Arda Fanfiction

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Mittwinternacht

von Tristania

Von Träumen die manchmal wahr werden

2876 Jahr des Dritten Zeitalters
Eriador, Ered Luin
Winter


Als Ori an diesem Morgen in die Küche geschlurft kam, fand er die Welt draußen unter Schnee begraben. Eigentlich nichts Ungewöhnliches für diese Jahreszeit, doch der Winter hatte diesmal lange auf sich warten lassen und zeigte sich nun erst am Morgen der Sonnenwende in seiner ganzen weißen Pracht. Der Zwergling gähnte, rieb sich die Augen und grüßte Dori, der wie üblich um diese Zeit am Herd hantierte, mit einem verschlafenen: „Guten Morgen.“
„Guten Morgen, Ori“, erwiderte Dori den Gruß ohne sich umzudrehen. Seine Arme waren bis zu den Ellbogen im Inneren des großen Lehmofens verschwunden und der Duft nach frisch gebackenen Honigkuchen lag verheißungsvoll in der Luft. Mit grummelndem Magen kletterte Ori auf die Sitzbank und nahm seinen üblichen Platz unter dem schmalen Küchenfenster ein.

Gedankenverloren blickte er hinaus und beobachtete die dicken weißen Flocken, die langsam aus dem bleigrauen Himmel schwebten. Durch den Dunst konnte er die Umrisse der umliegenden Häuser erkennen, deren Fenster wie kleine, gelbe Lichtpunkte glommen. Auch die Wohnstube wurde von behaglichem Kerzenschein erleuchtet, der sich in den Bleigläsern und blank polierten Kupfertöpfen auf den Regalen spiegelte. Alles schien zu glänzen, selbst die Nadeln der Tannenzweige, die über dem Türstock und rund um den Fensterrahmen angebracht waren. Wie jedes Jahr hatte Dori sich viel Mühe beim Dekorieren gegeben und redlich versucht Ori mit der Vorfreude auf die Jultage anzustecken, doch so wirklich war es ihm diesmal nicht gelungen.

Normalerweise liebte Ori die Feiertage, das leckere Essen und besonders die Geschenke, die die Bewohner der Zwergenfestung untereinander tauschten. Dabei ging es in der Regel sehr großzügig zu; niemand wollte sich von seinen Verwandten, Nachbarn und Freunden Geiz nachsagen lassen, weshalb der kleine Berg an Päckchen unter der Tanne in der Wohnstube rasch gewachsen war. Aber ausgerechnet dieses Jahr gab es etwas, das ihm fehlte und das kein noch so wunderbares Geschenk ersetzen konnte.

Er seufzte lautlos und schrak auf, als Dori ihm geräuschvoll eine Schüssel warmen Haferbreis vor die Nase stellte.
„Warum machst du denn so ein langes Gesicht?“, erkundigte er sich bei dem Zwergling und setzte sich ihm gegenüber, die Ärmel noch immer hochgekrempelt und das Geschirrtuch über die rechte Schulter geworfen.
„Schlecht geschlafen“, murmelte Ori, schob schnell einen Löffel Brei in den Mund und kaute betont gründlich, um näheren Ausführungen zu entgehen.
Dori schüttelte den Kopf.
„Sag bloß, du hast wieder die halbe Nacht gelesen“, tadelte er den Jüngeren milde. „Wenn das so weitergeht, konfisziere ich dir am Abend sämtliche Bücher.“

„Entschuldige, kommt nicht wieder vor“, murmelte Ori und setzte einen Blick auf, der schuldbewusst genug wirkte um Dori glauben zu lassen, seine Worte wären angekommen. Dabei war das nicht einmal der Hauptgrund für seine unruhige Nacht gewesen. Vielmehr hatte er versucht sich mit den Büchern wach zu halten, war letztendlich aber an seiner Müdigkeit gescheitert.

