Arda Fanfiction

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Kind des traurigen Wassers

von illyria-pffyffin

Kapitel #2

*****

Er war gekommen, um uns zu sagen, dass das Land rings um die See unter uns aufgeteilt werden sollte, um unser Auskommen zu sichern. Wir begegneten seinem Dekret mit einer Mischung aus Freude und Angst, denn wir hatten so lange mit den Gesetzen der Speichellecker des Auges gelebt, und durch sie. Jeden Morgen wurden wir in die Felder und Obstgärten getrieben, oder uns wurden unterschiedliche Pflichten befohlen: Bäume in dem kärglichen Waldstück zu fällen, Schuppen und Pferche zu bauen, Korn zu dreschen und die Mühle anzutreiben. Wir waren bloße Muskeln und niemals das Hirn. Einige der älteren, schwächeren Sklaven... Aber nein, wir waren nicht länger Leibeigene, oder nicht? Und doch flüsterten die Älteren und Schwachen unter uns aus Furcht vor einer anderen Art der Unterjochung, die durch andere, freie Menschen, die jungen, die starken, die mit raschem Verstand.

Aber Elessar sagte – und dann erfuhren wir, dass er König war, Herrscher von Gondor und dem nördlichen Königreich von Arnor – dass Männer, denen er diese Aufgabe zutrauen konnte, bleiben würden, um zu helfen, um uns bei der Verteilung des Landes anzuleiten und dabei, ein gewisses Recht und Ordnung herzustellen. Hilfe würde kommen, sagte er, sobald sichere Wege durch die Berge gebahnt werden konnten, um die Reise zu erleichtern. Es würde Handwerker und Baumeister geben, Lehrer und Ratgeber.

„Doch ich traue darauf,“ sagte er zu uns in jener Nacht, und in seinem Augen spiegelte sich das Licht der Fackeln und Kochfeuer, „dass ihr mehr als imstande und dazu begabt seid, euch selbst zu heilen, zu wachsen und zu herrschen und zu gedeihen. Ihr habt ungeahntes Leid überstanden, ihr habt selbst dann noch überlebt, als man euch das Recht auf ein eigenes Selbst, eine Wahl und die Freiheit verweigert hat. Ihr habt vielleicht keine Macht, aber Durchhaltevermögen, selbst in der Abwesenheit von Hoffnung. Und ich habe gesehen, was das bewirken kann.“

In jener Nacht machten wir ein großes Feuer am Strand und saßen im Kreis, während die neuen Männer und davon erzählten, wie die Welt, wie wir sie kannten, ein Ende fand und neu geboren wurden. Wir hörten zu und flüsterten miteinander, obwohl es nur noch wenig zu sagen gab. Ein Mann stand auf, ging zu seiner Hütte und fing an, die steife Tierhaut auseinander zu zerren, aus der das Dach gemacht war, die grob gewebte Schilfwand, die mottenzerfressene Ledertür. Während seine Frau und seine Kinder ihm schweigend zusahen, trug er alles zum Feuer und warf es in die hochschießende Flamme. Das Feuer ließ wieder ein wenig nach und brannte langsam nieder, diese gesamte, stille Nacht hindurch, in der nicht viele von uns schliefen; es knisterte und zischte, während die Hütte, die der Mann während all der Jahre erbaut hatte - seine Zuflucht, sein Stolz, sein Heim - zu Asche zerfiel.

*****

„Herr,“ flüsterte ich zaghaft und furchtsam. „Herr...“

Elessar wandte sich um. Seine Männer warfen mir wachsame Blicke zu, aber sie regten sich nicht von der Stelle weg, wo sie saßen.

„Ja, Mann, was willst du?“

„Herr, kennt Ihr Hauptmann Thorongil? Hauptmann Thorongil von Gondor?“

Elessar lächelte.

*****

Meine Mutter war wütend, als ich ihr von meinem Plan erzählte.

„Endlich bekommen wir ein eigenes Land,“ sagte sie und warf einen Stoß Pfähle unnötig hart in ihren Schulterkorb. „Unseren Anteil an Ziegen, vielleicht sogar ein Maultier. Wir könnten endlich ein anständiges Haus haben. Aber wer wird mir helfen, das Land zu bestellen, sich um das Vieh kümmern, unser Heim schaffen? Wer?“

Eine Schaufel knallte geräuschvoll in den Korb. Ein dumpfer Aufprall, als eine schwere Seilrolle folgte. „Was denkst du eigentlich, was du jenseits der Berge tun willst?“ Sie band sich ihren Hut heftig unter dem Kinn zusammen. „Du siehst doch diese Männer, oder nicht? Wie willst du mit ihnen wetteifern? Wozu bist du schon gut, ein dummer Ziegenhirte, ein Sklave...“

