Arda Fanfiction

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Das Haus mit den Zedernschindeln: Eine flackernde Kerze

von Cúthalion

Chapter #1

Sie wusste es im selben Moment, als sie das bleiche, verstörte Gesicht des Boten sah, der auf die Lichtung stolperte, schlitternd vor ihr zum Stehen kam und hilflos nach Worten suchte, die nicht kommen wollten. Erst vor ein paar Minuten noch hatte sie frischen Salbei und Ringelblumen gepflückt und ihre Tochter gehütet, die auf einer großen Wolldecke im Schatten der Bäume schlummerte. Jetzt kam der Schock herab wie ein scharfes Schwert und schnitt den Tag in zwei Hälften aus Licht und Dunkelheit.

„Ein paar Männer haben im Wald hinter der Residenz Bäume abgehauen, und sie waren gerade dabei, eine morsche Eiche zu fällen... sie haben keine Ahnung, wie das geschehen konnte... ”

Damrod. Oh nein. Oh guter Eru, nein.

“… aber der Baum fiel in die falsche Richtung, als Euer Mann vorüber ritt. Sein Pferd scheute und warf ihn ab, und er hatte keine Möglichkeit mehr, auszuweichen.“

Sie spürte die Brise wie die langsame Liebkosung einer warmen Hand auf ihrem Gesicht. Ihre Füße machten einen Schritt auf den Boten zu, und plötzlich erhob sich der scharf-süße Geruch nach zertretenen Pfefferminzblättern wie eine Wolke. Jemand sprach, und mit einer Art dumpfer Überraschung erkannte sie ihre eigene, ruhige Stimme.

„Ist er tot?“

„N… nein. Aber er ist jetzt beinahe seit einer Stunde ohnmächtig. Die Männer haben ihn auf ihrem Karren in die Residenz gebracht.”

Am Leben. Sie hatte ihn noch nicht verloren.

Sie drehte sich um und bückte sich, um Lírulins warmen Körper aufzuheben; das Baby kuschelte sich in schläfriger Zufriedenheit an ihre Schulter. Erst vor einer halben Stunde hatte sie sie gestillt… genügend Zeit, um Faramirs Palast zu erreichen und sich eine Vorstellung von Damrods Zustand zu verschaffen, ehe sie wieder Hunger bekam. Es war nur ein kurzer Weg von etwa zwei Meilen, aber trotzdem bebten ihre Hände in einer hilflosen Mischung aus Furcht und Ungeduld.

Der Bote schenkte ihr ein Lächeln, das sie beruhigen sollte.

„Sorgt Euch nicht, Frau Noerwen,” sagte er. „Ich habe mein Pferd mitgebracht, und es wird leicht mehr als einen Reiter tragen… und Eure Tochter noch dazu.“

Sie folgte ihm mit raschen Schritten und sie hatten bald eine kleine, sonnige Lichtung erreicht, wo eine braune Stute friedlich an dem kurzen, weichen Gras knabberte. Der Bote nahm ihr Lírulin ab; sie stieg aufs Pferd, wartete, bis er ihr das Baby zurückgegeben hatte und spürte, wie er sich hinter ihr in den Sattel schwang. Sie ritten durch ein Schattenspiel aus Grün und Gold, und Lírulin regte sich, seufzte und schlief wieder ein, die Wange an der Brust der Heilerin. Die Stute fiel in einen raschen Trab, und bald konnte sie den Palast von Emyn Arnen sehen, der sich vor ihnen erhob.

Lass ihn nicht sterben. Bitte.

*****

Als sie die Eingangshalle betrat, wartete die Fürstin von Ithilien bereits auf sie, eine schlanke Gestalt und so gerade wie ein Speer. Noerwen verneigte sich vor ihr.

“Danke für Euren Boten,” sagte sie, “er hat mich sehr schnell her gebracht. Wo ist mein Mann?“

“In einem Zimmer oben,” sagte die Fürstin. „Erion kümmert sich um ihn, aber ich habe bereits nach Minas Tirith um Hilfe geschickt; er könnte kaum einen Eingriff durchführen, wenn es nötig wird.“

Erion war der Heiler des fürstlichen Haushaltes; ein ruhiger, gut geschulter Mann mit einem weit reichenden Wissen über alte Heilmethoden und die Wirkung von Kräutern. Noerwen fand seinen Rat immer sehr hilfreich, aber sie musste sich Éowyns Meinung anschließen – er würde sicher nicht imstande sein, mehr zu tun, als über Heilmittel nachzudenken, die man verabreichen konnte, ohne ein Skalpell zu benutzen.

„Würdet Ihr…?”

“Natürlich.” Die Prinzessin nahm eine kleine Silberglocke vom Tisch neben sich und läutete sie. Eine kleine Tür am anderen Ende der Halle öffnete sich und eine junge Frau erschien.

„Das ist Alassiel – ich glaube, ihr kennt einander.”

„Das tun wir tatsächlich,” erwiderte die junge Frau mit einem Lächeln. „Frau Noerwen war freundlich genug, meinen linken Arm zu heilen, als ich ihn mir im letzten Jahr gebrochen habe.“ Sie wandte sich an Noerwen und verneigte sich leicht. „Vielleicht möchtet Ihr Eure Tochter bei mir lassen, Herrin… ich bringe sie sofort, wenn sie gefüttert werden muss. Aber wir könnten auch eine der Dienerinnen bitten, sie zu stillen; drei von ihnen haben in den letzten paar Monaten Kinder bekommen und wären mehr als bereit, zu helfen.“

Noerwen blickte auf das schlafende Baby hinunter.

Ich weiß noch nicht,” sagte sie endlich. „Ich nehme an, es hängt davon ab, wie… wie beschäftigt ich in den nächsten Tagen sein werde.“ Sie senkte den Kopf, küsste Lírulin auf die Wange und atmete den süßen Duft der Kinderhaut tief ein.

„Oh… dann solltet Ihr Euch noch keine Entscheidung aufbürden,” sagte Éowyn. „Ich bringe Euch jetzt zum Zimmer Eures Mannes.“

Alassiel streckte die Hände aus und nahm das kleine Mädchen aus den Armen ihrer Mutter entgegen. Noerwen sah ihr zu, wie sie den Raum verließ, während sie das Kind wiegte und leise vor sich hinsummte, dann wandte sie sich mit einem Seufzer ab und folgte der Fürstin nach oben.

Das Krankenzimmer war geräumig und kühl. Lange Vorhänge schlossen die Mittagssonne aus, und das große Bett war von weißen Laken bedeckt. Erion, der Heiler, stand über den Mann gebeugt, der dort lag, ohne sich zu rühren.

„Erion,” sagte die Fürstin sanft, “Frau Noerwen ist hier.”

Er drehte sich um und zeigte ein schmales Gesicht mit heller Haut. Nase und Gesicht waren mit Sommersprossen übersät. Ein seltsames, zufälliges Zusammentreffen aus Abstammung und Vererbung sorgte dafür, dass der Abkömmling einer langen Reihe gondoreanischer Heiler so aussah, als wäre er auf den Ebenen von Rohan aufgewachsen; flachsblondes Haar fiel über seine Schultern herab wie die Mähne eines Falben, zu einem langen, dicken Zopf gebändigt, der seinen Rücken hinunter hing.

„Eure Hoheit,” Er verneigte sich. „Noerwen.“

Noerwen trat neben das Bett und schaute auf ihren Ehemann hinunter. Man hatte ihm seine Kleider abgestreift, und sie sah Schrammen und eingetrocknetes Blut auf seiner bloßen Brust. Tief zornrote Linien waren zu erkennen, wo der Brustkorb sich unter der blassen Haut wölbte; Damrods Gesicht war wachsbleich, seine Augen geschlossen.

„Hat er das Bewusstsein wiedererlangt, seit er hier ist?” fragte sie mit trügerisch ruhiger Stimme.

