Arda Fanfiction

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Fehlerhaft und Makellos

von Tehta

Ein kleines Beisammensein

Ecthelion war beschäftigt. Glücklich beschäftigt. Es gab einfach so viel zu tun. Die bevorstehende Abreise der Dame Aredhel erforderte eine Neuorganisation der Palast-Sicherheit – möglicherweise sogar der ganzen Wache, da sie einen ihrer geschätzten Anführer mit sich nahm, doch Ecthelion wollte darüber jetzt nicht nachdenken. Der gegenwärtige Dienstplan der Patrouille war eine weit dringendere Angelegenheit. Ja, Ecthelion war gewiss sehr beschäftigt. Und er hatte Glück: bald würde er endlich in der Lage sein, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, ohne die unausweichlichen Ablenkungen zu fürchten.

Er würde nicht befürchten müssen, dass irgendwer mit einer faszinierenden neuen Waffe auf den Übungsplätzen erschien und darauf bestand, sie gemeinsam mit ihm auszuprobieren. Und dann würde er keinen Grund haben, die Kleidungsschutz-Regelung der Wache, die das Kämpfen ohne Hemd vorsah, zu bereuen, wenn neue Techniken ausprobiert wurden. Er würde seine Augen nicht dazu zwingen müssen, sich auf die Füße, die Augen oder die Klinge des Gegners zu konzentrieren, anstatt sie zu all den interessanten Punkten dazwischen abgleiten zu lassen. Sicherlich würde er sich nicht versucht fühlen, seine Waffe fortzuwerfen und sein Glück im Ringkampf zu suchen. Oder eine völlig unpassende Antwort zu geben, wenn ein Übungsgegner, den bloßen Oberkörper vor Anstrengung gerötet, direkt auf ihn zu kam und ihn bat, mit seinem Griff zu helfen.

Ecthelion bemerkte, dass er die letzten Minuten damit zugebracht hatte, an die Wand zu starren, an der die Offiziere der Wache aufgelistet waren. Er hatte die Liste persönlich nur wenige Stunden zuvor aktualisiert und schon fragte er sich, wann er diesen einen Namen auf seinen rechtmäßigen Platz zurücksetzen konnte. Angesichts dessen, welch unglaubliches Glück er hatte, irritierte ihn seine Unfähigkeit, sich auf dringende Angelegenheiten zu konzentrieren, sehr. Er entschloss sich, Hilfe zu suchen. Mit diesem rätselhaften Blatt zumindest – und es gab immer eine Chance, dass ein Gespräch mit einem Freund ihm helfen würde, seinen Geist von unproduktiven Gedanken zu befreien.

Nach einem kurzen Wort mit den diensthabenden Männern trat er aus dem Wachhaus heraus und in die Straßen der Stadt. Es war Mittag und sonnig. Die Brunnen glitzerten voller Licht und ihre Musik war ein zarter Gegensatz zu dem täglichen Summen der Stimmen. Als Ecthelion sich dem östlichen Markt näherte, änderte sich das Summen zu einem Chor von Rufen, die das fallende Wasser übertönten. Er überquerte den Markt, nahm eine Treppe hinauf auf die Stadtmauer und hielt auf den Turm zu, von dem aus Egalmoth, Freund und Kollege, seine Bogenschützen befehligte.

Als Ecthelion eintrat, legte Egalmoth die Pfeile, die er mit Federn versehen hatte, zur Seite und erhob sich von seinem Tisch, um seinen Besucher warm zu begrüßen. Er wirkte ungewöhnlich erregt, oder vielleicht war es nur seine Aufmachung: seine Gamaschen waren kanariengelb, sein Hemd von einem Grasgrün und sein Gewand von rotem Samt mit orangefarbenem Muster. Seine Stiefel waren indigoblau.

Es gab keinen Zweifel daran, dass Egalmoth stolz darauf war, Herr des Himmlischen Bogens zu sein.

Nachdem sie ihre Grüße ausgetauscht hatten, hielt Egalmoth einen Pfeil in die Höhe. „Nun, was denkst du?“

Ecthelion betrachtete ihn. „Ich sehe, dass du es endlich geschafft hast, alle sieben Farben des Regenbogens im Flug zu versammeln, Es… ergibt eine interessante vielfarbige Wirkung.“

„Weißt du, das ist genau das, was auch Glorfindel sagte.“

Ecthelion zuckte zusammen bei dieser Erinnerung an Glorfindels guten Geschmack und Takt und, tatsächlich, an seinem Namen und seine Existenz. Doch dann entsann er sich seines Anliegens und reichte Egalmoth den Dienstplan. „Und was denkst du?“