Er hatte sich fest vorgenommen auf jemanden zu warten, auch wenn er wusste, dass es diesmal ein sinnloses Unterfangen war.  Schon Tage zuvor hatte er auf eine Nachricht gefiebert, die das Kommen seines älteren Bruders ankündigte, aber diese war bis jetzt ausgeblieben. Er hatte es sogar gewagt Dori zu fragen, ob er in letzter Zeit etwas von Nori gehört hatte, war allerdings nur auf verhaltene Missbilligung gestoßen.
„Nein. Und wenn du mich fragst glaube ich kaum, dass wir so schnell von ihm hören werden. Er hat anscheinend endlich begriffen, dass er mit seinen heimlichen Besuchen nicht nur sich, sondern auch uns in Gefahr bringt und uns den größten Gefallen damit tut, wenn er fern bleibt.“

Solange Ori sich zurück erinnerte war Nori jedes Jahr im Winter zum Julfest erschienen und ein paar Tage geblieben, ehe er wieder aufbrach. Offiziell weil ihn das Abenteuer lockte, doch im vergangenen Jahr hatte Ori durch Zufall herausgefunden, warum der mittlere der drei Brüder so selten nach Hause kam. Er hatte sich vor Hati, einem vier Jahre älteren Zwergling und ausgemachten Fiesling versehentlich verplappert und dieser hatte ihm triumphierend verkündet, Nori sei in Wahrheit wegen eines Verbrechens aus Thorins Hallen verbannt worden und dürfe nie wieder zurückkommen. Nori war daraufhin überstürzt aufgebrochen und obwohl er Ori versprochen hatte regelmäßig zu schreiben, waren bisher gerade einmal zwei Briefe eingetroffen. Darin hatte er knapp erklärt es ginge ihm gut und er sei mit einer Handelskarawane nach Süden gezogen. Inzwischen waren mehr als sechs Monate vergangen in denen sie nichts mehr von ihm gehört hatten, aber dennoch konnte Ori nicht von der Hoffnung lassen, Nori würde auch dieses Jahr wieder wie gewohnt auftauchen und das Fest zusammen mit ihnen verbringen.

„Ori, träumst du schon wieder mit offenen Augen?“
Erschrocken stellte der Zwergling fest, dass seine Gedanken erneut abgeschweift waren und er statt zu essen wieder aus dem Fenster starrte. Dori war an den Herd zurückgekehrt um sich selbst eine Portion des Haferbreis zu nehmen, während der Inhalt von Oris Schüssel allmählich kalt wurde.
„Ähm… nein. Ich dachte, ich hätte da draußen etwas gesehen“, schwindelte er und biss sich im nächsten Moment auf die Zunge, als Dori kurz in der Bewegung stockte und sein Blick gleichfalls zum Fenster huschte. „War wohl nur ein Vogel oder ein Eichhörnchen“, beeilte er sich zu ergänzen und atmete auf, als sich Doris Haltung wieder entspannte.

„Ich habe dich gefragt, was du dir dieses Jahr am meisten zum Julfest wünschst“, wiederholte er seine Frage und sah den Jüngeren erwartungsvoll an.
Das Nori doch noch zu uns kommt.
„Papier und Federn. Und ein Vergrößerungsglas. Ich habe in der Bibliothek ein interessantes Buch über Pflanzen und Insekten gefunden“, nannte er rasch das erste, was ihm in den Sinn kam.
„Nun, dann darfst du gespannt sein“, entgegnete Dori und alleine sein Tonfall verriet bereits, dass wenigstens die ersten zwei Wünsche in Erfüllung gehen würden. Er war noch nie gut darin gewesen, Geheimnisse für sich zu behalten.

Ori lächelte, aß rasch noch zwei Löffel und stand auf.
„Darf ich zur Festung gehen? Fíli hat gefragt, ob ich ihm helfen könnte das Geschenk für Frau Dís fertig zu bauen.“
Dori blickte auf die Schale, die noch gut zur Hälfte gefüllt war, nickte dann aber.
„Gut, aber bis zum Nachmittagstee bist du zurück. Meister Óin hat sich angekündigt und ich möchte, dass du ebenfalls anwesend bist.“
„In Ordnung.“
Ori mochte Óin – er war ein Vetter zweiten Grades und einer der wenigen aus der königlichen Linie, der regelmäßig das Heim der Brüder besuchte. Er war dank einer alten Kriegsverletzung auf einem Ohr fast taub und redete deshalb immer etwas lauter, doch er wusste interessante Geschichten und brachte Ori immer wieder etwas über Kräuter und ihre Heilwirkung bei. Dieser Besuch und sein Treffen mit Fíli würden ihn hoffentlich weit genug von seinen trüben Gedanken ablenken.