“Ja… für ein paar Minuten, als wir ihm das Hemd und das Wams abgestreift haben,” sagte Erion, den Blick unverwandt auf Noerwens Hände gerichtet; sie folgten den Schrammen und zeichneten sachte die regelmäßigen, verfärbten Linien über den Rippen nach. „Er hatte große Schmerzen; wir haben ihm Mohnsirup gegeben, und seitdem ist er nicht mehr zu sich gekommen.“

„Wie lange ist er schon ohnmächtig?”

„Etwa eine halbe Stunde.” Erion räusperte sich. „Sein Kopf scheint überhaupt nicht verletzt zu sein, wenn es das ist, was Ihr befürchtet. Ich habe seinen Schädel untersucht und konnte keine Beule finden, keine Risse in der Haut und keinerlei nachgiebige Stellen.“

„Gute Neuigkeiten,” erwiderte Noerwen und ihr Körper verlor ein klein wenig von seiner Spannung. „Aber mehr als eine seiner Rippen sind gebrochen, und sie haben vielleicht die Lunge durchbohrt.“

Ihre Augen begegneten sich, und Noerwen sah, dass der Blick des Heilers nervös flackerte; es war nur für einen Sekundenbruchteil zu sehen und wurde sofort wieder verborgen. Sie biss sich auf die Lippen.

„Ihr habt auch seine Brust untersucht, oder nicht?“

„Selbstverständlich.” Wieder dieses nervöse Flackern. „Aber das Ergebnis war… ähm… undeutlich.”

Noerwen seufzte. „Dann gibt es wohl nur einen Weg für mich, klarzusehen, denke ich.“

Sie zog einen Stuhl neben das Bett, setzte sich und legte einen Finger der linken Hand auf die Brust ihres Mannes, Die Fürstin und Erion beobachteten, wie sie mit dem Zeigefinger der Rechten dagegen klopfte; sie beugte sich so weit wie möglich vor und lauschte mit gerunzelter Stirn. Sie wiederholte die Prozedur unablässig und ließ ihren Finger von den Rippen bis zum Hals über Damrods Haut wandern. Endlich schaute sie auf und warf Erion einen scharfen Blick zu.

„Da ist freie Flüssigkeit, wo es keine geben sollte,” stellte sie grimmig fest, “und zwar an mehreren Stellen. Es sind nicht nur drei Rippen gebrochen, sondern auch seine Lungen sind betroffen. Offensichtlich blutet er innerlich.“ Sie starrte in Erions Gesicht mit den niedergeschlagenen Augen. „Was habt Ihr Euch dabei gedacht? Habt Ihr ehrlich versucht, mir die Tatsachen zu ersparen? Ich bin keine ängstliche Jungfer, um Himmels Willen, und das hier ist mein Mann… ich sollte wissen, was genau ihm fehlt, oder ich kann ihm nicht helfen!“

„Der Heiler aus Minas Tirith wird ganz sicher morgen während des Vormittags eintreffen,” warf Éowyn ein, die Stimme fest und beruhigend. „Der Bote, den ich ausgesandt habe, hat das schnellste Pferd in unseren Ställen genommen.“

„Es tut mir wirklich Leid, Noerwen,” murmelte Erion; seine helle Haut rötete sich in tiefer Verlegenheit. „Ich… ich hätte es besser wissen sollen.“

„Das hättet Ihr wirklich,” stellte Noerwen fest, die ihren Ton jetzt ein wenig mäßigte. „Und ich hätte Euch nicht anfahren sollen, mein Freund. Würdet Ihr so freundlich sein und zu meinem Haus gehen, um meine Tasche zu holen?“

Erion schenkte ihr ein breites, strahlendes Lächeln.

„Schon gut,” sagte er. “Das tue ich gern.”

Er verließ das Zimmer, und die Spannung sickerte aus Noerwens Körper. Sie senkte den Kopf, von plötzlicher Erschöpfung überwältigt. Als sie den Blick wieder hob, wandte sie sich an die Fürstin, ihre Hand noch immer auf Damrods Brust.

„Ich muss um Verzeihung bitten, Euer Gnaden,” sagte sie mit müder Stimme. „Das war ein recht unziemliches Benehmen.“

“Sehr unziemlich,” erwiderte die Fürstin, ein Zwinkern in den blauen Augen. „Und wenn Ihr weiterhin darauf besteht, meine Titel zu benutzen, dann werde ich Rache nehmen und Euch von nun an als ,Heilerin von Ithilien’ anreden. Mein Name ist Éowyn.“

Die Heilerin von Ithilien gab ein schwächliches Kichern von sich.

„Und nun,” verkündete die Fürstin, „werde ich in die Küche gehen und die Köche anweisen, ein gutes Mahl für Euch zuzubereiten.“ Sie lächelte, dann streifte sie die stille Gestalt auf dem Bett mit einem besorgten Blick. „Ihr werdet alle Kraft brauchen, die ihr bekommen könnt.“

*****

Es war weit nach Mitternacht; das Licht von zwei Kerzenleuchtern erfüllte den stillen Raum mit einem warmen, goldenen Licht. Noerwen saß neben dem Bett, ein Umschlagtuch um die Schultern. Sie hatte gerade Lírulin gestillt und sie in dem Raum zu Bett gebracht, der bereits Prinz Elborons Wiege beherbergt hatte. Jetzt fühlte sie Damrods Stirn. Sie war heiß und trocken; er murmelte etwas Unverständliches und drehte den Kopf auf dem Kissen hin und her.

“Mein Liebster, hörst du mich?” flüsterte sie. „Ich bin es, Noerwen. Ich bin da.“

Er bekam Fieber. Natürlich tat er das. Er hatte durchbohrte Lungen, gebrochene Rippen und Blut in der Brusthöhle. Es hätte ein Wunder erfordert, dass zu verhindern, was jetzt mit im geschah.

Zum ersten Mal in fast zehn Jahren verspürte sie das brennende Bedürfnis nach den medizinischen Möglichkeiten, die sie hinter sich gelassen hatte, als sie zum zweiten – und hoffentlich letzten Mal – in die Welt des Pengolodh gebracht worden war. Medizinische Möglichkeiten, für die die Sprache, die sie immer mit solch unfassbarer Leichtigkeit gesprochen hatte, nicht einmal Worte besaß, und Fähigkeiten, die sie einfach nicht ihr Eigen nannte.

In all der Zeit seit ihrer Rückkehr waren ihnen schlimmere Verletzungen erspart geblieben; nur ein gebrochenes Bein vor einem Jahr, ein paar harmlose Fleischwunden, mehr oder weniger leicht zu heilen, und Damrods Schulter, die die Tendenz hatte, sich in unerwarteten Augenblicken auszukugeln. Es war zu einer Art Familienscherz geworden, denn ihre Liebe hatte begonnen, als sie ihm diese Schulter 1419 während der Belagerung von Minas Tirith eingerenkt hatte.

Sie hatten unglaubliches Glück gehabt. Und jetzt mussten sie offenbar den Preis dafür bezahlen.

Die Tür öffnete sich und Éowyn erschien auf der Türschwelle, zwei Bedienstete auf den Fersen. Sie trugen eine niedrige Pritsche, ein Kissen und einen Stapel Decken, brachten alles herein und stellten es dicht neben dem Bett auf.