Egalmoths scharfes Bogenschützen-Auge glitt darüber. „Salgants Handschrift. Hmm, ich denke, dass der unglückliche Harfenspieler dir noch den ‚Vorfall des Getadelten Konzertes’ vergeben muss.“

„Ich habe nur versucht, konstruktive Kritik anzubieten! Ich verstehe nicht, warum die Leute darauf bestehen, mich nach meiner ehrlichen Meinung zu den Dingen zu fragen, wenn das Letzte, was sie wollen, ist, sie zu hören.“ Ecthelions Augen wanderten schuldbewusst zu den bunten Pfeilen. „Auf jeden Fall… du kannst nicht wirklich glauben, dass dies eine Art persönliche Rache ist? Es schadet der ganzen Wache.“

„Er denkt wahrscheinlich, dass es nur ein harmloser Scherz ist. Du weißt, wie er ist.“ Egalmoths Augen funkelten. Er liebte Geschichten und Klatsch ebenso wie Ecthelion originelle Waffen mochte. „Wusstest du, dass er einst grüne Farbe in Glorfindels Haarwaschmittel getan hat?“

„Nein.“ Glorfindels Haar: wieder etwas, an das Ecthelion sich nicht zu erinnern brauchte. Und doch klang Salgants Streich wirklich blasphemisch. „Was ist geschehen?“

„Eigentlich nichts. Glorfindel hat fast die Beherrschung verloren.“

„Wie außerordentlich maßvoll.“

„Oh, er hat es gerade rechtzeitig bemerkt, etwas an dem Geruch, und du weißt, wie stolz er darauf ist, nett zu schwierigen Leuten zu sein. Er sagt, Salgants Scherz war lediglich ein Schrei nach Hilfe.“

Ecthelion war hin- und hergerissen. Einerseits konnte er Salgant nicht nur aus persönlichen, musikalischen und jetzt Haar-bezogenen Gründen nicht leiden. Andererseits, dieser selbstgefällige „Hilfe“-Kommentar forderte es geradezu heraus. Es war beinahe ebenso herablassend wie zu sagen, jemand habe eine schwierige Kindheit gehabt.

„Aber das sind olle Kamellen“, sagte Egalmoth. „Die neuesten Neuigkeiten sind: du, mein Freund, wirst dich nicht viel länger um Salgant, seine Scherze oder seine Musik sorgen müssen.“

„Was meinst du?“

„Ah, hast du noch nicht von der geplanten Reise der Weißen Dame gehört?“

„Doch, das habe ich. Ich war anwesend als…“ Oh, er hätte niemals herkommen sollen. Diese Unterhaltung war eindeutig verhext, alles führte zurück zu Punkt A. „… als Glorfindel seine Aufforderung erhielt. Doch was hat das mit Salgant zu tun?“

„Bestimmt glaubst du nicht, dass nur ein Fürst der Wache eine genügend beeindruckende Eskorte für König Turgons eigene Schwester ist? Nein, sie muss drei haben.“

„Glorfindel, Salgant und…“ Ecthelion hatte Recht gehabt: Egalmoth sah ungewöhnlich erregt aus. Und es musste einen Grund für all diese frisch mit Federn versehene Pfeile geben. „Du!“

Egalmoth nickte. „Interessante Auswahl, findest du nicht?“, sagte er. „Obwohl ich glaube, ich kann ihren Gedankengängen ganz gut folgen. Ich wurde ausgewählt, damit sie jemanden zum Jagen habe, Salgant als Harfenspieler, damit sie jemanden zum Zuhören habe und Glorfindel – damit sie jemanden zum Flirten habe.“

Die Theorie schien ja einleuchtend, doch dieser letzte Teil störte Ecthelion noch immer, und nicht nur, weil er wieder eine weitere Rückkehr zu Punkt A bedeutete. Möglicherweise, weil es ein wenig ungerecht war. „Zumindest kann Glorfindel kämpfen“, meinte er.

„Musst du immer so gerecht sein? Du magst ihn nicht einmal“, sagte Egalmoth. „Sicher kann er kämpfen. Aber deswegen hat die Dame nicht nach ihm gefragt.“

„Denkst du wirklich, da ist etwas zwischen ihnen?“ Nun, Glorfindel hatte lustvolle Gedanken zugegeben. Vielleicht betrafen sie die Weiße Dame, die hochgeboren, schön und wirklich seiner fast würdig war. Und es war leicht zu glauben, dass sie sein Interesse erwidern könnte. „Das gäbe ein nettes Paar, einer dunkel, einer blond.“ Zu Ecthelions Missfallen klang seine Stimme angespannt, nicht leichthin und amüsiert, wie er gehofft hatte, sie klingen zu lassen.