„Das bin ich nicht mehr, Mutter.“

„Was?“

„Ich bin kein Sklave mehr. Und du auch nicht. Ich bin frei, mir auszusuchen, was immer ich tun möchte.“

„Frei zu sein, heißt nicht, dumm zu sein. Wozu ist die Freiheit gut, wenn du verhungerst oder erfrierst?“ Meine Mutter lud den kleinen Beutel mit Brot und Trockenfisch für das Mittagessen in den Schulterkorb, wuchtete ihn hoch und ließ mich vor der Hütte stehen.

„Aber wenn frei sein nicht das selbe ist, wie dumm zu sein, dann heißt das, ich kann lernen, Mutter, ich bin schlau genug, zu lernen, wie man ein besserer, freier Mann wird!“ schrie ich hinter ihr her.

Meine Mutter starrte mich über die Schulter hinweg böse an. „Dann mach doch, was du willst!“ knurrte sie, bevor sie davonstampfte, meine verängstigt dreinschauende Schwester im Kielwasser.

Ich verbrachte diesen Tag damit, meinem Bruder die Feinheiten des Ziegenhütens beizubringen. Die Männer aus dem Westen würden nur noch eine Nacht bleiben, ehe sie zu einem anderen Teil der See aufbrachen und dann weiter nach Süden reisten, zur Grenze von Harad. Eine kleine Gruppe würde allerdings mit Elessar nach Minas Tirith zurückkehren, und mit ihnen würden die unter den Freigewordenen gehen, die den Westen des Anduin besuchen oder dort hinziehen wollten. Wir kamen bedrückt und still nach Hause. Meine Mutter sprach kein Wort mit mir.

Ich packte ein kleines Bündel aus meiner Decke, einer Ersatz-Tunika und dem Wanderstab und stellte es neben mich, als ich mich in dieser Nacht schlafen legte, so dicht an der Tür wie möglich, damit ich niemanden weckte, wenn ich morgens davon schlüpfte. Ich träumte von meinem Großvater in dieser Nacht; er flüsterte von turmhohen Schiffen.

Die Sterne standen noch immer blass über dem westlichen Horizont, als ich mich aus der Hütte stahl und mich Elessars Männern anschloss, die bereits mit den Reisevorbereitungen angefangen hatten. Die Leute von der See, die mit ihnen reisten, waren angewiesen worden, in der Mitte zu laufen, umgeben von einem Ring aus Reitern und Speerträgern zu Fuß. Man sagte uns, wir sollten so viel Wasser mitnehmen, wie wir tragen konnten.

Und so fand ich heraus – als ich mein Bündel öffnete, um einen Extra-Schlauch Wasser hinein zu tun – dass meine Mutter mir einen Brotkanten eingepackt hatte, drei hart gekochte Eier, einen kleinen Beutel Nüsse und den Dolch meines Vaters in seiner Lederscheide. In der Menge, die uns an jenem Morgen verabschiedete, sah ich sie allerdings nicht.

*****

Während wir die Trostlosigkeit von Mordor durchquerten, dämmerte es mir, dass ich mir nie in meinen gesamten achtzehn Jahren vorgestellt hatte, dass es so riesig war. Es kam mir lachhaft vor, dass ich Angst davor gehabt hatte, nachts im Freien zu sein, weil ich fürchtete, in dem ausgedehnten Irrgarten des Landes rings um die See verloren zu gehen. In meinem Geist schrumpften diese Orte immer mehr, während ich sie weiter und weiter hinter mir zurück ließ.

Tage vergingen, und doch schien kein Ende in Sicht zu sein für das Elend, das wir mit ansahen. Das Land war eine fortgesetzte Wunde, von Spalten zerrissen, von Trümmerbergen verkrustet, und noch immer blutete es Rauch. Gruben gähnten vor uns, in der Erde, in den Berghängen, zerfetzt, verheert, schwelend. Männer hatten diese Orklager gestürmt, sagte man uns, um die Mauern nieder zu reißen und sie in Brand zu setzen. Feuer reinigt, sagten sie.

Der Gestank nach Tod und Verwesung hing dick in der Luft. Das erste Mal, als wir auf einen hohen Berg aus Leichen stießen – Orkleichen, von einem stacheligen Zaun aus Speeren abgeschirmt – da heulten manche von uns und rannten davon, andere standen da wie erstarrt, wieder andere übergaben sich, während ein paar wenige sich auf den brennenden Berg stürzten, um auf jeden verkohlten Körperteil einzustechen, zu treten und zu spucken, den sie erreichen konnten. Aber dann kamen wir an einem anderen Berg wie diesem vorüber, an noch einem und noch einem. Am Ende beobachtete sie niemand von uns mehr, obwohl nachts einige davon alpträumten. Es war die Provinz der Geister.