„Ich dachte, ich verschaffe Euch die Gelegenheit, Euch hinzulegen, wenn Ihr das Bedürfnis danach habt,” sagte die Fürstin. „Möchtet Ihr vielleicht etwas zu essen? Oder ein Glas Wein?“

„Keinen Wein,” entgegnete Noerwen. „Ich muss einen klaren Kopf behalten. Vielleicht etwas Wasser… oder Tee?“

„Also dann Tee,“ Éowyn streckte die Hand aus und berührte sie an der Schulter. „Wie geht es ihm?“

„Er bekommt Fieber,“ sagte Noerwen mit einem kleinen Seufzer. „Und ich fürchte, es wird steigen, bis jemand die Flüssigkeit in seiner Brust entfernen kann. Ich bin sicher, dass es eine Entzündung gibt, und seine Lungen könnten zusammenfallen… das ist, was ich im Augenblick am meisten fürchte.“

Die Fürstin runzelte die Stirn. „Zusammenfallen?“

„Die Lungen sind wie zwei mit Luft gefüllt Blasebälge,“ antwortete Noerwen. „Wenn einer davon durchbohrt wird, dann sinkt er wie ein Zelt in sich zusammen, aus dem man die Stangen entfernt hat. Die andere Lunge – der zweite Blasebalg – kann für eine Weile den Dienst übernehmen, aber das ist eine gefährliche und anstrengende Sache. Und wenn die zweite Lunge auch noch zusammenfällt…“

„Ich verstehe,“ Éowyn nickte langsam. „Ich muss sagen, Ihr habt ganz gewiss die Fähigkeit, Dinge auf einfache Weise zu erklären.“

„Sehr schmeichelhaft, ich danke Euch.“ Noerwen verneigte sich leicht. “Im Augenblick würde ich aber eher die Fähigkeiten eines geschulten Feldschern* vorziehen. Kräuter sind hier keine große Hilfe.“

„Gibt es irgendetwas, das Ihr tun könnt – abgesehen davon, ihm Tränke einzuflößen, ihm das Atmen zu erleichtern und das Fieber mit kalten Umschlägen zu senken?“

„Ich könnte ihm mit einem kleinen Schnitt die Brust öffnen und eine Röhre hineinstecken, um die Flüssigkeit abfließen zu lassen… aber ich habe nur einmal dabei zugesehen, vor langer Zeit, und ich habe es noch nie selbst gemacht.“

Éowyn blinzelte.

"Oh.“ Sie schwieg eine ganze Weile. „Und ich nehme an, Ihr wärt nicht allzu glücklich, wenn Ihr gezwungen wärt, es dieses Mal zu tun – und in diesem besonderen Fall.“

„Ganz genau,“ sagte Noerwen, die spürte, wie ihr ein kalter Schauder den Rücken hinunterlief. „Aber ich werde es tun, wenn der Heiler nicht rechtzeitig eintrifft.“

„Dann lasst uns hoffen, dass er morgen früh hier ist – und das sollte er,“ sagte Éowyn mit spürbarer Inbrunst. „Bis dahin ist Euer Gatte in den besten Händen, die er finden könnte.“ Sie lächelte der Frau neben dem Bett zu. „Versucht zu schlafen, Noerwen. Wir müssen noch eine Nacht überstehen.“

Sie verließ das Zimmer und schloss die Tür leise hinter sich. Ein paar Minuten später erschien eine der Dienerinnen; sie trug ein Tablett mit einem Becher dampfendem Tee und zwei Scheiben großzügig gebuttertes Brot. Sie wünschte ihr eine gute Nacht, knickste und ging wieder hinaus.

oerwen nahm einen Bissen Brot und nippte dankbar an dem süßen Tee. Sie legte sich auf die Pritsche, zog eine der Decken über sich und ließ ihren Kopf in die üppige Weichheit des Kissens zurücksinken. Dann folgte sie einer plötzlichen Eingebung und suchte auf dem Laken nach Damrods Hand. Sie fühlte sich heiß und schlaff an, als sie ihre Finger darum schloss.

Ich erinnere mich an eine Nacht, in der wir genauso dalagen, Seite an Seite… nur dass ich verwundet war, und dass du gekommen warst, um über mich zu wachen. Ich werde immer in meine Herzen bewahren, was du gesagt hast: „Fürchtet Euch nicht – jeder, der Euch verletzen will, muss erst an mir vorbei.“

Ich liebe dich, Damrod von Ithilien, mein Mann, mein Herz. Ich liebe dich so sehr.

Verlass mich nicht.

*****

Sie erwachte früh am Morgen von etwas, das sie nicht sofort einordnen konnte… ein leises Rattern, das nicht von draußen kam. Sie öffnete die Augen und drehte den Kopf, und dann sah sie, dass Damrod so heftig zitterte, dass der gesamte Bettrahmen davon erbebte.

Sie sprang buchstäblich von der Pritsche hinunter, beugte sich über ihn und berührte seine Stirn. Sie war brennend heiß. Sie konnte sehen, dass sich seine Augäpfel unter den geschlossenen Lidern rasch bewegten, und dann rang er mühsam und zischend nach Luft und fing an zu husten. Sie ließ einen Arm um seinen Rücken gleiten und zog ihn hoch, bis er halb aufgerichtet auf dem Bett saß. Hitze strahlte von seinem Fleisch aus wie von einem Herdfeuer im Winter, und sie biss sich auf die Lippen und rang darum, die kläglichen Überreste ihrer Fassung zu bewahren. Sie brauchte kaltes Wasser oder Eisbeutel, sie brauchte… süßer Eru, sie brauchte den Heiler aus Minas Tirith, und zwar sofort.

Die Tür öffnete sich. Eine der jüngeren Dienerinnen stand auf der Türschwelle, ein zierliches Mädchen mit einer Wolke aus krausem, dunklen Haar und Augen von der Farbe nasser Glockenblumen.

„Frau Noerwen,“ begann sie. „habt Ihr…“

Beim Anblick der Frau, die die keuchende, schlaffe Gestalt eines Mannes in den Armen hielt, der offenbar seine letzten Atemzüge tat, wurden die Glockenblumenaugen groß und rund vor Schreck.

„Wasser,“ schnappte Noerwen,“ hol mir zwei Eimer Wasser von Brunnen aus dem Rosengarten der Weißen Herrin. Und wenn in den Kellern noch irgendwelches Flusseis übrig ist, dann bring es auch her – jetzt.“

Die Dienerin öffnete den Mund und schloss ihn wieder, dann drehte sie sich um und verschwand. Noerwen konnte das Klappern ihrer Holzschuhe den ganzen Weg den langen Korridor hinunter hören.

„N… noerwen? Geliebte?“

Seine Stimme, heiser und dünn. Er schaute sie an, den Blick von Erschöpfung, Fieber und Schmerzen getrübt, aber er war offenbar klar genug, um zu wissen, wer sie war.

„Schsch, mein Herz,“ Sie sprach dicht an seinem Ohr und spürte seinen raschen, flachen Atem an ihrer Wange. „Du hattest einen bösen Unfall, Liebster. Kannst du dich noch an irgendetwas erinnern?“

„Da… da war ein Baum…“ Seine Zähne schlugen aufeinander. „Und Morgenstern hat gescheut… sie… ich weiß nicht…“

„Schon gut. Ein Heiler aus Minas Tirith ist schon auf dem Weg hierher. Und wir sorgen gut für dich.“ Sie sprach mit ruhiger Sicherheit und brachte jeglichen Zweifel in ihrem Herzen zum Schweigen, solange es ihr einziges Ziel war, ihn zu beruhigen. Endlich spürte sie, wie er sich in ihrem Armen entspannte.

„Lírulin…?”

Nun war das Lächeln in ihrer Stimme keine Schauspielerei.

„Sie schläft in Elborons früherem Kinderzimmer, und nicht weniger als drei Dienerinnen wetteifern darin, wer sie füttern und herumtragen darf.“

„Gut. Das ist… gut.“ Er hustete wieder und zuckte heftig zusammen. “… tut weh.”

“Ich weiß,” flüsterte sie. “Ich weiß.”

“Wie schlimm…?” Ein angestrengtes Krächzen: seine Stimme und sein Bewusstsein ließen jetzt rasch nach.

„Drei Rippen sind gebrochen und deine Lungen sind verletzt,“ sagte sie sanft, aber wir werden dir helfen, mein Liebster, versprochen.“ Seine Augenlider flatterten und schlossen sich. „Ich verspreche es dir.“

Die Tür öffnete sich erneut; die Dienerin war zurückgekommen, gefolgt von einer Wache mit zwei vollen Wassereimern… und der voll bekleideten Weißen Herrin.

