Arda Fanfiction

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Die letzte Schlacht

von Feael Silmarien

Kurzgeschichte

Man erzählt von starken Recken, die Drachen bezwangen; man erzählt von ruhmreichen Heerführern, die die Scharen der Feinde zerschmetterten; man erzählt von großen Siegen, die dann errungen wurden, wenn es keine Hoffnung mehr gab. Viele Lieder werden gesungen über tapfere Helden und schöne Maiden, über blitzende Schwerter und krachende Schilde, über gerechte Könige und erbitterte Kriege gegen das Böse.

Doch wer erzählt Geschichten über die Namenlosen, die kämpfend für ihr Vaterland fielen; wer singt Lieder über jene, die aufs Schlachtfeld gehetzt wurden, um wertlos geopfert zu werden?

Gondor blüht und jedes Jahr wird der Sieg über Sauron gefeiert. Auch wird der vielen Opfer gedacht, doch man spricht nicht darüber. Man begnügt sich mit "schlimm" und "schrecklich" und geht nicht weiter darauf ein. Man versucht, es zu vergessen.

Das ist eine Gabe der Menschen. Wir können wegsehen, ignorieren, so tun, als hätte es die Dunkelheit nie gegeben. Wir können fröhlich in der hellen Gegenwart leben und allen Kummer verdrängen. Doch nachts, wenn wir mit unseren Erinnerungen und Gedanken alleine sind, überfällt es uns und frisst sich in unsere Herzen: Wir sehen die Vergangenheit klar und deutlich vor uns, wir sehen die Bilder, die jede Nacht wiederkehren: die grauen Gesichter der Menschen, die Kälte der Hoffnungslosigkeit, die mit leblosen Gesichtern auf das Schafott gehenden Deserteure, die ungeheuerlichen Leichenmassen, die eilig verscharrt werden, das unerträgliche Schreien der Pferde, das Heulen des Windes über verwüsteten Schlachtfeldern, die gierigen Rufe der Krähen. Was auch immer wir tun, diese Erinnerungen bleiben in unseren Köpfen. Für immer.


Éowyn ist zornig. Sie sagt, ich sei nicht mehr den Mann, den sie geheiratet hatte. Auch habe ich mit halbem Ohr gehört, wie die Diener miteinander tuschelten, ich werde meinem Vater immer ähnlicher. Dabei sind nur sieben Jahre seit dem Ringkrieg vergangen.

Ich erinnere mich oft an die ersten vier Jahre des Friedens. An die Hochzeit, an den Einzug ins Fürstenhaus in den Emyn Arnen, an das Kommen der Elben, die hier in Ithilien eine Kolonie gegründet haben, an die Ernennung des kleinen Prinzen Eldarion zum Thronfolger, an die Geburt meines Sohnes Elboron und seiner Zwillingsschwester Haleth. Doch an das Glück von damals kann ich mich nicht mehr erinnern. Es ist, als hätte mich eine Bestie Morgoths verschlungen. Ich sehe nur noch die Dunkelheit und die unauslöschbaren Spuren des Ringkrieges.

Das Königreich Gondor musste neu aufgebaut werden, da alles zerstört war. Es gab allerdings zu wenig Hände, die bei der Arbeit mit anpacken konnten. Es gab auch zu wenig Nahrung und Medizin. Viele Menschen waren obdachlos und die meisten Familien zerrissen. Diese Krise hat immer noch kein Ende gefunden.

Ithilien ist verwildert und an manchen Stellen sind die Wälder vernichtet. Wir bemühen uns immer noch, daraus den Garten zu machen, der das Land einmal gewesen war. Dabei stoßen wir immer wieder auf Leichen. Menschen und Orks, die im Ringkrieg getötet und nicht beerdigt worden waren. Ich weiß noch, wie oft es passierte, dass ein Waldläufer spurlos verschwand. Jetzt werden die Vermissten nach und nach wiedergefunden. Manche werden ihren Familien übergeben, viele aber haben keine lebenden Angehörigen mehr.

Die meisten toten Soldaten kenne ich. Ich erinnere mich noch an ihre Stimmen, an ihr Lachen, an ihre Macken und Heldentaten, an ihre Freuden und Ängste. Es gibt vieles, woran ich mich erinnere, wenn ich die Toten sehe.

Auch an mein erstes Scharmützel, in dem ich erstmals gesehen habe, was Krieg wirklich ist. An den Geschmack von Blut in meinem Mund, an das ganze Blut an meinen Händen, an Händen, die - einst rein und unschuldig - zum ersten Mal getötet hatten. Damals hat das alles angefangen. Der Fluch, den ich mir selbst auferlegt habe. Von dem Moment an, als ich meinem ersten Opfer den Hals durchschnitt, fühlte ich mich schmutzig, verdreckt vom fremden Blut, das durch mich seinen Weg aus dem Körper des Toten gefunden hatte.