An manchen Tagen regnete es, und wir versuchten, das Wasser in jedem Gefäß aufzufangen, das wir besaßen. Wir standen in Dauerguss und ließen das Nass das klebrige Gefühl von Schmutz und Schrecken abwaschen. Der Borden würde kalt und feucht sein, wenn wir uns am Ende des Tages müde hinlegten, aber in der Morgendämmerung war er wieder trocken. Sogar noch während wir nordwärts marschierten, sah ich bleiche, grüne Flecken auf der Erde... ein zarter Schössling hier, ein Grashalm dort. Die Regentage waren die besten Tage auf unserer Reise. Flammen mochten reinigen... aber das Wasser, es schenkte neues Leben.

*****

Mehr Bäume. Mehr Bäume als ich in meinem ganzen Leben je gesehen hatte. Die Wipfel streiften den Himmel, man konnte die Stämme kaum mit den Armen umfassen. Der Boden darunter war weich und federnd und feucht. Trockene Blätter tanzten, während sie auf dem Wind dahin trieben. Mit diesen Bäumen, dachte ich, konnte man ein mächtiges Boot bauen. Ein Schiff. Ein turmhohes Schiff.

Eine Frau kam zu mir und fragte, warum ich weinte. Ich konnte ihr nicht sagen, dass es deswegen geschah, weil ich mich plötzlich an meinen Großvater erinnert fühlte. Was für eine Kraft hatte er besessen, dass er weiterlebte, nachdem er einst dies hier gehabt hatte.. und es dann verlor, für immer verlor?

In Ithilien sah ich meine erste Wiese, so überschwänglich grün, so überreichlich üppig, so zügellos saftig, so verschwenderisch lebendig. Blumen in Massen... Wie nannte man sie? Ich wollte in ihren Farben waten und mich in ihrer zerbrechlichen Schönheit vergraben. Ich versuchte, eine Blume zu essen und spuckte sie aus, als sie sich in meinem Mund zu bitterem Brei auflöste. Die Lieder fremder Vögel, die schimmernden Schattierungen fremder Insekten... ich wankte voran, mit offenem Mund, lachend und weinend, trunken vor Staunen.

*****

Der Anduin war... groß, es gab kein anderes Wort dafür. Vom östlichen Ufer konnte ich kaum die vagen Umrisse von Klippen und Grün auf der anderen Seite wahrnehmen. Das Wasser strömte mit unaufhaltsamer Majestät flussabwärts, so ruhig, und doch mit einer immensen, einschüchternden Macht, die Steine auflösen und das Land formen konnte wie eine Skulptur.

Das Schiff... Es sah gleichzeitig beeindruckend und zerbrechlich aus. Ich begaffte den polierten Rumpf, den Wald aus Masten und sauber aufgerollten Segeln, den wasserdichten, großzügigen Laderaum. Aber dann entrollten sie die robusten, schweren Taue und überließen diese stattliche Schönheit der Gnade des Flusses, und das Schiff driftete davon, scheinbar so hilflos und so verletzlich wie ein Blatt. Das Gleichgewicht und die glatte Leichtigkeit seines Dahinfahrens kamen mir bedenklich und zerbrechlich vor. Es schien, dass der Fluss über all diese großartige Handwerkskunst lachen mochte, die mich noch Augenblicke zuvor so in Ehrfurcht versetzt hatte. Wie konnten bloße Planken und Bohlen, von Nägeln, Bolzen und Tauen zusammen gehalten, über Wasser bleiben? Wie steuerte man es in der starken Strömung? Das Schiff fühlte sich lebendig an rings um mich her. So solide es auch war, ich hörte das schwache Stöhnen und Knarren im Holzwerk, während das Schiff das Wasser durchschnitt, mit ihm rang und tanzte. Die Schilfkörbe kamen mir in den Sinn, die die Mütter benutzten, um ihre Babys zu wiegen, während sie in der See wateten, mit ihren Kanus darauf paddelten und Fisch und Muscheln fingen; der Kontrast zwischen den rauen, knorrigen Knoten, dem ausgefransten Boden und dem sich dehnenden Gewebe – und wie tief ein Baby darin schlief, wie behaglich und warm es darin war. Ich dachte, dass ich nun verstand, weshalb Seeleute von ihrem Schiff sprachen, als wäre es eine Frau.