Artig brachte er die Schüssel zur Spüle, stellte sie in das steinerne Becken und lief dann die Treppe hinauf in sein Zimmer, wo er rasch in seine fellgefütterten Stiefel schlüpfte und den dicken, warmen Walkmantel überwarf. Es folgten Schal, Handschuhe und Strickmütze und zum Schluss der Umhängebeutel mit seinen Schreib- und Zeichenutensilien sowie ein schmales, in Pergament gebundenes Büchlein, das Dori vor einigen Wochen günstig auf dem Markt erstanden hatte. Die Seiten hatten einen Gelbstich und das Pergament war fleckig, aber Ori hütete es wie seinen größten Schatz. Bisher hatte er sich noch nicht getraut etwas hinein zu schreiben – wenn, dann sollte es schon etwas Besonderes sein, nicht einfach nur Übungen und Abschriften anderer Texte.

Dick vermummt trabte er die Stufen hinunter, verabschiedete sich von seinem Bruder und öffnete die schwere Haustür. Sofort schlug ihm eisige Kälte entgegen, durchsetzt von Flocken, die in seinem Haar und auf seiner Kleidung landeten. Tief atmete er die klare Luft ein, zog den Schal noch ein wenig höher und machte sich auf den Weg zu Thorins Hallen.

******


Der Tag verstrich rasch und mit dem Abend kam die Rastlosigkeit zurück. Ori bemühte sich redlich sich weder vor Fíli und seiner Familie, noch vor Dori und Óin etwas anmerken zu lassen, doch als es draußen dämmerte und erneut die Kerzen entzündet wurden fiel es ihm zunehmend schwerer nicht alle paar Minuten aus dem Fenster zu sehen. Óin war wie vereinbart zum Tee erschienen und blieb auf ein Wort Doris hin auch zum Abendessen, was dieser gleich dazu nutzte einen Krug Wein zu servieren, dem die beiden älteren Zwerge in kurzer Zeit entsprechend gut zusprachen. Als die Gespräche anfingen sich um den Reinheitsgrad von Diamanten und die Schliffqualität von Rubinen zu drehen, zog sich Ori unter dem Vorwand der Müdigkeit in seine Kammer zurück.

Dort entzündete er ein Talglicht, setzte sich auf die Bettkante und nahm eines seiner Bücher zur Hand, um noch ein wenig zu lesen. Als er den gleichen Absatz jedoch zum dritten Mal wiederholte ohne hinterher zu wissen was dort eigentlich geschrieben stand, gab er dem inneren Drang nach und eilte zum Fenster, um hinaus zu spähen. Von dem Zimmer aus konnte er ein Stück der Straße sehen, die an der Festungsmauer entlang bis zum Haupttor führte und gewohnheitsgemäß schweifte sein Blick zuerst dorthin.
Enttäuscht stellte er gleich darauf fest, dass diese völlig leer und unberührt dalag. In der Mitte zeichnete sich ein kleiner Pfad von Fußspuren ab, der langsam vom stetig fallenden Schnee verdeckt wurde, aber darüber hinaus regte sich überhaupt nichts. Mit hängenden Schultern trottete er zum Bett zurück, ließ sich rücklings darauf fallen und starrte die dunkle Holzdecke über ihm an, während seine Gedanken kreisten und eine Vielzahl von Gefühlen in ihm stritten.

Obwohl es kaum möglich erschien musste er doch irgendwann vom Schlaf übermannt worden sein, denn als er das nächste Mal bewusst blinzelte war es im Zimmer stockdunkel. Das Talglicht war verloschen und Ori fror trotz der Tunika und der Wollhose, die er immer noch trug. Er machte Anstalten aufzustehen und unter die Bettdecke zu kriechen, als ihn ein leises Geräusch plötzlich innehalten ließ.
Er verharrte und lauschte angestrengt.
Da! Noch einmal!
Ein leises Schaben, dann ein kurzes dumpfes Poltern aus dem Erdgeschoss.
Stille.

Oris Herzschlag beschleunigte sprunghaft, während er vorsichtig aufstand und zur Tür schlich. Er presste das Ohr gegen das hölzerne Blatt und lauschte, vernahm aber nichts außer seinen leisen, hektischen Atem. Vielleicht war es ja nur Dori, der noch immer hantierte um die Spuren des Abendessens zu beseitigen. Wahrscheinlich war es das Beste, wenn er einfach zurück in sein Bett ging, sich hinlegte und versuchte weiterzuschlafen.
Und wenn es nicht Dori war, sondern jemand Fremdes? Wollte er es überhaupt herausfinden?

