Arda Fanfiction

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Der Schatten von Angmar - Teil 2

von Dairyû

Ein Schrecken in der Nacht

In den nächsten Tagen schneite es zwar nicht mehr, aber dafür zwang ein unerbittlicher Frost das Land in seinen Griff. Der Schnee verharschte innerhalb einer Woche und machte das Laufen außerhalb der freigeschaufelten Wege schwierig und unangenehm.
Freder hatte sich bei Lero einquartiert, um den beschwerlichen Aufstieg zu seiner Höhle zu sparen, denn er wollte nicht den Rest des Winters dort oben allein vor dem Kamin sitzend verbringen, nur weil kein Besuch mehr kommen konnte oder besser gesagt wollte; von Lero abgesehen.

Als Gegenleistung für das Dach über dem Kopf hatte er Lero geholfen, von dessen Heim aus einen schmalen Weg bis an die Große Oststraße heran zu bahnen, die von den Michelbinger Hobbits in gemeinsamer Anstrengung von einem Großteil des Schnees befreit worden war; zumindest im Ort und ein wenig darüber hinaus.
Ganz Michelbinge war Tage lang mit dem Schaufeln von Schnee beschäftigt gewesen.

So kam es, dass die Hobbits einerseits außerordentlich froh darüber waren, dass sich keine Wolken am Himmel zeigten, andererseits machte der klirrende Frost ihnen ein wenig Sorgen, denn bitterkalte Winter brachten so manch unangenehme Erscheinung mit sich, wenn man den alten Erzählungen Glauben schenken durfte. Und dieser Winter schien sich von einem Tag auf den anderen entschieden zu haben, einer der kältesten zu werden, den das Auenland je erlebt hatte. Und das sollte etwas heißen!

Zu Zeiten der ältesten Hobbits in Michelbinge hatte es einige Winter gegeben, die selbst den Unbekümmersten nach einer Weile Sorgen gemacht hatten. Aber mit Eis und Schnee waren die Bewohner des Auenlandes immer zurecht gekommen. Warum sollte es jetzt anders sein?
Die meisten hatten schon lange Jahre Brennholz gelagert und da es in den letzten Wintern kaum gebraucht worden war, konnten sie in dieser Beziehung recht unbesorgt in die Zukunft blicken. Essbare Vorräte gab es ebenfalls genug, und das war für ein Gros der Hobbits immerhin die Hauptsache, und so kehrte bei den Michelbingern nach einer Weile wieder der Alltag ein.

Zwei Wochen nach der großen Überraschung in Form des Schnees saßen viele Michelbinger wie fast jeden Abend im einzigen, aber dafür sehr großen Wirtshaus des Ortes – dem "Glücklichen Hobbit" –, nippten am vorzüglichen, heißen Bier und pafften ihre geliebten Pfeifen, erzählten und sangen und waren guter Dinge, denn das Leben ging weiter; nicht weniger angenehm als vor einigen Tagen; das Schneeschaufeln hatten die meisten Hobbits schon wieder vergessen, obwohl es für viele wahrhaftig kein Zuckerschlecken gewesen war – denjenigen hatte es allerdings auch nicht geschadet.

Der "Glückliche Hobbit" war kein Wirtshaus im eigentlichen Sinne, so wie man es von den Großen Leuten kannte, sondern eine besonders breite und langgezogene und damit geräumige Höhle, in deren hinterem Teil sich einige Zimmer befanden, die Hobbits aus den anderen Teilen des Auenlandes bei Besuchen in Michelbinge als kurzzeitige Bleibe dienten – wenn sie keine Verwandten hatten, bei denen sie unterkommen konnten oder wollten. Eine weitere, abgetrennte Ecke enthielt eine kleine Küche und einige halbvolle Fässer Wein, die im vollen Zustand im Keller lagerten, der – als eine Art zweite Höhle – unter die Gaststube gegraben worden und mit dicken Balken abgestützt war.

