich Boten auf den Weg, um die Dúnedain-Krieger, die sich nicht an Varahirs Hof aufhielten und die innerhalb kürzester Zeit zu erreichen waren, in die Hauptstadt zu holen. Längst nicht alle konnten zu den Waffen gerufen werden, aber es war immer noch eine große Schar. Binnen einer Woche waren die Recken, die in den Osten gehen sollten, ausgerüstet und der Kriegstrupp stand zum Abmarsch bereit.

König Varahir betrachtete den Auszug seiner Männer mit Sorge. Nur ungern hatte er ihrem Drängen und der Entscheidung des Rates nachgegeben, sie gehen zu lassen. Ihr Schicksal war ungewiss, denn das Wetter war noch schlechter geworden und die Grenzen immer unsicherer.
Zu allem Überfluss war er dadurch vieler seiner Krieger beraubt! Es behagte ihm wenig, zu wissen, dass Cardolans Kampfkraft beträchtlich geschwächt worden war.
Von düsteren Vorahnungen heimgesucht sah König Varahir in die Zukunft.

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