Ehe er über diese Frage näher nachdenken konnte, lag seine Hand auch schon auf dem Türknauf und drehte ihn ganz behutsam. Das Schloss klickte und Ori schlich barfuß hinaus auf den dunklen Flur. Er bewegte sich so leise wie möglich und hielt sich dicht an der Wand, um die knarzenden Bretter in der Mitte zu umgehen. Als er den Treppenabsatz erreichte hielt er noch einmal inne, kniff die Augen zusammen und spähte über das Geländer nach unten.
Er sah nichts außer die schemenhaften Umrisse des Flurs, hörte aber erneut ein leises Schleifen, das eindeutig aus der Wohnstube kam. Fast wäre er umgekehrt, riss sich jedoch zusammen und setzte seinen Weg Stufe für Stufe fort. Wenn es Dori war – schön. Wenn nicht, würde er so laut schreien bis dieser aufwachte. Ori wusste nicht, woher er den plötzlichen Heldenmut nahm, doch er war fest entschlossen dem Geheimnis der nächtlichen Störung nun endgültig auf den Grund zu gehen.

Im Flur angekommen trafen seine Füße auf nackten, kalten Stein, was unangenehm war aber das Gehen deutlich erleichterte. Er passierte die Küche und näherte sich der Tür, die in den geräumigen Wohnbereich mit dem offenen Kamin und den beiden bequemen Sesseln davor führte. Dort stand auch die festlich geschmückte Frosttanne für das Julfest, zusammen mit dem Berg an Geschenken. Dori hatte ihm strengstens verboten vor dem Morgen des kommenden Tages hinein zu gehen, aber das war Ori im Moment herzlich egal. Mit zitternden Fingern tastete er nach dem blanken Messingknauf, schloss die Hand fest darum und drehte so vorsichtig und behutsam wie möglich. Für einen kurzen Moment fürchtete er es wäre abgeschlossen, dann aber hörte er, wie der Riegel schabend zurückglitt und spürte, wie das Türblatt einen Moment später aufschwang.

Mit wild hämmerndem Herzen spähte er durch den schmalen Spalt hinein. Wärme schlug ihm entgegen – Dori und Óin mussten sich nach dem Essen hier her zurückgezogen haben, denn im Kamin hatte ein Feuer gebrannt. Jetzt glommen nur noch ein paar vereinzelte Scheite, deren rotes Licht kaum mehr als Silhouetten aus der Dunkelheit hob. Er erkannte die geschwungenen Konturen der Tanne, die wuchtigen Sessel und dazwischen…
Ein unförmiger, geduckter Schatten, der eindeutig nicht hier her gehörte.
Und der sich exakt in dem Moment zum ihm umwandte, als Ori die Tür weiter aufschob um einen Fuß in den Raum zu setzen.

Mit einem leisen Aufschrei auf den Lippen wich dieser rückwärts in den Flur, verfing sich mit dem Fuß an der Schwelle und geriet ins Wanken. Kurz kämpfte er um sein Gleichgewicht, ehe er fiel und unsanft auf den Hintern plumpste. Seine Augen füllten sich mit Tränen und ein ersticktes Schluchzen entrang sich seiner Kehle, halb vor Schmerz, halb vor Schreck. Mit einem Mal war seine Tollkühnheit verflogen und er verspürte furchtbare Angst, als die Tür der Wohnstube vollends aufging und der Schatten über ihm empor ragte.
„Bitte tu mir nichts!“, wimmerte er, streckte hilflos die Hände aus und kniff in böser Erwartung die Augen zusammen.

Er spürte, wie sich schwere Hände auf seine Schultern legten, dann wisperte eine allzu vertraute Stimme: „Ganz ruhig, Ori. Ich bin es nur.“
Oris leises Schluchzen erstarb augenblicklich und wich grenzenloser Überraschung. Das konnte nicht wahr sein!
„No… Nori?“
„Wer sonst? Hast du dir wehgetan?“
Reflexartig schüttelte Ori den Kopf, noch immer völlig überrumpelt und nicht imstande, etwas zu sagen. Die Hände wichen von seinen Schultern, packten ihn stattdessen unter den Armen und hoben ihn spielend in die Höhe. Gleich darauf wurde er zurück in die Wohnstube getragen und behutsam in einen Sessel gesetzt. Der Schatten trat an den Kamin, warf eine Handvoll Späne und zwei Scheite auf den Rost und stocherte kurz mit dem Schürhaken in der Glut. Es dauerte nicht lange, bis die ersten zaghaften Flämmchen an dem trockenen Holz leckten und es allmählich heller wurde.