Egalmoth schien einiges an Spitzfindigkeit in seinen merkwürdigen Ton hineinzulesen. „Du hast Recht, mein weiser Freund. Die Dame ist immer sehr angetan gewesen von blonden Männern.“ Nach einem schnellen Blick durch den leeren Raum beugte er sich leicht vor. „König Turgon gab uns eine ziemlich merkwürdige Anweisung. Ich frage mich, ob du ahnst, was es ist?“

„Ich bezweifle es.“

„Er bat uns, all unseren Einfluss zu nutzen, um sie auf dem nördlichen Weg zu halten.“

Der nördliche Weg führte zu König Fingon, die südliche Route – die einzige wirkliche Alternative – führte in das Waldelbenreich von Doriath und zu den Ländern dahinter. Die Söhne Feanors lebten dort und unter ihnen Celegorm, der Schöne, Aredhels Halb-Cousin und langjähriger Freund.

„Ah“, sagte Ecthelion. „Eure Aufgabe ist tatsächlich schwierig.“

„Ja, denn wie kann unser Einfluss Erfolg haben, wenn der ihres Bruders versagt hat?“ Egalmoth stieß einen gespielten Seufzer aus, bevor er grinste. „Doch stell dir vor: die Gelegenheit, einen Sohn Feanors in seinem natürlichen Lebensraum zu beobachten. Und Doriath zu besuchen. Sie sagen, ihre Königin ist eine Maia und ihre Tochter das bezauberndste Mädchen der Welt.“

Fehlerhaft wie er war, konnte Ecthelion von Geschichten über bezaubernde Mädchen nicht berührt werden. Doch er konnte sich für seinen Freund freuen. „Gratuliere, Egalmoth.“

„Danke. Es ist eine großartige Gelegenheit, nicht wahr? Ein Grund zum Feiern. Weshalb ich“, sagte Egalmoth, „ein kleines Beisammensein organisiere. In meinem Haus, während der Nachtschicht. Du musst kommen! Wir wollen singen.“

Da er schon mehrere von Egalmoths „kleinen Beisammensein“ besucht hatte, wusste Ecthelion sehr gut, dass sie alles andere als klein waren. Er wusste auch, welcher Art das Singen sein würde und welcher bekannte Gardist fast sicher dabei wäre. Möglicherweise sogar als zweiter Gastgeber. Doch Freundschaft brachte noch immer ihre Verpflichtungen mit sich. Er versprach zu erscheinen.



Ecthelion dachte, dass die Feier ganz nett begonnen hatte, auch wenn er selbst weniger laute Ereignisse bevorzugte. Von den Offizieren, die keine Nachtwache hatten, waren fast alle anwesend und es gab reichlich Wein. Nicht, dass dieser wirklich gebraucht wurde: einige der Männer, besonders die jüngeren, die in der Stadt geboren worden waren, schienen von der bloßen Idee der Mission betrunken zu sein, noch bevor Egalmoth und Glorfindel sich für den ersten Trinkspruch erhoben hatten.

„Willkommen, Freunde“, sagte Glorfindel. „Wir haben-“

„Großes Glück!“, rief ein Jüngling.

„Ja, Glück, von Euch fort zu kommen, Voronwe“, sagte Egalmoth.

„Darauf trinke ich!“, schrie Voronwes Nachbar. Und das tat er. Viele folgten seinem Beispiel und bald war jeder Anspruch an Ordnung verloren, als die Menge die Gastgeber mit Wünschen überschwemmte.

„Bringt uns Neuigkeiten mit zurück!“

„Ja, Fürst Egalmoth! Bringt uns ein wenig Klatsch mit zurück!“

„Klatsch über die Orks!“

„Bringt uns einfach ein paar Orks mit zurück!“

Dieser spezielle Wunsch wurde mit lautem Jubel und vielem Trinken belohnt.

„Wir werden euch einen Balrog mit zurückbringen!“, rief Glorfindel über die Menge und der Jubel wandelte sich zu Gebrüll.

Als er all diesen Vorschlägen zuhörte, wunderte Ecthelion sich über Salgants Abwesenheit, doch nicht allzu sehr, denn es war gut möglich, dass der Harfenspieler den lächerlichen Dienst-Plan-Scherz bereute und sich selbst zum Dienst eingetragen hatte. Schließlich verließ er die pöbelnde Menge und unterhielt sich einige Zeit mit Duilin und Penlod, nur um sie an ein lautes Trinkspiel zu verlieren, das in der Mitte des Raumes im Gange war. Wieder allein nippte er an seinem Getränk und beobachtete das Chaos. Es waren nicht nur die Jungen, bemerkte er, sondern fast jeder im Raum war neidisch auf Aredhels Eskorte. Natürlich war das vollkommen normal angesichts der Merkwürdigkeit, in dieser abgeschlossenen Stadt zu leben, in einem Tal, das innerhalb eines Tages durchquert werden konnte. Wenn er selbst noch nicht dem Neid erlegen war, dann nur deswegen, weil er so unnatürlich war, dass sein Geist sich anderweitig beschäftigt hatte.