„Ich bin Elwen begegnet, als ich auf dem Weg zu den Ställen war,“ sagte Éowyn, eine tiefe, senkrechte Falte zwischen den Augenbrauen. „Bei meinem Anblick löste sie sich in Tränen auf und sagte mir, der Waldläufer im Obergeschoss läge im Sterben.“

„Nun, das tut er keineswegs,“ entgegnete Noerwen; Elwen machte einen unwillkürlichen Schritt rückwärts und betupfte ihre verweinten Augen mit dem Schürzenzipfel. „Aber sein Fieber ist jetzt sehr hoch, und ich fürchte, dass eine Lunge bereits zusammengefallen ist; wenn sie das noch nicht getan hat, wird sie es wahrscheinlich sehr bald tun. Ich wünschte, der Heiler wäre hier, Euer G… Éowyn.“

„Noch heute morgen, hoffentlich,“ sagte Éowyn. „Ich habe die Angelegenheit sehr dringend gemacht.“

„Ich danke Euch.“

„Einer der Diener bringt das zerstoßene Eis aus dem Keller herauf,“ fuhr die Fürstin fort, „und der Heiler wird in diesem Raum geführt werden, sobald er eingetroffen ist.“

„Ich danke Euch. --- Éowyn?“

Noerwen lächelte schwach.

„Wenn er eintrifft, solltet Ihr ihm erst ein Frühstück geben. Er sollte nicht versuchen, meinen Mann aufzuschneiden, ohne dass er etwas im Magen hat.“

*****

Damrod lag in Laken gewickelt, sein Körper war mit halb zerschlagenen Eisbrocken bedeckt, um das Fieber zu bekämpfen. Elwen – die sich inzwischen beruhigt und ihre Augen getrocknet hatte – kam und brachte ein Tablett mit Tee, frischem Brot und Früchten aus dem Obstgarten. Noerwen zwang sich, den Tee zu trinken, einen Apfel und eine Scheibe Butterbrot zu essen, bevor sie zu ihrer unbeirrten Wache zurückkehrte; sie prüfte Damrods Temperatur und lauschte auf seinen mühseligen Atem.

Eine Stunde später waren außerhalb des Zimmers Schritte zu hören, die leichten Schritte von jemandem, der auf weichen Ledersohlen ging. Sie hob den Kopf und wartete unruhig auf die Ankunft des nächsten Besuchers… hoffentlich der eine, der zu helfen imstande war, wo sie es nicht vermochte.

Aber es war nicht der Heiler. Die Gestalt eines Mannes erschien wie ein Scherenschnitt im hellen Gegenlicht; dann trat er vorwärts und Noerwen sah ein schönes Gesicht mit scharfen, grauen Augen, langes, goldenes Haar, zu Zöpfen geflochten und hinter spitz zulaufende Ohren zurückgebunden, und einen vertrauten, schön geformten Mund, der ihr zulächelte. Sie sprang auf die Füße, versuchte instinktiv, ihr Haar und ihre Röcke glatt zu streichen und verneigte sich tief.

„Mein Herr Legolas!“

„Meine liebe Noerwen, ich bin froh, Euch wiederzusehen,“ sagte er, nahm ihre Hand und beugte sich in unverstellter Zuneigung darüber. Sein Blick wandte sich dem Bett zu und seine strahlenden Augen füllten sich mit Schatten. „Aber ich muss gestehen, dass ich die Umstände bedaure. – Wie geht es ihm?“

„Wir versuchen, das Fieber hinunter zu bringen, aber er ist auf eine Weise verwundet, die mich an meine Grenzen bringt. Ich warte verzweifelt auf einen Heiler aus Minas Tirith.“

„Ich hatte gehofft, Herrn Faramir hier vorzufinden, aber er ist noch nicht vom Feldzug heimgekehrt,“ sagte der Elb; er trat zum Bett hinüber und berührte die Stirn des Mannes, der dort unter einer dicken Schicht aus Eis lag. Noerwen sah, dass sein Gesichtsausdruck wechselte wie die Wolken an einem windigen Frühlingshimmel; nach einer Weile zog er seine Finger zurück und schaute sie an, ein schwaches Lächeln auf den Lippen.

„Ihr mögt Eure Grenzen erreicht haben,“ sagte er, „aber sein Féa – sein Geist – kämpft mit aller Macht gegen die Finsternis, und er ist weit davon entfernt, aufzugeben. Das Band zwischen ihm und Euch ist so stark, als wäre es aus Stahl gewoben.“

„Danke, dass Ihr mir Hoffnung macht,“ erwiderte Noerwen. „Ich muss zugeben, dass ich mich fürchte.“

Uralte Augen in einem knabenhaft jungen Gesicht betrachteten sie.

„Ihr wäret dumm, wenn Ihr das nicht tun würdet,“ sagte Legolas. „Aber gebt Acht, dass diese Furcht Euch nicht überwältigt und davon abhält, zu tun, was getan werden muss.“

„Wenn der Heiler rechtzeitig eintrifft, werde ich hoffentlich überhaupt nichts tun müssen,“ sagte Noerwen, eine Spur Schärfe in der müden Stimme.

Als ob ihre letzten Worte eine Art Stichwort gewesen wären, öffnete sich wieder die Tür. Zum zweiten Mal an diesem Morgen war es Éowyn, aber niemand folgte ihr. Ein Blick auf die Fürstin sorgte dafür, dass Noerwen nach dem Lehne ihres Stuhles tastete und sich hinsetzte, ehe die Knie unter ihr nachgaben.

„Der Heiler…?“

„Kommt vermutlich irgendwann,“ sagte Éowyn, ihr Tonfall angespannt und trocken. „Aber er wird sich mit Sicherheit verspäten. Der König, sein Truchsess und das Heer sind vom Feldzug in Harad zurückgekehrt, und sie haben ihre Verwundeten vorausgeschickt… viele Verwundete, und die Südlingskrieger haben vergiftete Dolche und Pfeile benutzt. Die Pfleger in den Häusern der Heilung mühen sich damit ab, geheimnisvoll schwärende Wunden zu heilen, und sie können nicht so leicht jemanden entbehren.“

Noerwen schloss die Augen und spürte die leichte Berührung einer Hand auf der Schulter.

„Faramir und Estel,“ kam Legolas’ Stimme, ein seltsam beruhigender Klang durch das Dröhnen in ihren Ohren, „sind sie auch verwundet?“

„Nein,“ entgegnete die Fürstin, „nein, das sind sie nicht. Aber sie werden nicht vor übermorgen in Minas Tirith sein… falls Ihr die Absicht hattet, auf die Hände des Königs zu vertrauen.“

Noerwen rieb sich die Stirn.

„Scheinbar sind die einzigen Hände, auf die ich vertrauen kann, meine eigenen,“ murmelte sie mit einer Grimasse und kehrte zum Bett zurück. Als sie sich über ihren Mann beugte, begann er wieder zu husten; seine Augen flogen für einen Moment auf und er gab ein tiefes, schmerzerfülltes Stöhnen von sich. Noerwen stieß hastig die Eisbrocken beiseite und zog das Laken zurück; sie legte die Handfläche auf seine Brust und verfolgte das seltsam unregelmäßige Heben und Senken des Brustkorbes mit gespannter Konzentration.

Endlich blickte sie auf.

„Eine Lunge ist zusammengefallen, wie ich es erwartet hatte,“ sagte sie, ihre Stimme dünn und scharf. „Wenn ich nicht schnell etwas tue, dann wird Damrods Herz in Mitleidenschaft gezogen, und er wird ganz sicher sterben, bevor irgendein Heiler aus Minas Tirith jemals die Gelegenheit hat, ihn zu untersuchen.“

„Und wisst Ihr, wie er gerettet werden kann?“ fragte Legolas; sein Blick war noch immer ruhig und aufmerksam.