Die Gestalt drehte sich um, zog die Kapuze des Reisemantels vom Kopf und offenbarte das Antlitz des vermissten Bruders. Er sah genauso aus wie Ori ihn in Erinnerung hatte – sogar sein langes, kupferbraunes Haar- und Barthaar trug er in den exzentrischen Zöpfen und Zacken, die ihn so unverkennbar machten. Seine grünbraunen Augen leuchteten erfreut und auf seinen Lippen lag ein freches Grinsen.
„Na, kleiner Bruder, ich hoffe du hast mich vermisst.“
Er streckte die Hand aus um Ori durch das eh schon zerzauste Haar zu wuscheln und fand sich im nächsten Moment in einer festen Umarmung wieder. Ori wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte, deshalb tat er einfach beides.
„Ich nehme das mal als ein Ja“, kommentierte Nori lächelnd und tätschelte ihm den Rücken, bis sich der Zwergling wieder halbwegs beruhigt hatte.

„Ich habe mir gewünscht, dass du zu Jul wieder da bist“, flüsterte Ori an seinem Hals, noch immer nicht gewillt ihn loszulassen. „Ich hätte alle meine Geschenke dafür hergegeben.“
„Keine Sorge, ich bin da. Und deine Geschenke darfst du behalten.“
„Aber ist es nicht gefährlich für dich?“
„Nicht gefährlicher als die Male zuvor. Ich weiß da ein paar Wege, die nicht einmal den Wächtern bekannt sein dürften. Allerdings habe ich nicht viel Zeit – es wäre das Beste, wenn ich im Morgengrauen wieder aufbreche, ehe mich noch jemand auf der Straße erkennt.“
Das hieß, dass ihnen nur ein paar wenige Stunden gemeinsame Zeit verblieben, aber Ori war so glücklich darüber Nori zu sehen, dass ihm augenblicklich alles recht war. Endlich löste er sich von seinem Bruder, wischte mit dem Ärmel seiner Tunika Rotz und Tränen aus dem Gesicht und lächelte Nori schüchtern an.

„Weiß Dori, dass du da bist?“
Der Dieb schüttelte den Kopf.
„Bis jetzt nicht. Ich wollte meinen Besuch nicht ankündigen, sonst hätte er garantiert das Haus verrammelt und wäre mit dir in die Festung gegangen. Ich glaube, es braucht noch ein paar Jahrzehnte bis er nicht mehr sauer auf mich ist.“
„Wie bist du dann reingekommen?“
Nori grinste nur und deutete auf das Fenster.
„Zur Not wäre ich auch durch den Kamin gekrochen.“
Ori kicherte bei der Vorstellung leise, dann rutschte er einem Einfall folgend vom Sessel und bedeutete Nori zu bleiben, wo er war.
„Ich sehe schnell nach, ob die Luft rein ist“, verkündete er und huschte auf leisen Sohlen hinaus.

Diesmal fiel es ihm wesentlich leichter über den Flur zu schleichen, da er keine Befürchtungen mehr haben musste unverhofft entdeckt zu werden. Bei der Tür angekommen hinter der Doris Schlafkammer lag presste er das Ohr gegen das Schlüsselloch und vernahm zufrieden lautes, dissonantes Schnarchen. Anscheinend hatte Dori dem Wein gut genug zugesprochen; er trank selten etwas, aber wenn er es tat könnte eine Horde Mumakil durch das Haus trampeln, ohne dass er es bemerkte. Von dieser Seite her waren sie also in Sicherheit.
Rasch kehrte er in die Wohnstube zurück, schloss sorgfältig die Tür und berichtete Nori von seiner Beobachtung, was diesen ebenfalls zum Lachen brachte.
„Gut gemacht, Kleiner. Ich glaube es ist eh besser, wenn wir Dori hiervon nichts erzählen. Denkst du, die beiden haben in der Küche noch etwas übrig gelassen? Ich sterbe vor Hunger.“