Unfähig, es zu verhindern, sah er in Glorfindels Richtung. Zu seiner Überraschung trafen sich ihre Blicke über ihre Becher hinweg. Glorfindel zwinkerte und leerte seinen in einem einzigen Schluck.

Ja, der Wein floss sicherlich reichlich heute Nacht. Selbst das trunkene Singen hatte viel eher begonnen als gewöhnlich. Ecthelion, der wusste, dass die meisten der Männer, besonders jene seines eigenen Hauses, fähige Musiker mit einem soliden Geschmack waren, hatte niemals verstanden, warum trunkenes Singen so überaus schlecht sein musste. DerZusammenklang der Stimmen driftete stets sehr auseinander und die meisten der bevorzugten Lieder hatten entweder einen grauenhaft unsinnigen Refrain oder erwähnten tote Orks. Oder, in manch wirklich unversöhnlichen Fällen, beides. Er versuchte, die Geräusche auszublenden und sich stattdessen auf das sanfte Schwappen des Weins am Boden seines Bechers zu konzentrieren.

„Hier, lasst mich Euch nachschenken, damit wir gemeinsam auf den Abschied trinken können.“

Glorfindel hatte sich, mit einer große Flasche in der Hand, zu seiner Rechten gesetzt. Ecthelion reichte ihm den Becher und beobachtete, wie er die Flüssigkeit mit jener bewussten, kontrollierten Bewegung eingoss, die darauf hinwies, dass das meiste des Flascheninhalts bereits in Glorfindel hineingegossen worden war. Während ein formaler Trinkspruch wie eine großartige Idee klang – genau das, was Ecthelions Unterbewusstsein zwingen könnte zu erkennen, dass es vorübergehend außer Dienst sein sollte – konnte er nicht anders, als sich milde besorgt zu fühlen.

„Danke, Glorfindel“, sagte er. „“Gern werde ich Euch zuprosten. Ich werde jedoch nicht brüskiert sein, wenn Ihr Euch selbst zurückhaltet. Diese Flasche muss mittlerweile halb leer sein.“

„Halb voll würde ich das nennen.“ Glorfindel hielt die Flasche hoch gegen eine Lampe, so dass sein Gesicht in blutfarbenes Licht getaucht war. Ecthelion spürte die Vorahnung, bevor er sich daran erinnern konnte, dass er niemals viel Vertrauen in Vorzeichen hatte.

„Auf Eure sichere Rückkehr dann“, sagte er sehr zu seiner eigenen Überraschung. Peinlich berührt kippte er den Wein so schnell hinunter, dass er sich fast verschluckte.

„Ihr meintet das ernst.“ Glorfindel lächelte ein bisschen. „Ihr wollt, dass ich zurückkomme, trotz unserer kürzlichen Schwierigkeiten.“ Sein breiter werdendes Grinsen erhellte den schwach erleuchteten Raum und Ecthelion empfand die volle Wirkung des verabscheuten Glorfindel-Charmes. Der Charme, der es angeblich war, warum er in erster Linie für die Eskorte ausgewählt worden war.

„Sicherlich tue ich das“, sagte Ecthelion. „Es sei denn, natürlich, dass Ihr wünscht bei der Dame zu bleiben.“

Glorfindel schüttelte seinen Kopf. „König Turgon sagt, wir müssten zurückkehren, sobald unsere Aufgabe erledigt ist. Auf jeden Fall ist mein Platz hier, in der Stadt.“

Plötzlich wurde die Wand zwischen ihnen mit Wein bespritzt, das Opfer eines immer lauteren Trinkspiels. Ecthelion kümmerte sich nicht darum: da er praktisch veranlagt war, hatte er seine ungeliebtesten, schlecht sitzenden, formalen Gewänder zu tragen gewählt. Glorfindel dagegen überprüfte in der Zwischenzeit sein Haar auf Zeichen von Schaden. Ecthelion konnte keinen sehen, nahm aber an, dass man jede Strähne berühren müsste, um sicher zu gehen. Ihm kam in den Sinn, dass keiner seiner störenden Träume jemals in einer behaglichen Ecke mitten auf einem lauten Fest gespielt hatte. Die Vorstellung war erschreckend, denn die beiden waren in voller Sicht der ganzen Wache. Es war aber auch merkwürdig faszinierend. Ecthelion fand sich damit ab, einen solchen Traum in der näheren Zukunft zu haben.