„Ihr begreift das nicht!“ Es war ein Ausbruch der Verzweiflung. “Wie ich der Fürstin gestern Abend schon gesagt habe, ich habe den nötigen Eingriff nur ein einziges Mal in meinem Leben mit angesehen – ohne daran teilzunehmen – und ich habe ihn nie selbst vorgenommen. Und mehr noch, ich würde gewisse Gegenstände brauchen, die einfach nicht verfügbar sind in dieser… die es hier einfach nicht gibt.“

Sie biss sich auf die Lippen; die Hände in ihrem Schoß zitterten.

„Was genau ist es denn, das Ihr braucht?“ Das war Éowyn.

Eine lange Pause, während Noerwen fieberhaft die Lage bedachte; sie versuchte, die Fassung zu bewahren und nach Lösungen zu suchen, während ein Teil von ihr danach verlangte, sich über den reglosen Körper ihres Mannes zu werfen und in offener, ungehemmter Panik zu klagen.

„Eine Röhre aus Metall, die Spitze geschärft, wenn möglich,“ sagte sie endlich. „mit einer Art Schlauch verbunden, der biegsam genug ist, dass man ihn in eine Flasche mit Wasser stecken kann.“ Plötzlich erstarrte sie, einen eigenartigen Ausdruck auf dem bleichen Gesicht. „Was, wenn ich… süßer Eru, wir könnten vermutlich…“ Sie wandte sich an die Weiße Herrin, die Augen funkelnd von neu entfachter Hoffnung. „Erinnert Ihr Euch an den Kirschwein, den ich letztes Jahr angesetzt habe?“ fragte sie. „Der Glasbläser hat für mich einen Ballon gemacht, in dem der Saft gären konnte, und der Schmied machte eine Röhre, um den überflüssigen Schaum abzusaugen. Er hat auch einen Schlauch aus eng verzwirbeltem Draht zustande gebracht, durch den ich den Schaum und die blubbernde Hefe abfließen lassen konnte… Himmel und Erde, das ist genau, was wir brauchen!“

Die Prinzessin – die nicht wirklich imstande war, dem Weg zu folgen, den die Gedanken der Heilerin nahmen – beschloss, die einzige Frage zu stellen, die ihr jetzt wichtig erschien.

„Wo wären die Röhre und der Schlauch denn zu finden?“

„In meinem Kräuterschuppen,“ sagte Noerwen und sprang auf die Füße. „Aber es wird kaum etwas nützen, wenn wir jemanden ausschicken, um sie zu holen… ich sollte besser selbst gehen.“

Legolas trat vor. “Ich bin sicher, die Weiße Herrin kann Meister Erion rufen, um über unseren armen Freund zu wachen, während ich Euch zu Euren Haus und wieder zurückbringe, Noerwen,“ sagte er mit einem zuversichtlichen Lächeln. „Ihr werdet feststellen, dass mein guter Arod selbst mit einer Frau und einem Elben auf seinem Rücken noch immer laufen kann wie der Wind.“

*****

Es dauerte weniger als eine Stunde, bis Noerwen und der Elbenprinz zurückkamen; Erion wartete neben dem Bett und betrachtete die Gegenstände, die sie mitgebracht hatten, mit scharfem Interesse.

Zu Noerwens Glück stellte der Schmied von Emyn Arnen nicht nur einfaches Werkzeug für den täglichen Gebrauch her, wie Sensen oder Hufeisen; er hatte auch die komplizierten Schutzgitter aus Gusseisen für die Palastfenster geschaffen, und das riesige Tor, das das Wappen von Rohan und den Weißen Baum zeigte. Er war aufgeschlossen genug, etwas Neues auszuprobieren, wenn er die Gelegenheit dazu hatte, und er war den Anweisungen der Heilerin so sorgsam gefolgt wie nur möglich.

Erion drehte die Röhre und den Schlauch zwischen den Händen.

„Ich habe noch immer nur eine ungenaue Vorstellung davon, wie Ihr diese Dinge einzusetzen gedenkt,“ gestand er. „Wie sollen sie helfen können?“

„Ich werden einen Schnitt machen, um seine Brusthöhle zu öffnen. Dann stecke ich die Röhre hinein, um die freie Flüssigkeit darin abfließen zu lassen… Blut, nehme ich an, und Eiter, wenn wir zu lange warten und die Sache noch schlimmer wird als ich vermute. Dass sollte seiner Lunge helfen, sich wieder zu entfalten, und es wird uns Zeit verschaffen.“ Noerwen seufzte und zog unbewusst mit dem Zeigefinger eine waagerechte Linie über Damrods bleiche Haut. „Jetzt ist er noch kräftig, aber noch ein paar Tage mehr und er könnte den Kampf verlieren.“ Ihre Hand lag still, die Finger über der Stelle gespreizt, wo sein Herz schlug.

„Seid Ihr sicher?“ Legolas sah sie an, und ihre Blicke begegneten sich. Für einen langen Augenblick war der Raum sehr still: wenn es zwischen ihnen irgendeine Unterhaltung gab, dann wurde sie geführt, ohne ein Wort zu sagen.

„Nein, das bin ich nicht – wie Ihr sehr wohl wisst,“ sagte Noerwen endlich. „Aber ich fürchte mich zu sehr, um zu zögern.“

„Besser in die Schlacht ziehen als in der Falle zu sitzen und auf den Feind zu warten.“ Legolas lächelte grimmig; sein Blick war abwesend und bodenlos, wie ein uralter, tiefer Brunnen. Noerwen fragte sich, wie viele Schlachten er wohl vor seinem inneren Auge sah, zurückreichend durch die Jahre in ein Zeitalter, als die Elben noch weit mehr waren als die ehrfurchtgebietende, bittersüße Erinnerung an lang verlorene Macht und Glanz. Das plötzliche Bewusstsein, wie alt er wirklich war, ließ sie schwindeln. Aber dann grinste er, und der unsterbliche Krieger verwandelte sich in einen spitzbübischen Jungen.

„Gimli würde von Herzen zustimmen,“ sagte er. „Er hält große Stücke auf Euch, und er nennt Euch ,diesen furchtlosen Feuerkopf’, wenn Ihr Euch erinnert.“

„Bloß weil ich ihn angeschrieen und ihn einen sturen, tauben Maulesel von einem Zwerg genannt habe, als er sich geweigert hat, mich sein Bein ansehen zu lassen, weil er dachte, ich könnte ihn nicht richtig versorgen.“

Legolas lachte.

„Euer Gatte hatte einen gebrochenen Arm und Ihr wart kurz davor, ein Kind zur Welt zu bringen; er dachte einfach, Ihr wärt ohnehin schon beschäftigt genug.“ **

„Ich vermisse ihn,“ sagte Noerwen, und es war die Wahrheit. Die solide Gegenwart von Gimli Glóinssohn wäre in diesem Augenblick mehr als aufmunternd gewesen.

„Ich könnte hierbleiben, während Ihr diese Dinge benutzt,“ bot Legolas an und zeigte auf die Röhre und den Schlauch auf dem kleinen Tisch neben dem Bett. „Ich bin kein Heiler, aber ich könnte über seinen Pulsschlag und die Kraft seines Geistes wachen, wenn Ihr das wünscht.“

„Das wäre äußerst hilfreich,“ sagte Noerwen, „Aber wir werden die Röhre, den Schlauch und mein Messer zuerst auskochen müssen und danach unsere Hände waschen, erst mit Seife und dann mit Branntwein. Und Ihr, Erion, solltet ebenfalls hier sein, denn ich könnte jemanden brauchen, der das Blut abtupft – und was sonst noch austritt, sobald ich den Schnitt gemacht habe.“

Diener brachten kochendes Wasser, eine Flasche Branntwein und noch eine weitere Flasche mit einem bauchigen, dicken Boden. Noerwen füllte sie mit Wasser aus einem der Eimer.