Ori nickte und verschwand erneut. Es war ein gutes Gefühl, denn er kam sich mindestens so verwegen vor wie sein älterer Bruder. Zwar war es keine Schatzhöhle die er plünderte, sondern nur die heimische Speisekammer, aber das dämpfte seine Begeisterung nur unwesentlich.
„Das ist fantastisch“, schwärmte Nori kurze Zeit später, als sie vor dem inzwischen wieder fröhlich lodernden Feuer saßen und sich an Brot, Käse, kaltem Fleisch, Pilzpastete mit Speck und Honigkuchen gütlich taten. „Eins muss man dem alten Griesgram lassen – kochen kann er.“
Ori nickte glücklich, den Mund voller saftigem Honigkuchen und die Hände und Wangen klebrig von der süßen Füllung. Mit leuchtenden Augen lauschte er den Geschichten, die Nori zum Besten gab während sie aßen und rollte sich schließlich satt und erschöpft auf dessen Schoß zusammen.

Der Dieb holte seine abgegriffene Holzpfeife hervor, stopfte sie mit flinken Fingern und entzündete den Tabak an einem Span aus dem Kamin. Ori beobachtete die Rauchkringel, die in Richtung Decke schwebten und spürte, wie seine Lider allmählich wieder schwer wurden. Er wollte jetzt um keinen Preis einschlafen, doch die Wärme und die vertraute Geborgenheit in den Armen des älteren Bruders ließen seine Standhaftigkeit rasch dahinschmelzen. Bereits im Halbschlaf fiel ihm allerdings etwas Wichtiges ein, das ihn veranlasste die Augen noch einmal zu öffnen und zu Nori empor zu blinzeln.
„Ich habe gar kein Geschenk für dich“, murmelte er verlegen. Tatsächlich hatte er es trotz seines innigen Wunsches ganz vergessen, sich ausgerechnet darüber Gedanken zu machen.
Nori lachte leise und strich ihm sanft über den Kopf.
„Macht nichts, Kleiner. Ich bin bei meiner Familie, das ist das beste Geschenk, dass ich haben kann.“

******


Sonnenstrahlen kitzelten Oris  Nasenspitze und weckten ihn am nächsten Morgen. Müde rieb er sich die Augen, streckte sich ausgiebig und setzte sich auf, verwundert darüber, dass er in seinem Bett erwachte. War er nicht gestern vor dem Kamin in der Wohnstube eingeschlafen und wo war Nori abgeblieben? Oder hatte er nur geträumt, dass sein Bruder mitten in der Nacht durch das Fenster ins Haus eingestiegen war, um mit ihm zusammen Mittwinter zu feiern?
Als er an sich herabblickte, sah er dass er noch immer die gleiche Kleidung trug wie am Vortag, nun allerdings wesentlich zerknitterter und mit ein paar Flecken am Kragen und auf den Ärmeln. Als er mit dem Daumen darüber rieb merkte er, dass er klebrig war. Klebrig wie Honig.

Energisch schwang er die Beine über den Rand des Bettes, sprang auf den Boden und stürmte aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Er wollte schon Noris Namen rufen, doch als ihm auf halbem Weg der Geruch von gebratenem Speck entgegenwehte fiel ihm wieder ein, dass er versprochen hatte Dori gegenüber Stillschweigen zu bewahren. Deshalb zwang er sich seine Schritte zu verlangsamen und blieb sogar noch einmal kurz stehen, ehe er in die Küche lugte.

„Guten Morgen, Dori“, grüßte er und blickte so unschuldig wie möglich drein.
„Guten Morgen“, entgegnete Dori kurz angebunden, während er den Speck wendete und zwei Eier aus dem Korb klaubte, um sie in die Pfanne zu schlagen. Seine Bewegungen wirkten ein wenig fahrig und er sah nicht ganz so frisch aus wie sonst um diese Uhrzeit. Anscheinend litt er noch immer ein wenig unter dem gestrigen Abend und Ori beschloss, die mangelnde Aufmerksamkeit auszunutzen. Rasch zog er sich in den Flur zurück, wanderte ein paar Meter weiter und stieß die Tür zur Wohnstube auf. Er wusste nicht was er erwartet hatte, aber bestimmt nicht das, was er jetzt sah.

