Arda Fanfiction

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Die Brücke am Bruinen

von Uta

Chapter #1

Es war ein langer Weg gewesen bis hierher. Und hier - das war nirgendwo. Die Frau stand still unter dem Bogen der Steinbrücke, bis zu den Knien im eiskalten Wasser, während draußen der Regen fiel. Doch das Wetter war es nicht, vor dem sie hier Schutz gesucht hatte. Viele Stunden zuvor schon war sie durch den Regen gewandert, dessen dichter Schleier ihr Verbündeter geworden war, ihre Kleidung war durchnässt, und Wasser tropfte aus jeder Strähne ihres Haares.

Unablässig streckte und krümmte sie ihre behandschuhten Finger, um das Blut in Bewegung zu halten. Sie wartete und lauschte, lauschte und beobachtete.

Der Mann, der geschworen hatte, sie und ihren kleinen Sohn zu beschützen, war neben ihr auf seinem zitternden Pferd. Vor zwei Nächten hatte er seinen Schwur mit dem Leben bezahlt. Erneut hatte man sie aufgespürt, ein größerer Trupp diesmal und zu allem entschlossen nach den Fehlschlägen der vergangenen Wochen. Unmöglich, so hatte es ihr zunächst geschienen, sie alle zu besiegen. Und doch ...
Es hatte sie all ihre Kraft gekostet, den Schwerverletzten auf sein Pferd zu heben und ihn im Sattel festzubinden. "Wir werden Imladris gemeinsam erreichen", hatte sie ihm zugeflüstert, und er hatte genickt und kurz ihre Hand gedrückt. Irgendwann später in der Nacht war er dann gestorben, ohne ein Zeichen, ohne Abschied. Kurz darauf hatte der Regen eingesetzt, in feinen Tropfen zunächst, als ob er von weither herbeigerufen worden wäre, dann stärker werdend, bis er all ihre Spuren verwischte und sie selbst und das graue Pferd von der farblos gewordenen Landschaft verschluckt wurden.
Das Pferd stampfte auf. Schnell legte sie ihm die Hand auf die Nüstern, flüsterte beruhigende Worte, wie sein Reiter es getan hatte. Es half nicht viel. Das Tier spürte das kalte, starre Gewicht auf seinem Rücken als etwas Fremdes, nahm wohl auch einen ersten Geruch des Todes wahr, der es in Angst versetzte.

Die Frau senkte den Blick. Sie hatte es nicht fertiggebracht, ihn seitdem zu berühren, nicht einmal, um ihm die Augen zu schließen. Und sie schämte sich ihrer Schwäche.
Sie hatte den Weg verlassen, den er für sie vorgesehen hatte. Einen weiteren Angriff in der Wildnis hätte sie allein nicht überlebt. Und dass neue Angriffe folgen würden, daran bestand für sie kein Zweifel. Ein Gefühl, dem sie keinen Namen geben konnte, hatte sie geheißen, direkt auf den Bruinen zuzuhalten, und sie war seinem Oberlauf gefolgt, mal dicht am Ufer, mal auf schmalen Pfaden durch das Unterholz, nie außer Sichtweite des Flusses. Er hatte sie wachgehalten mit seinem Grollen und Tosen, mit immer neuem Gemurmel an der Grenze des Verstehens. Sein stetig schneller werdender Lauf hatte auch sie zur Eile getrieben. An der ersten Furt, wo vom Wasser ein breites Band aus Lehm angespült worden war, hatte sie das Pferd ins Flussbett geführt, gut sichtbare Hufspuren hinterlassend. Ein Stück weiter flussabwärts war sie auf derselben Seite über Geröll ans Ufer zurückgekehrt. Mit ein wenig Glück würde dies ihre Verfolger eine Weile aufhalten, oder zumindest zu einer Teilung der Gruppe führen. Doch mit wie vielen konnte sie es aufnehmen? Und dann war die Brücke vor ihr aus den Nebeln aufgetaucht, hatte wie selbstverständlich ihren Plan geändert. Nun konnte er gelingen.
Das Kind regte sich. Vorsichtig schlug sie einen Zipfel ihres Umhangs zurück und blickte in ein blasses Gesichtchen unter dunklen, regenfeuchten Locken. Am Nachmittag hatte sie ihrem Sohn ein wenig Wasser eingeflößt, denn nichts anderes stand ihr mehr zur Verfügung, und seitdem schlief er wieder. Sein Atem ging ruhig und regelmäßig. Sie hauchte einen Kuss auf seine Stirn und zog den Umhang enger um sich und das Kind.
Der Regen fiel.