„Wohin möchtest du jetzt gehen?“ fragte König Elessar an diesem Abend.

„Ich möchte meine Verwandten sehen, Herr. Großvater sagte mir, dass sie in Dol Amroth leben.“

„Das haben sie einmal getan,“ sagte Elessar König – der auch Hauptmann Thorongil war. „Aber viel ist geschehen seit der Zeit, als dein Großvater gefangen genommen wurde. Deine Verwandten mag es dort nicht mehr geben.“ Er schwieg eine Weile, der Blick seiner Augen abwesend. „Viele Häuser haben ihre Söhne im Krieg verloren. Bist du darauf vorbereitet?“ Bist du auf die Möglichkeit vorbereitet, dass du am Ende mit nichts anderem wiedervereinigt wirst als mit Namen, eingraviert in das Tor einer Gruft, oder mit grünen Hügeln über zu Grabe getragenem Heldenmut?

Ich nickte. Nach dem, was ich durchlebt hatte, konnte ich nicht sehen, was für einen Sinn es haben sollte, sich auf etwas vorzubereiten, das so ruhmreich war wie die Geschichte und die Zukunft der Freiheit. Ich, der gesehen hatte, wie man Gräber öffnete und die Leichen geliebter Menschen schändete. Ich, der das mitleiderregende Flehen von Kindern gehört hatte, die man beim Diebstahl im Kornspeicher erwischt hatte... sie rannten und rannten und rannten, bis sie nicht mehr rennen und sich nur noch zusammen kauern konnten, während ihre Jäger aufholten und grausam über gute Beute und noch besseren Fraß lachten. Ich, der Frauen gekannt hatte, die ihre neu geborenen Babys lieber töteten, als ihnen dabei zuzusehen, wie sie in Sklaverei aufwuchsen, der die aufgetriebenen Leichen schwangerer Mädchen gefunden hatte, die sich lieber das Leben nahmen, als die Kinder ihrer Vergewaltiger auszutragen... der Menschen getroffen hatte, die schlimmer waren als Orks, um sich ihren Vorteil zu sichern. Welche mögliche Trauer, welcher vorstellbare Widerwille konnte mich jetzt noch bekümmern?

Aber nichts, weder der unaussprechlichste Schrecken noch scheinbar unübertreffliche Schönheit, hatte mich auf das Meer vorbereitet.

Es brach plötzlich am Horizont aus, ein wachsender Streifen von sternengeschmücktem Blau, der die Ufer des grünbraunen Flusses zurückstieß, bis da nur noch diese Weite war, diese Endlosigkeit, der Rand der Welt, hinter dem die Herrschaft der Menschen ein Ende fand.

„Was ist das?“ flüsterte ich dem Fahrer des Karrens zu, der neben mir saß.

„Das Meer natürlich,“ schnaubte der. „Hast du es denn noch nie gesehen? Oder davon gehört?“

„Ich lebe... ich habe an der See gelebt...“ murmelte ich; meine Stimme schwankte. Die See meiner Kindheit, die See meiner Jugend kam mir in den Sinn: die wechselnde Farbe ihres Wassers, ihre kleinen Wellen, ihr Plätschern und Murmeln. Sie war bekannt, und mehr noch als bekannt... vertraut, bemeistert. Sicher.

Sie war kümmerlich. Sie war bescheiden.

Ich sprang stolpernd aus dem Karren und ging wankend auf den grasbewachsenen Rand des Kiesweges zu; halb lief, halb rollte ich den Abhang hinunter, auf diesen Anblick zu, der mich anzog.

„Wo gehst du denn hin?“ rief der Karrenfahrer.

Auf dem Hang gab es kleine Bodenwellen, und sie brachten mich zum Stolpern, während ich dahin hastete, ohne mich umzuschauen. Das Gras war struppig, die Erde locker und sandig, und ich verlor ständig das Gleichgewicht; ich fiel hin, stieß gegen Felsbrocken und schürfte mir Hände und Gesicht an den kleinen Steinen auf. Ich drängte weiter voran.

Halb den Abhang hinunter fing ich an, das Brausen zu hören. Unerbittlich, überschwänglich, ein schwerfälliger Rhythmus... es war wie der Herzschlag des Meeres. Ein donnerndes Rumpeln, ein Krachen, ein gurgelndes, gewaltiges Seufzen.