Niedrige Bänke und Tische waren um einen großen Kamin verteilt, der die Südseite der Höhle beherrschte. Jetzt prasselte ein munteres Feuer darin, das eine wohlige Wärme verbreitete.
Das Wirtshaus trug seinen bezeichnenden Namen mit vollem Recht, denn die Hobbits in Michelbinge – ja eigentlich im ganzen Auenland – waren tatsächlich glücklich. Sie verbrachten ihre Tage in Gemütlichkeit und Harmonie.

Seit das Land den Hobbits von König Argeleb dem Zweiten überlassen worden war, weil die Dúnedain, die wahren Herren Eriadors, immer weniger wurden, hatten Glück und Zufriedenheit geherrscht. Das Auenland war seit jeher eine Oase des Friedens gewesen. Den Hobbits fehlte es an nichts. Sie konnten fruchtbare Böden beackern und ihr Vieh auf saftige Weiden treiben, Holz schlagen und Trauben ernten und Pfeifenkraut anbauen. Was um sie herum vorging, erfuhren sie nicht, denn sie hielten sich in den engen Grenzen ihres Landes.

Die Große Oststraße war schon lange kein Weg mehr, den es sich zu gehen lohnte und so kam es, dass die Hobbits ungestört blieben und nicht gedachten, daran von sich aus etwas zu ändern.
Zudem barg das Leben der Großen Leute wenig Interessantes und die verehrungswürdigen Elben waren so fern, wie die Sterne und die Glücklichen Lande, die die Unsterblichen in ihren Liedern besangen. Ein gewöhnlicher Hobbit hatte keinen Grund über seinen Tellerrand zu blicken.
Mit dem Mundwerk taten sie es jedoch.

Das Geschichtenerzählen war eine der liebsten Beschäftigungen an langen Wirtshausabenden.
Dann konnten sich vor allem die Alten einer großen Zahl Zuhörer sicher sein, die begierig auf jedes Wort lauschten, welches über die Lippen derjenigen kam, die die meisten Geschichten zu erzählen wussten.
Die Tradition des Erzählens mochte ein Überbleibsel aus den Tagen sein, als die Hobbits aus den Regionen des Oberen Anduin fortgewandert waren und ihren Weg nach Westen gesucht hatten, bis sie schließlich das Land erreicht hatten, das nun den Namen Auenland trug.

Aus dieser Zeit war so manche Erzählung geblieben, die von Elben und Großen Leuten handelte, von Drachen und Trollen und finsteren Ereignissen, die beim Schein des Kaminfeuers einen wohligen Schauer über die Rücken der Hobbits jagten.
Aber all das war vergangen und konnte getrost vergessen werden, wenn die nötige Bettschwere erst einmal da war und die Tür des behaglichen Heims geschlossen wurde und alles draußen blieb, was die Träume hätte stören können.

Einzig der Gedanke an Wölfe wirkte manches Mal beunruhigend, denn dass diese Kreaturen mehr waren als ein Kinderschreck, davon zeugte das mit Stolz im Mathom-Haus in Michelbinge ausgestellte Fell eines solchen grauen Gesellen, der es vor vielen Jahren einmal gewagt hatte, das Auenland zu betreten und Vieh zu reißen, bis eine Abordnung beherzter Hobbits dem Burschen den Garaus gemacht hatte.
Das war lange her; aber immerhin erzählungswürdig, wie so vieles.

Datho, ein feister Hobbit mittleren Alters und der stolze Bürgermeister Michelbinges gab gerade eine seiner beliebten Geschichten zum Besten, als die Tür des Wirtshauses krachend aufflog und ein atemloser junger Hobbit in die Schankstube hineinplatzte und die Unterhaltungen zum Erliegen brachte. Ein Schwall Kälte folgte dem neuen Gast und winzige Eiskristalle glitzerten in seinen braunen Haaren und auf seiner Kleidung und sein Gesicht war gerötet.