„Findet Ihr es sehr falsch von mir“, fragte Glorfindel unvermittelt, „dass ich mich auf Abenteuer in der äußeren Welt freue, wenn es meine eingeschworene Pflicht ist, die Stadt zu beschützen?“

„Nein. Ich habe diesen Umstand nicht einmal in Erwägung gezogen.“ Ecthelions Ablehnung Glorfindel gegenüber loderte und brannte mit einer weingetränkten Flamme. Er wollte Glorfindel hassen als jemand Selbstgerechten, der sich seiner Güte wie auch seiner Schönheit und seiner Fähigkeiten so sicher war, aber diese jüngsten Zeichen eines regen Gewissens – die morgendliche Beichte und nun diese Frage – ruinierten alles. Abgesehen davon verachtete er seine neue Rolle als Glorfindels Beichtvater und strahlender Gipfel der Moral. Er wusste, dass dies nicht besser zu seinem fehlerhaften Selbst passte, als die unbequemen Gewänder, die er trug.

Ja, die Rolle war wirklich ziemlich genau so wie die Gewänder; gerade jetzt konnte er keines von beiden ablegen, ohne Glorfindel nicht etwas ziemlich Verstörendes zu enthüllen.

„Es ist hart, wenn Pflicht und Verlangen kollidieren.“

Glorfindels leise Klage ließ Ecthelion zunächst in Panik ausbrechen, bis er bemerkte, dass das erwähnte Harte die Situation war und nicht etwas Beunruhigendes, das sich unter jemandes Gewändern befinden konnte. Dann wurde er ärgerlich, denn was wusste Glorfindel schon von Konflikten von Pflicht und Verlangen? Als er sprach, war seine Stimme scharf.

„Glorfindel, Ihr werdet gefühlsduselig. Es gibt keinen Konflikt. Ihr wollt gehen; Euer König befiehlt es Euch. Ihr könnt die Stadt glücklich und zufrieden verlassen.“

„Wartet, Ihr habt Recht“, sagte Glorfindel. „Ich wusste das. Aber warum fühle ich mich dann so merkwürdig unglücklich?“ Er sah Ecthelion an, als ob Ecthelion die Antwort auf diese Frage hätte, oder wäre.

Äußerst durcheinander gebracht sah Ecthelion sich im Raum um und suchte nach einem Ausweg. Er hatte Glück. Egalmoth begegnete seinem Blick und winkte ihn hinüber in die Ecke, wo er gerade einen unordentlichen Haufen von Gardisten dirigierte: einen improvisierten Chor.

„Ecthelion, komm her! Sing!“

Das war sicherlich seine Pflicht als Gast. Ecthelion stand auf, ließ Glorfindel allein und machte den Versuch, das betrunkene Gesinge zu retten. Zuerst sang er lediglich zusammen mit der Menge in der Hoffnung, dass seine Stimme allein einen Unterschied machen würde. Als dies scheiterte, wurde er ein bisschen kühner: er leitete über in ein inspirierendes, lyrisches Lied über die Ruhmreiche Schlacht. Es war technisch kein schwieriges Stück, daher fand er es ziemlich ärgerlich, dass niemand sonst seiner Führung folgen wollte und dass er sich viel zu schnell allein singend wiederfand. Dennoch, als er geendet hatte, hatten einige der Zuhörer – die betrunkeneren, wie er vermutete – Tränen in den Augen. Er war ziemlich zufrieden mit sich selbst, den Ton dieses Beisammenseins gehoben zu haben, als die rührselige Menge ohne Warnung in eine andere Melodie überging.

Unsere Pfeile fliegen,
Unsere Schwerter glänzen hell
Sterben werden alle Orks!
Fließen wird ihr schwarzes Blut!
O! til-lil-lil-lully
Orks erschlagen ist lustig.
Ha! Ha!

Ecthelion hatte nicht genug getrunken, um mit dem Gedanken zurechtzukommen, dies angeregt zu haben. Er verabschiedete sich von einigen wenigen halb-nüchternen Freunden und verließ das Gebäude.

Die Abendbrise war kühl und frisch. Im Vergleich dazu fühlte er sich schwer und benommen; er vermutete, dass er letztendlich doch leicht betrunken war. Als er im Eingang stehen blieb, um sich zurechtzufinden, stieß er unvermutet auf etwas Unerwartetes.

Glorfindel stand draußen und lehnte sich an eine Statue wie an einen Freund. Sein Haar leuchtete schwach selbst gegen den hellen Marmor. Ecthelion tat die Skulptur leid. Der Künstler hatte offensichtlich versucht, irgendein Ideal von Schönheit einzufangen und hier ließ ein gefühlloser Trottel sie ziemlich schlicht aussehen.