„Die Röhre wird helfen, die Flüssigkeit abzuziehen,“ erklärte Noerwen. Sie fuhr sich mit beiden Händen durch die langen, kupferroten Locken. „Was mich darauf bringt, dass ich mir die Haare zurückbinden sollte, damit sie aus dem Weg sind… und dass ich für die Zukunft eine zweite Röhre und einen zweiten Schlauch bestelle.“

Während die Instrumente auskochten, brachte Noerwen Damrod behutsam genügend zu Bewusstsein, dass sie ihm eine gewisse Menge Mohnsirup einflößen konnte.

„Er muss völlig stilliegen,“ sagte sie, and Legolas gewandt „Das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann, ist, dass sich mein Mann während unseres kleinen Noteingriffs aufsetzt und sich die Röhre aus der Brust reißt, während ich noch immer versuche, Blut oder Luft abzusaugen.“

Endlich waren Röhre, Schlauch und Messer sauber und lagen auf einem Tablett, das mit einem reinen Tuch bedeckt war. Es war Erion, der Noerwens Haar zu einem langen Zopf flocht, bevor er sich die Hände mit Wasser, Seife und Alkohol wusch; geduldig wartete er darauf, dass Noerwen und Legolas dasselbe taten. Außerhalb des Zimmers hielten zwei Bedienstete Wache, bereit, frisches, kochendes Wasser zu holen, falls es nötig wurde.

„Nun…“ sagte Noerwen langsam und blickte auf das Messer hinunter. „Ich nehme an, ich habe keine Ausreden, nicht anzufangen, oder nicht?“

„Die einzige Entschuldigung wäre, dass dies hier völlig falsch ist und ihm nur noch mehr Schaden zufügt, anstatt sein Leben zu retten,“ erwiderte Legolas, die klaren Augen unverwandt auf ihr Gesicht gerichtet. „Werdet Ihr auf den Entsatz warten – oder werdet Ihr kämpfen?“

„Ich werde kämpfen,“ sagte Noerwen nach einem kurzen Schweigen. “Das muss ich.”

Sie schob das Ende des Schlauches durch den Flaschenhals hinunter, bis er im Wasser hing. Dann nahm sie das Messer und senkte es, bis es Damrods Haut berührte. Für einen Moment schloss sie die Augen; ihr Geist war völlig leer.

Was um Himmels Willen tat sie hier eigentlich?

Plötzlich erklang eine tiefe Stimme in ihrem Kopf; sie benutzte Worte in einer Sprache, die sie seit mehr als neun Jahren nicht mehr gehört hatte. Die Stimme war deutlich und klar. Ich werde Ihnen zeigen, was Sie tun müssen, Sabrina. Stellen Sie sich eine Linie von Achselhöhle zu Achselhöhle vor, Mädel… an den Brustwarzen entlang. Und wenn Sie schneiden, tun Sie es immer oberhalb der Rippen, nie darunter, oder Sie werden mehr Schaden anrichten, als Sie es sich in Ihren wildesten Träumen ausmalen können. Sie erinnerte sich nicht mehr an den Namen des Chirurgen aus ihrem zweiten Studienjahr, aber für eine flüchtige Sekunde sah sie sein Gesicht vor ihrem inneren Auge – scharfe, blaue Augen, ein dunkler Haarschopf und ein sauber gestutzter Bart, seine Erklärungen so präzise wie das Skalpell in seiner Hand.

Jetzt.

Sie spürte, wie die Klinge durch die Haut glitt. Es gab ein eigenartiges, pfeifendes Geräusch und die ersten Blutstropfen quollen heraus, nicht hellrot, sondern dunkel und dickflüssig; sie erfüllten die Luft mit einem schweren Eisenaroma und dem schalen Geruch nach Krankheit.

„Festhalten, Erion. Er darf sich nicht bewegen.“

Diese ruhige, kühle Stimme musste wohl ihre eigene sein, dachte Noerwen mit einer Art schwacher Verblüffung. Sie zog das Messer zurück und schob einen Finger in die kleine Öffnung. Eru, hilf mir, ihm nicht noch mehr weh zu tun… und dann erschien die Röhre in ihrem Blickfeld, gehalten von den langen, schlanken Händen des Elben. Sie segnete Legolas’ Geistesgegenwart, nahm den Finger heraus und schob die Röhre so sachte wie möglich in die Wunde hinein. Dann lehnte sie sich zurück und wandte den Blick wieder der Flasche zu. Das Wasser verfärbte sich langsam zu einem bräunlichen Rot.

„Schaut Euch das an!“ sagte sie. „Gesegnete Herrin der Sterne, es klappt tatsächlich!“

Wieder beugte sie sich über Damrod und betrachtete prüfend sein Gesicht. Vielleicht war es nicht viel mehr als ihre hoffnungsvolle Einbildung, aber er schien leichter zu atmen.

„Wir müssen die Wunde offen halten, damit die Röhre ihre Arbeit tun kann,“ sagte sie und küsste ihn auf die Stirn. „Jetzt können wir nur noch warten und hoffen, dass es genug war, um ihn zu stabilisieren, bis der Heiler hier ist.“

„Bemerkenswert,“ sagte Erion, der die Röhre und den Schlauch mit einer Mischung aus Verwirrung und Staunen betrachtete. „Äußerst bemerkenswert.“

„Nur, wenn er sich keine Lungenentzündung zuzieht, weil wir es nicht geschafft haben, alles völlig sauber zu halten,“ murmelte Noerwen, die nervös ihre Finger knetete. „Wir dürfen ihn nicht allein lassen, wenigstens nicht in den nächsten vierundzwanzig Stunden. Und wenn da noch mehr Flüssigkeit ist, dann müssen wir die Wasserflasche auswechseln, und…“ Sie stand von ihrem Stuhl auf; Legolas sah, dass sie schwankte, während ihr das Blut aus dem Gesicht wich.

„Noerwen,“ Seine Stimme war sanft, aber fest, „Ich würde Euch jetzt gern in Elborons Kinderzimmer bringen: Ihr solltet Euch eine Weile in einen schönen, gepolsterten Sessel setzen, Lírulin auf den Arm nehmen und dann ausruhen. Wir rufen Euch, sobald sich irgendetwas ändert, und wir wecken Euch sofort, wenn der Heiler eintrifft.“

Noerwen öffnete den Mund, um zu protestieren, aber was immer sie auch sagen wollte, es wurde von einem gewaltigen Gähnen erstickt. Sie warf der stillen Gestalt auf dem Bett einen letzten, zögernden Blick zu, dann ging sie langsam zur Tür, und der Elb folgte ihr.

Sie gingen Seite an Seite zum Kinderzimmer, ein freundlicher, heller Raum im Ostflügel der Residenz, und Legolas überließ die erschöpfte Heilerin von Ithilien den fähigen Händen von Alassiel und einer anderen Dienerin. Als er eine halbe Stunde später wiederkam und leise die Tür öffnete, um hinein zu spähen, war das Zimmer leer… bis auf Noerwen, die in einem großen, bequemen Schaukelstuhl saß, das Baby an ihre Brust gedrückt. Mutter und Tochter schliefen beide tief und fest.

*****

Für den Rest des Tages wechselten sich Legolas und Erion damit ab, über Damrod zu wachen. Sein Atem wurde eindeutig leichter, aber noch immer hielt ihn das Fieber die meiste Zeit in tiefer Bewusstlosigkeit. In den seltenen Momenten, in denen er halbwegs zu sich kam, gaben sie ihm dünne Kräutertoniken und Brühe zu trinken, und als das letzte Wintereis geschmolzen war, machten sie Umschläge mit kaltem Wasser aus dem Brunnen. Noerwen kam am Spätnachmittag zurück, sichtlich erholt nach ein paar Stunden ungestörter Ruhe, und am Abend fand der Heiler aus Minas Tirith endlich den Weg nach Emyn Arnen.