Hier und da wurden unwillige Stimmen laut, die Tür möge doch bitte schnell wieder geschlossen werden, sonst würde das Bier kalt. Andere murrten, weil sie auf die Geschichten Dathos begierig waren; auch wenn sie sie in und auswendig kannten.
Fahrig warf der junge Hobbit die Tür ins Schloss, dann stürmte er vorwärts, so dass er vor dem Kamin zum stehen kam. Verwunderte Blicke und leise Bemerkungen folgten ihm. Die Michelbinger hatten schon des Öfteren einen der ihren abgehetzt erlebt – besonders die jüngeren Hobbits legten zuweilen eine gewisse Eile an den Tag – und schüttelten belustigt die Köpfe, war diese Eile doch fast immer ein untrügliches Zeichen dafür, das irgendwo eine Angebetete wartete. Aber mitten im Winter in das Wirtshaus zu stürmen war dann doch etwas ... ungewöhnlich. Dessen ungeachtet wandten sich die meisten der Anwesenden jedoch nach wenigen Augenblicken achselzuckend wieder ihren eigenen Angelegenheiten zu, während einige den unerwartet hektischen neuen Besucher auffordernd musterten.

"Am Ortsrand auf der Straße nach Westen ist etwas!" keuchte der Hobbit aufgeregt. "Etwas sehr Großes und es bewegte sich und machte unheimliche Geräusche, als es mich sah! Ich bin auf der Stelle davon gelaufen ..."
Die Gespräche, die nach dem Erscheinen des jungen Hobbits wieder aufgenommen worden waren, verstummten erneut. Man warf sich bezeichnende Blicke zu. War hier jemand vom Schneekoller übermannt worden? Das weiße Zeug mochte ja eine Zeit lang prächtig anzusehen sein, aber auf die Dauer wurde es vielen zu eintönig.

"Du hast zu viel Phantasie, Nico!" bemerkte Lero, der sich mit Freder ebenfalls in der ausgelassenen Runde der Wirtshausbesucher befand, lachend und hob seinen dampfenden Bierkrug. "Komm, setzt dich zu uns und genieß ein warmes Bier und dann erzähl uns in Ruhe, was du gesehen haben willst."
Beifälliges Raunen erhob sich ringsum und wurde mit Kopfnicken bekräftigt.
"Du warst ja schon immer ein wenig fahrig, Nico, um nicht zu sagen hastig!" ließ sich eine Stimme vernehmen.

"Möglicherweise hat er dem Bier schon zu Hause zugesprochen!" warf ein anderer Hobbit ein und erntete damit Gelächter, denn Nico stand nicht ganz zu Unrecht im Ruf, ein gutes Tröpfchen gleich welcher Art nicht zu verschmähen und eine ansehnliche Fäßchensammlung zu besitzen.
Weitere gutmütige Neckereien machten die Runde und die Hobbits lachten und scherzten und ließen den armen Nico gar nicht zu Wort kommen. Er sah hilfesuchend von einem zum anderen. Normalerweise hätte er mitgelacht, denn ihm machten die Scherze auf seine Kosten nichts aus. Aber jetzt war dem jungen Hobbit keineswegs nach Lachen zumute.

"Nein!"
Nicos schriller und verzweifelter Schrei verschaffte ihm endlich die ersehnte Aufmerksamkeit.
"So glaubt mir doch. Ich bin, bevor ich mich auf den Weg hierher machen wollte, noch ein wenig herumgewandert. Die Luft ist so herrlich und klar und die Sterne funkeln und da bekam ich Lust auf einen kleinen Spaziergang. Ich wanderte also langsam die Hauptstraße entlang und kam schließlich an den Ortsrand. Ich ging noch ein Stückchen weiter – man braucht keine Laterne, so hell ist das Sternenlicht – und wie ich so an die Stelle komme, bis zu der wir den Schnee zur Seite geschaufelt haben, da entdecke ich ein wenig vor mir einen Schatten. Er war riesig! Ihr wisst, dass der Schnee dem Größten von uns bis an die Brust reicht ... Dieser Schatten war mindestens doppelt so groß. Ich hatte den Eindruck er würde mich ansehen und sei drauf und dran, sich auf mich zu stürzen. Da habe ich die Beine in die Hand genommen und bin schnurstracks hierher gelaufen!"