Glorfindel wandte seinen Kopf der Tür zu. „Oh, Ihr seid es“, sagte er. „Ihr singt gut.“

Wie konnte er das wissen? Er war hinausgegangen, lange bevor das eigentliche Singen begonnen hatte. Ecthelion war von diesem plötzlichen Verschwinden irritiert gewesen und doppelt irritiert, davon berührt zu sein.

„Zu gut“, fuhr Glorfindel fort. „Ihr lasst selbst das Ork-Liedchen klingen wie einen Heldengesang, Ihr… Ich habe Euch niemals zuvor diese Rot-Schattierung tragen sehen.“

Ecthelion sah hinunter auf seine verachteten Gewänder. Geradeso wie er es erwartet hatte, war das ohnehin zu sehr glänzende Satin an verschiedenen Stellen noch glänzender und feucht von verschütteter Flüssigkeit. Unglücklicherweise sah die Aufmachung nicht vollständig ruiniert aus. Dennoch war seine zweifelhafte Modeentscheidung sicher nicht Glorfindels Angelegenheit.

„Ja, ich schwätze vor mich hin“, erklärte Glorfindel. „Ich muss nach Hause.“ Er löste sich von der Statue und tätschelte ihr zum Abschied den glatten Arm. Allerdings lehnte er sich nach einem unsicheren Schritt gleich wieder an sie.

Nun gab es hier ein interessantes moralisches Dilemma. Für Ecthelion war es ziemlich deutlich, wo seine Verantwortung lag: er sollte diesen Offizierskollegen nach Hause schaffen, bevor irgendeiner der Männer ihn in diesem erbärmlichen Zustand sah. Seine eigenen Verlangen, so unedel wie sie waren, schienen gleichermaßen deutlich und sie begannen ganz unschuldig damit, Glorfindel nach Hause zu bekommen. Jedoch schien noch ein dritter Faktor am Werk zu sein, denn Ecthelions Gewissen sagte ihm, dass dieses Vorgehen, das gleichzeitig von Pflicht und Verlangen bestimmt wurde, entsetzlich falsch war.

Doch es war zu spät am Abend, um langatmige Debatten mit seinem eigenen Gewissen zu führen. Ecthelion erleichterte die Statue von ihrer Last, indem er einen von Glorfindels Armen über seine Schultern zog.

„Ich werde Euch helfen“, sagte er.

„Nein!“ Glorfindel schwankte gegen ihn. „Seht Ihr, ich bin in dieser äußerst merkwürdigen Stimmung…“

„Genau deswegen sollte ich Euch helfen.“

Glorfindel schielte Ecthelion an. „Richtig. Immer so verantwortungsbewusst. Ich vergaß.“

Bald stolperten sie durch kaum belebte Straßen. In jedem Hof spielten die Brunnen ihre Musik, ausnahmsweise einmal nicht begleitet vom Chor der Stimmen. Es war ein beruhigendes Geräusch und doch konnte Ecthelion sich nicht entspannen, denn über das plätschernde Wasser hinweg konnte er Glorfindels Atmen, ja, selbst das Schlagen seines Herzens hören. Die daraus resultierende Komposition war beunruhigend. Er versuchte sie mit müßigem Geplauder zu übertönen.

„So“, sagte er. „Ich habe bemerkt, dass Salgant nicht bei der Feier war.“

„Er will nicht gehen“, murmelte Glorfindel. „Armer Salgant. Hatte eine schwere Kindheit.“

Ecthelion stöhnte innerlich.

„Ich wünschte“, sagte Glorfindel und seine Stimme war klar, „dass Ihr statt seiner mitkommen würdet.“

„Ja“, sagte Ecthelion und überraschte sich erneut selbst damit. „Ich meine, wir alle wünschten, wir würden gehen.“

Sie gingen schweigend weiter und Ecthelion traute sich nicht zu sprechen, aus Angst vor weiteren Überraschungen. Der über seine Schulter geworfene Arm war warm, aber leicht; Glorfindel lief hauptsächlich aus eigener Kraft nach Hause und seine freie Hand schwenkte aus, um seinem Gleichgewicht zu helfen.

Aber die Treppe hinauf zu Glorfindels privater Wohnung war eng und dort scheiterte er endgültig und stolperte, so dass Ecthelion ihn an sich ziehen musste, um ihn vor dem Fallen zu bewahren. Er war erstaunlich schwer für jemanden, der sich normalerweise mit solcher Anmut bewegte. Es mussten all diese Muskeln sein, lange in den Übungshallen und den Badehäusern beobachtet, die sich nun unter Ecthelions Fingern bewegten. Einige Strähnen goldenen Haars strichen gegen Ecthelions Gesicht und gelangten in seinen Mund und seine Augen. Es hätte eine Szene aus einem Traum sein können, nur hatte Ecthelion niemals von einem bewusstlosen Partner geträumt. Hier gab es etwas Falsches, das jenseits dessen lag, was Ecthelion an sich selbst verachtete, etwas Falsches, das das Verlangen tötete. Er ließ seine Last los.