Der Raum lag friedlich und vollkommen unverändert vor ihm. Auf dem Grund des Kamins befanden sich ein paar Aschereste, aber ansonsten herrschte die übliche penible Ordnung, die Dori so schätzte. Es gab nicht den kleinsten Hinweis darauf, das Nori und er die letzte Nacht tatsächlich hier gewesen waren – keine Krümel auf dem Boden, keine verschobenen Gegenstände, nicht einmal der Hauch von Pfeifenkraut in der Luft. Ein wenig ungläubig rieb Ori sich über die Augen, doch das Bild veränderte sich nicht.
„Fröhliches Julfest, Ori“, erklang Doris Stimme in seinem Rücken und ließ ihn zusammenzucken. Der älteste der drei Brüder interpretierte seinen ertappten Blick zum Glück falsch, denn er meinte nur: „Keine Sorge, du darfst deine Geschenke sofort nach dem Essen auspacken.“
Sprachs und verschwand wieder Richtung Küche, nicht darauf achtend ob Ori ihm folgte oder nicht.

Dieser nutzte die Gelegenheit und huschte noch einmal in den Raum, kniete sich vor den prächtig geschmückten Baum und ließ den Blick über die bunt verpackten Päckchen schweifen. Sie sahen noch immer so aus wie am Vortag, wenn auch weniger verlockend. Erneut fragte er sich im Stillen, ob die Erlebnisse der vergangenen Nacht nur ein Traum gewesen waren, als sein Blick an etwas haften blieb. Es war ein flacher Gegenstand, der halb hinter einer großen Kiste verborgen war, handflächengroß und in einfaches, dünnes Papier eingeschlagen. Ein Lederband hielt es zusammen und an der Seite waren drei winzige Runen geschrieben.
Ori.
Mit bebenden Fingern zog er es hervor, betrachtete es einen Augenblick und begann das Band zu lösen. Er brauchte zwei Anläufe, bis er den Knoten entwirrt hatte und das Papier auseinander falten konnte.

Zum Vorschein kam eine Dose in der Farbe von Knochen, die über und über beschnitzt war. Ehrfürchtig nahm er das Kästchen zwischen die Finger und bemerkte, dass sich die Oberfläche weicher und rauer anfühlte, eher wie Horn. Ori kniff die Augen ein wenig zusammen und betrachtete die fremd wirkenden Ornamente, die sich über das Äußere zogen und fantastische, verschlungene Muster bildeten. Auf einer der Längsseiten war ein winziger Verschluss angebracht, den er vorsichtig mit dem Fingernagel aufschob, bis er sich löste und der Deckel zur Seite klappte.
Als erstes flatterte ihm ein Stück Pergament in den Schoß, das er schnell auseinander faltete und die eng beschriebenen Zeilen überflog.

Lieber Ori, ich habe das hier während meiner Reise entdeckt. Es ist ein Pigment, dass man mit Wasser mischt und das sich wie Tinte schreiben lässt, dabei aber wesentlich haltbarer ist. Ich hoffe, es hilft dir bei deinen Übungen. Ich freue mich bereits auf deine nächsten Briefe. Tak khaz meliku suz yenetu*. Nori

Er las den kurzen Text mehrmals, ehe er einen Blick auf den eigentlichen Inhalt warf. In der Tat war das Kästchen mit einer festen, wachsähnlichen Paste gefüllt, die nicht wie übliche Tinte schwarz war, sondern in einem leuchtenden Indigo erstrahlte. Wie würden erst die Zeichen aussehen, die er damit schrieb?
Er lächelte, während er das Kästchen wieder sorgfältig einschlug und verschnürte, ehe er es unter den Bund seiner Hose schob und die Tunika darüber zog. Nun hatte er die Gewissheit über Noris Auftauchen und damit eine Geschichte, die er in seinem Büchlein niederschreiben könnte, sowie die Mittel, um daraus etwas ganz Besonderes zu machen. Er hörte, wie Dori seinen Namen aus dem Nebenraum rief und beeilte sich in die Küche zu kommen, damit dieser keinen Verdacht schöpfte. Allerdings konnte er nicht verhindern, dass er von einem Ohr zum anderen grinste.

„Na, da hat aber jemand besonders gute Laune“, brummelte Dori angesichts der seligen Miene seines jüngsten Bruders.
Statt einer Antwort schlag Ori seine Arme um Doris Hals, der sichtlich überrascht war über diese spontane Geste der Zuneigung.
„Fröhliches Julfest, Dori.“
Und auch dir, Nori, wo immer du jetzt gerade bist. Fröhliches Julfest.

ENDE


*Bis sich unsere Wege wieder kreuzen.

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