Und dann peitschte der Geruch, von der steifen, strafenden Brise herangetragen, auf mich ein. Es war anders als jeder andere Geruch, den ich je wahrgenommen hatte, mit vage vertrauten Duftnoten, aber alles in allem frisch und fremd; er flüsterte von unbekannten, weit hinaus geworfenen Welten und noch merkwürdigeren Geschöpfen. Ein Geruch, der vom Leben erzählte, seinen Schwächen und Niederlagen, und von all seiner atemberaubenden Schnelligkeit, seinem Ausmaß und Ruhm.

Der Sand, sahnefarben und gelb und leicht rötlich von zahllosen, blinkenden Sternchen, war mit Klumpen aus schlaffen, glänzenden Merkwürdigkeiten übersät, mit knochenweißen, ascheweißen, verdrehten Holzbruchstücken. Ich versank darin bis über die Knöchel; die feinen Körnchen hielten meine Schuhe gefangen, und als ich herausschlüpfte, rieselten sie neckend zwischen meine Zehen, heiß und rau und kitzelnd. Ich stolperte und stürzte, und die Sandkörner streiften mein Kinn, meine Wange und meine Handflächen. Ich lag eine Weile auf dem Boden und betrachtete schielend eine vollkommene, weiß-braun gestreifte Muschel vor mir. Ihre Form, mit weißen Armen, die sich in jede Richtung ausstreckten, war wild und ungebändigt und exquisit. Ich saß auf, hob sie hoch und barg sie in meinen Händen, und ich würgte einen Laut heraus, der halb Lachen war und halb Aufschluchzen. Ich umklammerte sie und kroch weiter, dann sprang ich auf die Füße; ich lief, ich rannte taumelnd hin zu der weiten Ausdehnung von rollendem, krachendem, sprühenden Weiß.

Ich komme. Ich komme. Ich komme. Nach Hause.

Ich stand da, gebückt und zitternd, unter kleinen, wimmernden Schluchzern. Das Wasser wirbelte um meine Füße, um meine Knöchel, steigend, steigend, bis es meine Beine liebkoste, meine Knie, beinahe milchwarm, schäumend, dick und schlüpfrig. Der nasse Sand glitt verräterisch unter meinen Füßen weg, als das Wasser sich zurückzog, und ich schwankte und fiel auf die Knie. Warte, warte, warte! Ich krabbelte hinter der zurückweichenden Welle her, aber sie bewegte sich so rasch, zischte spielerisch auf dem dunklen, glitzernden Sand und ließ mich nach Luft ringend hinter sich. Ich saß auf der Erde und hatte nur einen knappen, atemlosen Moment der Ehrfurcht und Verzweiflung, in dem ich zusah, wie eine andere Welle Geschwindigkeit aufnahm, eine Wand aus blaugrünem Wasser, bevor sie über mich hereinbrach.

Sie nahm mir die Sicht, noch ehe ich mich an der Art weiden konnte, wie Himmel und Sonne unter dem wirbelnden, schäumenden Wasserschleier aussahen. Sie nahm mir das Gehör, füllte mir die Ohren mit einem Dröhnen und rauschendem, gurgelnden Klang, ein merkwürdig lebendiges Geräusch. Sie flutete in meine Nase und erfüllte sie mit scharfen Aromen noch über dem Duft des Wassers, und in meinen Mund, vage nach Tränen schmeckend, nach Blut. Sie spielte mit meinem Leib, rollte ihn herum, prügelte auf ihn ein, riss mir die Glieder weg. Ich war hilflos, ängstlich, entsetzt, ich litt Schmerzen.

Nimm mich hin, nimm mich hin. Lass mich mit dir verschmelzen, lass mich dich anbeten...

Das Wasser verschwand allzu schnell, und weniger sanfte Hände packten meine Arme und Beine und zogen mich ans Ufer. Ich stellte fest, dass ich lachte und würgte, lachte und weinte.

Das Gesicht des Karrenfahrers blickte auf mich hinunter, von der Sonne umstrahlt. „Bist du verrückt?“ schnappte er. Ein anderer Mann, ein anderer Passagier aus unserer kleinen Gruppe von Reisenden, stand ihm gegenüber und schielte auf mich herab.

Noch immer konnte ich das Meer in meinem Mund schmecken, es auf meiner Haut spüren, es riechen, es hören.

„Ich will hier leben,“ keuchte ich und schloss die Augen.

„Geht es dir gut?“ fragte der Mann, der Passagier; er bückte sich und kniete sich neben mich.

„Das tut es,“ sagte ich ruhig. Mein Körper fühlte sich leicht an und gelöst, angenehmer, ausgeruhter, friedlicher, als ich mich in meinem ganzen Leben je gefühlt hatte. Ich fragte mich, ob es sich wohl so anfühlte, wenn man geboren wurde. „Jetzt schon.“ ENDE

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