Glorfindel glitt auf eine der Stufen. „Verzeiht“, sagte er. „Seht Ihr? Nicht perfekt.“ Sein Kopf rollte zurück gegen die Wand und seine Augen schlossen sich.

Zum Glück war die Tür gleich dort oben.

„Glorfindel, wenn ich eben Euren Schlüssel haben könnte…“

Es kam keine Antwort. Ecthelion kniete sich auf eine Stufe nieder. Er konnte keinen Schlüsselbund sehen. Er untersuchte Glorfindels Ärmel und Gürtel. Die maßgeschneiderten Roben wiesen keine offensichtlichen Taschen auf und verborgene zu finden, würde nicht leicht sein. Sehr sehr vorsichtig begann er, seine Hände über Glorfindels Körper zu bewegen und nach irgendetwas Unpassendem zu suchen. Er fühlte sich neblig abscheulich: obwohl dies eine Situation war, nach der er sich gesehnt hatte, war das Falsche immer noch da. Er war gerade dabei, die allgemeine Hüftregion abzusuchen, als Glorfindels Augen sich öffneten.

„Was tut Ihr?“

Ecthelion versuchte, all seine Würde zusammenzunehmen. „Ich suche nach einem Schlüssel.“

„Aber die Tür ist unverschlossen“, sagte Glorfindel.

Und das war sie auch. Noch immer verwirrt von der ganzen Episode, zog Ecthelion Glorfindel hinein und hinüber zum Bett, welches – er konnte nicht anders als es zu bemerken – groß und bequem aussah. Seine Aufgabe war erledigt – oder? Er war nicht wirklich sicher, wie er sich um jemanden, der so betrunken war, kümmern sollte, zumindest nicht über den vagen Gedanken hinaus, dass das Stiefel-Abstreifen eine gute Idee wäre. Er zuckte mit den Schultern und setzte sich hin, um Glorfindel die Stiefel auszuziehen. Nach kurzem Zögern nahm er Glorfindel auch den Gürtel ab. Auch wenn er versucht hatte, sanft zu sein, verlief diese letzte Aktion nicht unbemerkt.

„Hier, lasst mich…“ Glorfindel setzte sich auf und griff nach seinem Hemd. Bald waren Hemd, Robe und alle weiteren Kleidungsstücke halb ausgezogen und hingen um seinen Kopf herum. Für einige Augenblicke starrte Ecthelion auf seinen nackten Bauch und die umherrudernden Arme und dachte dumpf, dass dies ein Anblick war, auf den er niemals in seinen Träumen gestoßen war, bevor seine bessere Natur endlich wieder die Oberhand gewann. Er half Glorfindel, seine Hände zu befreien und dann seinen Kopf. Das Haar fiel hinab und glitt durch Ecthelions Finger. Er setzte sich zurück und betrachtete es.

Natürlich hatte Ecthelion Glorfindel schon in sehr viel weniger als diesem Aufzug gesehen, in Wirklichkeit und in der Traumwelt, doch hier, in dem dunklen Raum, leuchtete Glorfindels Haut fast so hell wie sein Haar. Und er war eindeutig nicht mehr das tote Gewicht, das er auf der Treppe gewesen war. Seine Augen blickten wachsam. Nur einige wenige Gesten ließen noch immer seinen benebelten Zustand erkennen. Zum Beispiel hatte er seine rechte Hand auf Ecthelions Schulter gelegt und bewegte sie jetzt in einer Weise, die fast eine Liebkosung hätte sein können. Vielleicht hielt er Ecthelion fälschlicherweise für Aredhel – obwohl die Ähnlichkeit weit entfernt von bemerkenswert lag. Aber, natürlich, er war von Natur aus liebevoll und das musste ihm selbst jetzt geblieben sein.

Das Verlangen kehrte zurück. Der dunkelste, fehlerhafteste Teil von Ecthelions Geist stellte verlockende Fragen. Fragen wie „an wieviel hiervon wird er sich erinnern?“. Ihre Gesichter waren eine Handbreit voneinander entfernt; alles was Ecthelion tun musste, war sich vorzubeugen und dann… Wenn nach Erklärungen gefragt würde, nun, hatte er nicht selbst getrunken? Er ersehnte nicht viel, nur Hitze und Druck – oder war es einfach so, dass er von jemandem, der kaum bei Bewusstsein war, nichts mehr erwarten konnte? Aber natürlich konnte er, er konnte sich um eine Antwort bemühen. Wie falsch würde es sein, Vergnügen zu geben? Glorfindel lesen zu lassen, was er wollte, ihn für Aredhel zu halten, für irgendwen. Und dann würde Ecthelion mehr wissen. Sein Gedächtnis würde Anblick und Geräusch aufsaugen und seine Träume würden besser, genauer werden.