Es handelte sich um einen hageren, älteren Mann mit einer Glatze, dessen buschige Augenbrauen einen beeindruckenden Ausgleich für seinen sonstigen Haarmangel boten; sie stiegen hoch in seine Stirn hinauf, während er die Röhre, den Schlauch und die Flasche untersuchte, in der Erion gerade das Wasser gewechselt hatte.

„Merkwürdige Idee,“ sagte er mit einer verblüffend schrillen Stimme, „sehr merkwürdige Idee, gute Frau, und ich nehme an, wir müssen dankbar sein, dass Ihr es nicht fertig gebracht habt, Eurem eigenen Mann den Garaus zu machen.“

Erion öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber ein schneller Blick der Fürstin sorgte dafür, dass er ihn wieder zumachte.

„Was hättet Ihr getan, Meister Heiler?“ fragte Noerwen, ihre Stimme voll trügerischer Demut.

„Ich hätte sicherlich länger damit gewartet, solch… erh… drastische Maßnahmen wie diese zu ergreifen“, dozierte der Heiler, einen Zeigefinger belehrend erhoben. „Seine Brusthöhle zu öffnen war ein großes Wagnis, vor allem, wenn Ihr das noch nie zuvor getan habt. Ihr hättet seine Leber durchbohren können.“

„Nun, das habe ich nicht,“ erwiderte Noerwen; ihre Lippen bildeten eine dünne Linie. „Und nachdem eine seiner Lungen in sich zusammenfiel, hatte ich nur die Wahl, drastische Maßnahmen zu ergreifen… oder ihn sterben zu lassen.“

Der Heiler beugte sich über Damrod und untersuchte ihn gründlich. Sie hielt sich dicht neben dem Bett und verfolgte jede seiner Bewegungen. Trotz seiner Arroganz war jeder seiner Handgriffe sanft und geschickt, und was immer auch über sie denken mochte, er wusste eindeutig, was er tat. Aber es konnte ihm nicht entgehen, dass die Brusthöhle frei war, dass beide Lungen mehr oder weniger so arbeiteten, wie sie sollten, und dass der Mann, den zu retten man ihn ausgesandt hatte, bereits gerettet worden war, und nicht durch seine Hand. Endlich wandte er sich zu Noerwen und betrachtete sie mit einem gewissen Missvergnügen von Kopf bis Fuß.

„Ich muss zugeben, das ist kein schlechtes Ergebnis für jemanden, der dies noch nie zuvor getan hat,“ stellte er säuerlich fest; offenbar betrachtete er Noerwens Erfolg als persönliche Beleidigung. „Trotzdem – wo kämen wir hin, wenn jeder beliebige Laie sich anmaßen würde, die schwierige Kunst der Heilung in die eigenen Hände zu nehmen?“ Er schnaufte hochmütig. „Jemanden mit dem Messer zu kurieren ist nicht dasselbe wie Euer Kräuterwissen zu barer Münze zu machen.“

Es war der letzte Satz, der die Waagschale kippte und Noerwens hart geprüfter Beherrschung nach zwei schrecklichen Tagen abrupt ein Ende machte.

„Ich vermute, Ihr wisst überhaupt nichts über mich,“ sagte sie, ihre Stimme, die üblicherweise warm und dunkel klang, war gefährlich leise und kalt. „Ich will Euch das Wissen und die Erfahrung zugestehen, die Euch hergebracht hat, aber Ihr habt Euch gefährlich verspätet, und ich habe während des Ringkrieges genügend Leid und Tod gesehen, um nicht mit den Händen im Schoß dazusitzen und auf eine Hilfe zu warten, die nicht kam, als ich sie am meisten brauchte. Ich habe den Flug der Nazgûl gesehen und den Fall des Großen Tores in Minas Tirith. Ich habe für die Verwundeten gesorgt, die unter dem Schwarzen Atem dahinsiechten und die Hand eines Kriegers aus Rohan gehalten, der mich ,Mutter’ nannte, während er starb. Was habt Ihr getan? Ich kannte die meisten der Männer und Frauen, die damals in den Häusern der Heilung ihren Dienst taten, und an Euer Gesicht erinnere ich mich nicht!“

Der Heiler erbleichte sichtlich. Keiner von ihnen bemerkte Legolas, der lautlos ins Zimmer geschlüpft war und mit den Schatten in einer Ecke hinter dem Bett verschmolz.

„Mein alter Freund Mardil wäre verblüfft, zu hören, wie Ihr über die Wichtigkeit der Kräuterlehre denkt,“ fuhr Noerwen fort; ihre grünen Augen schossen Blitze. „Das Meiste, was ich über den Gebrauch von Kräutern weiß, habe ich von ihm gelernt, und ich werde nie imstande sein, ihm genug dafür zu danken.“

„Ihr… Ihr kennt Mardil?“ quäkte der Heiler und erblasste noch mehr. Der alte Kräutermeister hatte sich drei Jahre zuvor in den Ruhestand zurückgezogen. Er hatte einem jüngeren Nachfolger Platz gemacht und genoss ein spätes, unerwartetes Eheglück mit der bemerkenswerten und streitbaren Ioreth, aber noch immer war er eine legendäre Gestalt in Minas Tirith.

„Ja, das tue ich. Ich hatte die Ehre, ihm während der Belagerung und danach behilflich zu sein,“ sagte Noerwen, die Stimme noch immer kalt. „Steigert das meinen Wert in Euren Augen, Meister Heiler? Ich habe gelernt, dass es die Tat ist, die zählt, nicht die Namen und der Ruhm derer, die man zu seinen Freunden rechnet.“ Sie wandte sich Éowyn zu. „Würdet Ihr mich entschuldigen, Euer Gnaden? Ich… ich brauche etwas frische Luft.“

Sie verließ mit raschen Schritten das Zimmer und hastete den Korridor und die Treppen hinunter, die in die Eingangshalle führten. Tief goldenes Licht strömte durch die farbigen Fenster hinein und ein Wasserfall aus Regenbögen ergoss sich auf den polierten Marmorboden. Aber Noerwen achtete nicht darauf; sie strebte blind in Richtung Tür und passierte die Wachen, ohne sie zu grüßen. Ein paar Minuten später hatte sie den Kräutergarten erreicht, ging an den Beeten entlang und wischte sich zornig die Augen. Lavendel, Frauenmantel, Salbei und Fingerhut… der reiche, süße Duft von Goldraute und Thymian… Sie holte tief Atem und beruhigte sich langsam, seltsam getröstet von der üppigen Fülle an Düften, die sie so gut kannte und so sehr liebte.

„Noerwen?”

Sie sah, dass Legolas aus der Richtung des Haupteinganges kam.

„Ich weiß, ich hätte still sein sollen,“ sagte sie, noch bevor der Elbenprinz auch nur den Mund aufmachen konnte. „Ich hätte diesen aufgeblasenen Esel nicht beleidigen dürfen, und ich werde nie das höfische Benehmen lernen, das ich brauche, um solch eine Situation zu überstehen, ohne die Beherrschung zu verlieren. Ist… ist die Fürstin sehr wütend?“

„Ja, das ist sie,“ sagte Legolas, und sie spürte, wie ihr das Herz in die Stiefel sank. „Das ist sie wirklich… aber auf diesen – wie habt Ihr ihn genannt? – diesen ,aufgeblasenen Esel’, nicht auf Euch. Als ich ging, hielt sie ihm gerade einen Vortrag, die beinahe so eindrucksvoll war wie der Eure.“ Er grinste. „Als er herausfand, dass er es sich gleichzeitig mit der Heilerin von Ithilien und der Frau verdorben hat, die den Hexenkönig erschlug, da verfärbte er sich regelrecht grün.“

Noerwen spürte, wie ein zögerndes Lächeln ihre Mundwinkel hob. „Er mag ja ein aufgeblasener Esel sein,“ sagte sie, „aber ein guter Heiler ist er trotzdem, ob ich ihn nun mag oder nicht. Ich hätte… geduldiger sein sollen.“

Sie ging ein paar Schritte und blieb vor einem blühenden Rosmarinbeet stehen, den Kopf in den Nacken gelegt. Legolas beobachtete sie schweigend; er konnte die kalten Wellen eines verspäteten Schocks spüren, die von ihr ausgingen. Plötzlich drehte sie sich um; ihre Augen waren so dunkel, dass sie fast schwarz aussahen.

