Arda Fanfiction

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Die weiße Möwe ruft

von Raven Aorla

Chapter #1

Der Traum war wiedergekommen. Es war Jahrhunderte her, dass Herr Elrond diese Vision gehabt hatte, doch sie war dieselbe, die sie immer war. Alles, was er hörte, als er erwachte, war das sanfte Seufzen des Windes und das ruhige Klopfen, das mit jeder Welle kam, welche das Schiff in Richtung der Anfurten schob. Trotz aller Bemühungen konnte der Halbelb den Schrei, den er gehört hatte, als er schlief, nicht zurückholen: den Schrei einer weißen Möwe.

Es trieb ihn unter Mond und Stern
Weitab vom Nördlichen Gestad,
Und irrend übers wilde Meer
Verlor er Sicht und Menschenspur.

Etwas zog Elrond hinauf, aus seiner Kabine heraus auf das Deck des letzten Schiffes. Alles, was er sah, war die ruhige, graue See und die schimmernden Sterne über ihm, teilweise von Wolken verhüllt. Der Stern, der ihm vorausgeschienen hatte, war nicht mehr da und auch das Aufblitzen des Weißen, das in seinem Traum an diesem vorüberzog, nicht.

Die Wüstenhitze auch verließ
Er eilends, rieb noch weit umher
Auf dunklen Wassern ohne Stern
Bis in die Nacht des Nichts hinein.
Auch diese ließ er hinter sich,
Doch nie erblickt' er unterwegs
Der heißersehnten Küste Licht.

Jedesmal, wenn diese Bilder zu ihm zurückkehrten, war es in einer Nacht voller Trauer oder Angst gewesen. Das erste Mal war es geschehen, als er noch ein Kind war, nachdem er und sein Bruder verlassen worden waren. An jenem Tag waren er und Elros zu jung gewesen, um zu verstehen, warum ihre Eltern sie verlassen mussten, und warum sie von fremden Kriegern umgeben waren, die sie noch nie zuvor gesehen hatten. Er hatte sich in den Schlaf geweint, doch als er in die Nacht hinergeglitten war, hatten Klänge einer Musik aus unbekannter Quelle ihn beruhigt, und er träumte von dem Stern und der Möwe.

Der Winde Wüten jagte ihn
Geblendet durch den wilden Gischt
Von West nach Osten willenlos
Und nirgends freundlich angesagt.

Später, Jahre und Jahrzehnte später war der Traum beim Tod seines einzigen verbliebenen Verwandten zurückgekehrt. Obwohl Elrond sich nach Elros’ Entscheidung, den Pfad der Menschen zu gehen, über den kommenden Tod seines Bruders im Klaren gewesen war, war es noch immer schmerzhaft. Wieder einmal sah er in der Nacht einen hellen Stern über sich funkeln, heller als alle anderen. Und die Möwe, die zu ihm hinflog, deren Namen er kannte, jedoch nicht aussprechen konnte…

Schon sah er Mittelerde weit,
Weit unter sich, schon hörte er
Die Frauen der Altvordernzeit
Und Elbenmaiden klagen laut.

Während der Schlachten des Letzten Bündnisses gegen Sauron kehrte er fast jede Nacht zurück. Einige im Lager flüsterten, dass in Zeiten des Unfriedens etwas ihrem Herrn folgte. Sie sahen ein fremdartiges Licht auf ihn herab scheinen, wenn sie sich in Dunkelheit befanden, oder wenn er sich verirrte, flog ein Vogel über ihren Köpfen, der ihn und sein Gefolge in Sicherheit führte.

Schon sanken hinter ihm dahin
Der Erde Grenzen, wandte er,
Verzehrt von Sehnsucht, sich nach Haus,
Den Weg zu suchen durch die Nacht,
Und ganz allein, ein heller Stern…

Für ein Zeitalter danach erfuhr Elronds Leben eine Wendung zum Besseren. Als Herr von Imladris, Gemahl von Celebrían und Vater dreier schöner Kinder lebte er in Frieden. All diese Freude hatte die Schatten verscheucht und er hatte kein Bedürfnis nach Hilfe oder Trost, als alles gut war. Er vergaß diesen eindringlichen Traum fast, bis erneut Kummer in sein Leben zurückkehrte. Als seine Gemahlin zu den Anfurten aufbrach und ihn verließ, flog der weiße Vogel wieder in seinen Schlaf.

Da nahte Elwing sich im Flug,
Und Licht durchflammte schwarze Nacht,
Von ihrer Kette glomm es weiß,
Viel heller noch als Diamant.

Jetzt verstand er endlich, wer es war, der ihm in den Nächten seiner Trauer folgte. Die heutige Nacht war eine Nacht stiller Traurigkeit mit der Trennung von seiner Tochter; Arwen, die er niemals wieder sehen würde, soweit er dies voraussehen konnte. Doch nun gab ihm dieser Traum den Wunsch ein, dass eine andere Dame, die er liebte, ihm zurückgegeben würde. Celebrían, das wusste er, erwartete ihn am anderen Ufer. Was, wenn vielleicht noch eine andere warten würde?

Er sah den Berg in Dämmergrau
Aufragend zwischen Valinor
Und Eldamar, im Lichte noch
Verblauen hinter ferner See.

In diesem Moment teilten sich die Nebel über Elrond. Der Stern Earendils enthüllte sich und sein weißes Feuer strahlte auf den Sohn Earendils selbst hinab. Er war heller, als er je in Arda erschienen war und wetteiferte mit den Mondstrahlen selbst. Hoffnung, inbrünstige, unsterbliche Hoffnung, dass sein Vater ihn sehen könnte, ihn erkannte und liebte, stieg in dem Herzen des Halbelben auf. Bitte, dachte er, möge doch auch das andere Zeichen erscheinen und ich werde es glauben. Mit dem blinden Vertrauen eines Kindes suchte er den Himmel ab. Für viele Augenblicke war dort nichts.

Sie heftete den Silmaril
Ans Haupt des Schiffers, krönte ihn
Mit Licht, das nie verlöschen kann.
Beherzt warf er das Ruder um;
Und in der Nacht erhob sich Sturm
Von jenseits aller Meere her.
Es wehte frei und voller Kraft
Ein Wind der Macht von Tarmenel:
Auf Wasserpfaden, unbekannt
Den Sterblichen…

Ein süßer, liebkosender Wind blies dem Schiff entgegen. Ihm nachspürend erspähte Elrond, wonach er sich sein ganzes, waches Leben lang gesehnt hatte. Eine weiße Möwe flog am Mond vorbei zu dem am meisten geliebten der Sterne. Sie rief in den Himmel, ein hoher, wehklagender Laut. Mit den feinen Ohren eines Elben konnte er verstehen, dass es ihm galt. Es war eine Aufforderung, ein Versprechen, eine Anweisung, zu folgen.

Ein Wanderer, der Nacht entflohn,
Lief endlich in den Hafen ein
Im Elbenlande weiß und grün
Die Luft war mild, durchsichtig-blaß,
Dem Hügel nah von Ilmarin,
Da spiegelte der Schattensee
Das Licht der Türme Tirions.

„Naneth, Adar“, flüsterte der dunkelhaarige Elb und hielt sich an der Bordwand des Schiffes fest. „Ich komme! Danke!“ Dann kehrte er für einen weiteren gesegneten Traum in sein Bett zurück.
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