Nach einem Moment völliger Stille begannen die Hobbits miteinander zu tuscheln und tauschten Blicke, die nun nicht mehr spöttisch waren, sondern eher nachdenklich und besorgt.
Nicos eindringliche Stimme und sein ungewohntes Verhalten ließen das Scherzen verstummen und riefen andere Gefühle bei den Hobbits hervor.
Einige erinnerten sich, von Wesen gehört zu haben, die vor Urzeiten über die Welt gestreift sein sollten, grausam und gnadenlos und mit unaussprechlichen Namen. Über sie gab es keine Geschichten, nur vage Andeutungen, die man lieber schnell wieder vergaß, wenn man ein Hobbit mit gesunder Nachtruhe bleiben wollte.

Die etwas phantasieloseren, aber durchaus pragmatischeren Hobbits sprachen aus, was vielen jetzt in den Sinn kam.
Ein Wolf!
Es war immer wieder einmal vorgekommen, dass in strengen Wintern ein oder zwei Wölfe das Auenland heimgesucht hatten, viele prächtige Geschichten, in denen zwar manchmal übertrieben wurde, die aber nichtsdestotrotz wahr waren, zeugten davon. Woher die Wölfe kamen, wusste keiner zu sagen, aber dass sie gefährlich waren, wussten schon die Kleinsten.

Die hungrigen Tiere hielten sich an allem schadlos, was sie bekommen konnten. Und da sie recht groß waren, machten sie auch vor den Hobbits nicht Halt, wenn sich eine günstige Gelegenheit bot. Und wenn man an die vergangenen vierzehn Tage dachte, dann konnte dem einen oder anderen Wolf schon gehörig der Magen knurren!
Es war nicht auszuschließen, dass Nico einen solchen ungebeten Besucher gesehen hatte. Der junge Hobbit mochte maßlos übertrieben haben, was die Größe des unbekannten Wesens anging; aber wenn die Annahme stimmte, dann hatten die Michelbinger eine Aufgabe: den Wolf zur Strecke zu bringen, bevor er Unheil anzurichten vermochte!

Genau diesen Gedanken hatte auch Datho, der Bürgermeister, als er aufstand, sich neben Nico stellte und energisch um Ruhe bat.
Er räusperte sich gewichtig und sagte, als er der Aufmerksamkeit aller Hobbits sicher sein konnte: "Unser junger Freund hier", dabei tätschelte er Nico väterlich die Schulter "hat mich davon überzeugt, doch einmal nach dem Rechten zu sehen. Ich schlage vor, wir stellen eine kleine Gruppe Hobbits zusammen, schnappen uns ein paar Lampen, Heugabeln und Knüttel und begutachten das ... Wesen am Ortsausgang erst einmal etwas gründlicher."

Datho sah sich beifallheischend um, und da er keinen Widerspruch bekam, fragte er: "Wer erklärt sich bereit, mitzukommen?"
Sofort reckten sich zahlreiche Hände in die Höhe, denn die Neugier der Hobbits war größer als etwaige Bedenken.
Datho schüttelte den Kopf. "Nicht so viele. Wir stolpern sonst über unsere eigenen Füße. Ich werde ... selbstverständlich Nico mitnehmen, dann Freder und Lero ..." Datho nannte noch vier weitere Namen – alle von Hobbits, bei denen er sich sicher sein konnte, dass sie nicht nur aus reiner Neugier mitkamen und dass sie im Ernstfall nicht einfach die Beine in die Hände nehmen würden.

Freder und Lero sahen sich an und zuckten mit den Achseln. Sie hatten sich beide nicht gemeldet, waren aber ohne zu Zögern bereit, dem Aufruf des Bürgermeisters Folge zu leisten.
Die Hobbits, die nicht mitdurften murrten ein bisschen, gaben sich dann aber zufrieden. Es war immerhin allemal gemütlicher in der behaglichen Wirtsstube zu sitzen, als sich draußen die Zehen abzufrieren. Sie würden schon früh genug dahinterkommen, was es mit Nicos mysteriösem Schatten auf sich hatte.
Datho stolzierte an der Spitze der Abordnung zur Tür heraus. Als sie sich schloss, begannen die ersten schon, aus dem heutigen Abend eine Geschichte zu machen ...
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