„Ich hätte beinahe Damrod verloren,“ sagte sie. „Ich hätte ihn beinahe verloren, Legolas.“

„Er ist am Leben,“ erinnerte er sie. „Ihr habt ihn gerettet.“

„Ja. Und trotzdem…“

„Erinnert Ihr Euch an den Tag, als wir uns das erste Mal begegnet sind?“ fragte er. „Wir kamen von diesem Scharmützel in der Nähe des Morgultales zurück, Euer Mann hatte einen gebrochenen Arm und Gimli ein gebrochenes Bein.“

Noerwens Lippen zuckten. „Ja, ich erinnere mich. Ich schrie Gimli an, der nicht wollte, dass ich ihm das Bein schiene, ich schalt Damrod, der Angst hatte, ich könnte unser Baby auf der Stelle aus meinem Bauch fallen lassen, und Euch habe ich übersehen.“

Legolas lachte leise.

“Und als Gegenleistung,” fuhr sie fort, “habt Ihr mein unmögliches Benehmen übersehen – wie seither stets – Ihr habt meine Hand genommen und mir dann den merkwürdigsten Blick zugeworfen, den ich je gesehen habe.”

Seine grauen Augen richteten sich auf sie, und wieder sah sie die unauslotbare Zahl an Jahren hinter dem schönen, jugendlichen Gesicht.

„Ich kann den Geist sterblicher Menschen sehen, als wäre es eine flackernde Kerze,“ sagte er, „wie er in einem flüchtigen Aufflammen kommt und wieder schwindet. Ich dachte, ich wäre an diese besondere Fremdartigkeit gewöhnt, an diesen Hauch von Vergänglichkeit und die Mischung aus Freude und Schmerz, die mein Herz erfüllt, wenn ich einem Menschen begegne, der mir teuer werden könnte… aber ich nehme an, das werde ich wohl nie.“

„Ich wusstet nicht, dass wir Freunde werden würden.“ Sie sah ihn an und erinnerte sich an ein Gespräch, das sie nicht lange nach ihrer ersten Begegnung miteinander geführt hatten. „Aber Ihr habt gewusst, dass ich nicht aus dieser Welt stamme.“

„Ja,“ Er lächelte. „Ich sah dieselbe Flamme, aber sie hatte eine andere Farbe.“

“Tatsächlich? Ihr müsst überrascht gewesen sein.” sagte Noerwen gedankenvoll.

“Die menschliche Rasse hat es nie versäumt, mich zu überraschen.” Legolas seufzte. „Und es gibt noch immer etwas, wofür ich Euch um Vergebung bitten muss.“

“Was mag das sein?” Sie runzelte die Stirn. “So lange ich Euch kenne, Herr, habt Ihr mir nichts anderes als Freundlichkeit erwiesen.”

„Oh… dann sind wir also zu ,Herr’ zurückgekehrt?“ Legolas grinste und ließ sich mit der leichten Anmut einer großen Katze auf dem Rasen neben dem Rosmarinbeet nieder. „Setzt Euch her zu mir. Und ich ziehe meinen Namen vor, Noerwen von Ithilien, ebenso wie Éowyn.“

„Ich weiß. Ich habe sie schon wieder ,Euer Gnaden’ genannt… aber ich war außer mir.“ Sie rieb sich die Stirn. „Was ist es, wofür Ihr glaubt, Euch entschuldigen zu müssen?“

Er sah sie an.

“Erinnert Ihr Euch, was ich gesagt habe, als ich herausfand, woher Ihr kommt?”

Ein langer Augenblick des Schweigens.

„Ja,“ erwiderte sie endlich,“ und ziemlich genau. Ihr habt gesagt: ,Welche Laune der Valar hat Euch hergebracht?’“

„Was vermessen war,“ Er nahm ihre Hand und küsste sie mit einer Art feierlicher Ehrerbietung. „Und ziemlich unverschämt.“

„Euch ist vergeben,“ Sie lächelte müde. “Ich dachte mehr als zwei Jahre lang, dass der Versuch, auf eine Erfüllung meiner Liebe zu Damrod von Ithilien zu zählen beides wäre, vermessen und unverschämt. Und doch durfte ich zurückkommen.“

„Genau das hat Euer Mann zu mir gesagt, an dem Abend, nachdem Ihr mir Eure Geschichte erzählt habt,“ sagte Legolas und folgte den raschen Kreisen von zwei Mauerseglern über dem Dach des Palastes mit den Augen. „Ich war vernünftig genug, meine törichte Bemerkung nicht vor seinen Ohren zu wiederholen; dieses Mal entschied ich mich, lieber zuzuhören als zu schnell das Wort zu ergreifen. Und er erzählte mir von Euch… von den zwei Jahren, die er damit verbracht hatte, darauf zu hoffen und zu warten, dass Ihr eines Tages vielleicht nach Hause kämt. Dass Ihr wirklich gekommen seid, war das Wunder seines Lebens. Er nannte Euch sein ,erhörtes Gebet’.“

„Und er ist das meine,“ flüsterte sie und biss sich auf die Lippen. „Ihr habt nicht zufällig ein Taschentuch übrig?“

„Nein, das habe ich nicht,“ sagte der Elb; er sprang auf die Füße und streckte die Hand aus, um ihr aufzuhelfen. „Und wir sollten jetzt besser in den Palast zurückkehren; der Heiler hat sein Werk mittlerweile sicherlich beendet.“

„Ihr meint, er hat Fersengeld gegeben,“ gab Noerwen zurück und warf ihm einen ironischen Blick zu. „Aber Ihr habt Recht; ich nehme an, ich habe den armen Mann für einen Abend genügend in Verlegenheit gebracht.“

Sie gingen in kameradschaftlichem Schweigen zum Haupteingang zurück; als sie das Krankenzimmer im Obergeschoss erreichten, war der Heiler nirgendwo zu sehen und ein Tablett mit Abendessen wartete auf dem Tisch. Der Raum füllte sich mit den köstlichen Düften nach gebratenem Hühnchen, Gemüse und gewürztem Wein.

Noerwen trat neben das Tablett, füllte ein Glas für Legolas und ein zweites für sich selbst.

„Liebste…?“

Sie fuhr herum; mit einer blitzschnellen Geste brachte Legolas beide Gläser in Sicherheit, bevor sie auf dem Boden zerschellen konnten. Sie sank neben dem Bett auf die Knie und stellte fest, dass ihr Mann sie unter schweren Lidern anblickte, ein Lächeln in den Augen.

„Hallo, mein Herz,“ krächzte er. „Du hast mir gefehlt.“ Er hob eine zitternde Hand und berührte ihr Gesicht; seine Finger waren viel kühler als noch vor einer Stunde. „Warum weinst du?“

„Ich lache,“ murmelte Noerwen und verbarg ihr tränenüberströmtes Gesicht an seinem Hals.

„Eru sei Dank, ich hatte schon angefangen, mir Sorgen zu machen,“ sagte Damrod. „Oh… und wo wir gerade dabei sind, könntest du mir bitte erklären, wieso eine Röhre aus meiner Brust ragt…?“

Legolas gluckste in sich hinein, verließ das Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich.

ENDE


*ein Feldscher ist ein Lazarettarzt, der in früheren Zeiten bei Schlachten zum Einsatz kam. **Nein, diese Geschichte ist noch nicht geschrieben. Sie wird unter dem Titel Der Aufstieg der Lerche demnächst erzählt; in ihr erfahren wir, wie Noerwen Legolas und Gimli zur Zeit von Lírulins Geburt zum ersten Mal kennen lernte.
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