Als die Abenddämmerung, nur zu erahnen durch einen leichten Wechsel im Grau der Welt, einsetzte, hörte sie es. Das Pferd spitzte kurz die Ohren und stand dann völlig still. Das Kind seufzte im Schlaf. Gleichschritt! Sie liefen im Gleichschritt, gierig und unbeirrbar mit einem einzigen Ziel vor Augen, und der nasse Boden ließ jeden ihrer Schritte aufzischen wie einen Peitschenhieb. Ein Lächeln glitt über das Gesicht der Frau. Es war nicht klug, so viel Lärm zu machen an den Ufern des Bruinen.

Jetzt hatten sie die Brücke erreicht. Der Klang ihrer Schritte änderte sich nur einem Moment lang. Dann erschienen die ersten von ihnen an der Wegbiegung auf der anderen Seite, ein kurzes Stück, das sie von hier aus einsehen konnte. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Rund zwei Dutzend Gestalten zählte sie, bevor das Zischen ihrer Stiefel hinter der Biegung verhallte.
Und dann war da ein leises Kratzen von Metall auf Stein. Ein einzelner Kiesel rollte in den Fluss. Jemand kam die Brückenmauer herunter.
Vorsichtig, steifbeinig machte sie einen Schritt zurück in den Schatten. Ihr gesunder Arm glitt unter den Umhang und zog den Dolch hervor, den der Mann ihr gegeben hatte. Kein Quentchen Zauberkraft wohnte ihm inne, kein Elbenschmied hatte ihn gefertigt. Doch dieses Messer hatte andere Vorzüge. Es war ihr einziges Werkzeug gewesen in den vergangenen Wochen, sie hatte Mahlzeiten damit bereitet und Verbände zugeschnitten und tausenderlei Dinge damit getan, bis es ihr ganz und gar vertraut geworden war. Ruhig und sicher lag es in ihrer Hand, als der Verfolger unter dem Brückenbogen auftauchte.
Was sah er - nein, was glaubte er, zu sehen? - Eine Gestalt, tief auf den Hals ihres Pferdes gebeugt, die ihm den Rücken zuwandte und den Weg am anderen Ufer beobachtete.

Er nahm sich Zeit, um in die Mitte des Flusses zu gelangen, wo er freies Schussfeld hatte. Dann hob er seinen Bogen.
Es war kein genauer Wurf. Aber das war auch nicht notwendig. Nicht mit dieser Waffe, nicht auf diese Entfernung. Bis zum Heft bohrte sich der Dolch in seine Beute. Wenn es ein Geräusch gab, ein Keuchen, irgendetwas, so wurde es vom Gurgeln des Wassers übertönt. Einen schrecklichen Augenblick lang geschah gar nichts. Dann prallte der Pfeil mit einem hellen, kleinen Klang an die Brückenmauer, der Bogen fiel ins Wasser, das ihn sofort mit sich davon riss. Der Körper sackte in sich zusammen und wurde von den Wellen erfasst. Mit einem Anflug von Panik beobachtete sie, wie er auf sie zutrieb. Der Griff des Dolches ragte aus seiner Brust. Und es gab nur eine Möglichkeit, wenn sie nicht waffenlos zurückbleiben wollte. Auf unsicheren Beinen, ein Schluchzen erstickend, tastete sie sich an dem Pferd entlang vor. Da - jetzt! Sie packte zu und riss den Dolch mit einem Ruck an sich. Der Körper machte eine langsame Vierteldrehung zu ihren Füßen. Doch die Dunkelheit unter dem Brückenbogen verhüllte die Schrecken, die sein Anblick ihr bereiten mochte. Die nächste Woge kam und zog die Leiche mit sich fort.