Glorfindel schwankte, schüttelte seinen Kopf und blinzelte. „Ist dies ein Traum?“, flüsterte er. Seine Finger glitten über Ecthelions Schulter und berührten seinen Hals. Auf natürliche Weise liebevoll und vertrauensvoll. Er lässt seine Tür unverschlossen, dachte Ecthelion. Er denkt, ich bin ein natürlicher Asket. Er stellt mir dumme Fragen über Pflicht und Verlangen.

Zwei Dinge, die nicht mehr übereinstimmten. Ecthelion, wieder zur Vernunft gekommen, sah, wie groß die Kluft zwischen diesen beiden geworden war. Und er hatte es fast nicht wahrgenommen. Er fühlte sich krank, benommen, aber er würde nicht fallen.

„Noch nicht“, sagte er und überließ Glorfindel seinen Träumen.



Mit dem Bedürfnis nach einer Zuflucht strebte Ecthelion seinem Arbeitszimmer im Wachhaus zu. Seine Waffen würden dort sein und sie zu berühren würde ihn weiter auf den Boden zurückholen. Wenn das nicht funktionierte, dann konnte er es mit der Flöte versuchen, die er in seinem Schreibtisch verwahrte. Und dann gab es Hunderte von langweiligen Aufgaben, denen er sich widmen konnte. Er würde keinen weiteren Ärger mit der unvollständigen Liste an der Wand haben, denn was war ein bloßer Name, wenn er gerade dem Ernstfall entkommen war?

Die Nachtschicht, sehr überrascht ihn zu sehen, rappelte sich auf, um stramm zu stehen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Würfel unter einen Becher geschoben wurden und ganz entgegen der Regeln röstete etwas über dem Feuer. Ecthelion ließ im Gegenzug seine Augen über das Gesicht eines jeden Gardisten wandern, während er nach den gerade richtigen, sarkastischen Worten suchte, um seinen Tadel anzubringen, und beobachtete, wie ein Paar Augen nach dem anderen sich gen Boden wand. Es war merkwürdig zu wissen, dass sein Blick noch immer rechtschaffen zu sein schien. Aber schließlich musste Ecthelion glauben, dass der Unterschied zwischen Gedanke und Tat wirklich etwas bedeutete, andererseits hätte er sich selbst schon lange aufgegeben.

Nur einer der Gardisten hielt seinem Blick stand. Ein tapferer Mann also, besonders, wenn man bedachte, dass er einen Bierkrug anstatt eines Helms trug.

„Ähm, Fürst Ecthelion“, sagte er. „Für Euch wurde eine Nachricht hinterlassen. Von König Turgon. Wir wollten sie gerade weiter zu Eurem Haus schicken; Ihr findet sie auf Eurem Schreibtisch.“ Er warf einen hilfreichen, hoffnungsvollen Blick in Richtung der Tür zu Ecthelions Arbeitszimmer. Als es Ecthelion nicht gelang sich zu bewegen, versuchte er stattdessen zu lächeln. „Gratulation, mein Fürst. Der Bote sagte, dass Ihr Fürst Salgant in der Eskorte der Weißen Dame ersetzen werdet.“



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Anmerkungen:

1. Ja, Elben betrinken sich wirklich so, zumindest im Hobbit. Und sie singen grauenhafte Lieder: das Ork-Schlachte-Lied ist eine Neufassung des Bruchtaler Willkommensliedes aus demselben Buch.

2. Egalmoth vom Himmlischen Bogen, Salgant von der Harfe, Duilin und Penlod sind Charaktere aus dem „Fall von Gondolin“. Und ja, Salgant war ziemlich unsympathisch. Er endete seine Tage als Morgoths Hofnarr.

3. Wer wirklich Aredhel aus Gondolin heraus begleitete, das ist nicht sicher. An einem Punkt sagt Tolkien, es waren Egalmoth, Ecthelion und Glorfindel, aber sein Sohn merkt an, dass er das später zurücknahm – vielleicht, weil es schwer ist, sich all diese Balrog-schlachtenden Typen in soviel Ärger verwickelt vorzustellen.
Ich selbst denke mir, solange wie ich ihren Ruf ohnehin zerstöre, kann ich mich auch an die ursprüngliche Vorstellung halten.
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