Nach einer Weile ließ der Regen nach, allmählich, so wie er begonnen hatte.
Das Grollen des Flusses schwand, die Fluten senkten sich zu einem Plätschern, das ihre Knöchel umspielte. Mit dem Gefühl kehrten auch die Schmerzen in ihre Beine zurück, und sie spürte eine große Müdigkeit. Sie ermahnte sich, weiterzuziehen. Weiter ... doch ihre Füße gehorchten ihr nicht.
Das Pferd neben ihr schnaubte leise. Sie hob den Dolch.
Etwas kam den Fluss herauf. Ein Leuchten lag über den Wassern, glitzerte auf den Blättern der Bäume, strich die Felswände entlang. Sie neigte den Kopf, um besser sehen zu können. Draußen war die Wolkendecke aufgerissen, und Mondlicht ergoss sich ins Tal des Bruinen. Mondlicht! Doch da war noch etwas anderes. Und es kam auf sie zu mit dem unwahrscheinlichsten aller Geräusche, dem silberhellen Klang kleiner Glöckchen. Oben an der Wegbiegung erschien ein Reiter.

Er lenkte seinen Schimmel die Böschung herunter in die Mitte des Flusses. Das Mondlicht glänzte auf seinem Haar und auf dem reich geschmückten Stirnriemen des Pferdes. Mit klarer Stimme rief er ihren Namen. Sie ließ den Dolch sinken, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Im nächsten Moment war der Elb aus dem Sattel gesprungen und kam auf sie zu.
"Der Weg vor Euch ist jetzt frei", sagte er ruhig, "Und es sind Elbenkrieger unterwegs auf allen Straßen von hier bis zu den Ered Mithrin."
Er trat an das graue Pferd heran. Erkennen und Schmerz waren in seinem Blick, aber keine Überraschung. Er nahm die Hand des Toten in die seinen und drückte sie kurz.

"Wir werden Imladris gemeinsam erreichen. Nur diese Worte sprach er zu mir, vor zwei Nächten im Traum. Lange wusste ich nicht, wo ich nach Euch suchen sollte, denn Ihr wart allen Blicken verborgen."
"Es tut mir leid", war alles, was sie zu sagen fand.
"Und diese Brücke." Mit den Fingerspitzen fuhr er an den bemoosten Steinquadern entlang. "Sie ist mir völlig unbekannt, obwohl sie schon viele Jahre hier zu stehen scheint. Seltsam."
"Der Bruinen ist ein seltsamer Fluss", erwiderte sie leise. Einen Moment lang lehnte sie die Stirn gegen den kühlen Stein. "Und wir haben all unsere Hoffnung in ihn gesetzt."
Mit diesen Worten schlug sie den Umhang zurück. Das Kind war wach und blickte mit großen Augen vom einen zum anderen.
"Nehmt Ihr ihn von hier an. Ich habe Angst, zu stolpern."
"Das werdet Ihr nicht."

Er hob das Kind auf seinen Arm, und das Lächeln kehrte in seine Augen zurück.
Mit der freien Hand führte er sie zu dem wartenden Pferd, langsam, und half ihr in den Sattel. Das graue Pferd folgte allein.
Mit sicherem Tritt und einem kraftvollen Sprung erklomm der Schimmel die Uferböschung. Das Kind gluckste, als es die Glöckchen an seinem Zaumzeug läuten hörte, und der Elb strich ihm sachte über den Kopf, Worte in seiner eigenen Sprache flüsternd.
Die Frau sah den beiden zu.

An der Wegbiegung hielt sie an und wendete das Pferd, die Hand zum Gruß erhoben. Dort, wo eben noch die Brücke den Fluss überspannt hatte, ragten jetzt drei mächtige Felsen aus dem Wasser empor, schwarz vom Regen und silbern schimmernd im Licht des Mondes.
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