Später kommandierte ich die Waldläufer von Ithilien und einen Teil des normalen Heeres. Ich schickte Männer in den Tod, ich brachte Jungen das Töten bei, ich machte jene, die mich liebten und achteten, schmutzig und ließ sie in den Abgrund stürzen, um nachher den Blicken ihrer Familien auszuweichen. Ich habe mich dafür gehasst. Und das tue ich immer noch.


"Ha!"

Ein Ruf meines Sohnes Elboron reißt mich aus meinen Gedanken. Er hat gerade bei einem Strategiespiel gegen Haleth gewonnen.

"War doch klar, dass du gewinnst!", brummt sie, schnappt ihre Puppe und verlässt das Kaminzimmer. Sie ist eine schlechte Verliererin, wie Boromir es einmal gewesen war.

Nichtsdestotrotz kostet Elboron seinen Triumph aus, während er die Figuren wieder auf ihre Ausgangsfelder stellt. Dieses Strategiespiel hat einst meinem toten Bruder gehört. Elboron liebt es genauso sehr, wie Boromir es getan hat. Es geht darum, auf der in viele Felder eingeteilten Landkarte mit Soldaten-, Reiter- und Bogenschützenfiguren eine Schlacht zu gewinnen. Elboron ist sehr gut darin. Er sei ein geborener Heerführer, sagen viele angesichts seines kriegerischen, ehrgeizigen Charakters. Er wurde in die falsche Zeit hineingeboren, da sind sich alle einig.

Ich halte nichts von Elborons Kriegsleidenschaft. Ich habe auch protestiert, als er es in den Kellergewölben des Weißen Turms gefunden hatte und behalten wollte. Aber Éowyn hat sich gegen mich durchgesetzt. Offenbar macht es ihr nichts aus, wenn unsere Kinder Krieg spielen.

Éowyn, Éowyn! Bei deiner kleinen Torheit als Dernhelm hast du doch nichts gesehen! Du hast niemanden in den sicheren Tod gesandt, du weißt nicht, wie es ist, Männern, die deinetwegen sterben werden, in die Augen zu sehen! Du hast nur gekämpft, um darauf lange Zeit bewusstlos im Sterben zu liegen. Du hast nie ein frisches Schlachtfeld gesehen!

Und Elboron sieht in all dem Grauen nur ein Spiel...

Plötzlich fühle ich, wie jemand an meinem Ärmel zupft. Ich schaue hinab und blicke ins Gesicht meines Sohnes.

"Spielst du mit mir?", fragt er mit großen, bettelnden blauen Augen.

"Nein." Ich sehe weg und will gehen.

"Du spielst nie mit mir!", ruft Elboron zornig und stampft mit dem Fuß.

Ich seufze und begebe mich eilig zur Tür. Was soll ich denn tun? Ich kann dieses Spiel nicht spielen, es tut einfach zu sehr weh. Auch wenn es nur Figuren aus Stein sind, sehe ich die bitteren, schmerzhaften Erinnerungen zu deutlich vor mir. Es kommt mir vor, als würde ich echte Soldaten kommandieren.

"Du hasst mich!", schreit Elboron.

Eine eisige Klinge fährt durch mein Herz und ich wirbele herum.

"Das ist nicht wahr", murmele ich erschüttert.

"Doch!" Elborons Schreien vermischt sich allmählich mit verzweifelten Schluchzern. "Du sprichst kaum mit mir und schließt dich dauernd in deinem Gemach ein!"

Das stimmt. Aber eigentlich bevorzuge ich die Einsamkeit, um den anderen nicht die Laune zu trüben...

"Du hasst mich, du hasst mich, du hasst mich!", heult Elboron immer weiter.

"Er wird Denethor immer ähnlicher", höre ich die Köchin in meinem Gedächtnis sagen. Nein, ich will nicht, dass mein Sohn dasselbe durchmacht wie ich. Wirklich nicht. Ich hasse ihn nicht. Ich fürchte mich. Ich fürchte die Vergangenheit, die in mir weiterlebt. Aber ich will Elboron nicht das antun, was mir von meinem Vater angetan wurde.

"Ich spiele mit dir." Meine Stimme bebt, obgleich ich versuche, sanft zu klingen. In meinem Herzen lastet ein Gefühl, als würde ich mein eigenes Todesurteil unterzeichnen.

"Wirklich?" Seine Augen weiten sich und er strahlt mich glücklich an. Dann schnappt er meine Hand und zerrt mich zum Tisch, wo das Spiel bereitsteht. Ich nehme gegenüber von ihm Platz.

"Du kannst anfangen", sagt er mit in Glück ertrinkender Stimme.

Ich seufze. Meine Hände schwitzen und zittern. Am liebsten würde ich aus dem Zimmer stürzen. Ich versuche, ruhig und gleichmäßig zu armen, als ich den größten Teil meines Heeres vorrücken lasse.

Zu meiner Verwunderung lässt Elboron mir nur einen kleinen Trupp entgegenmarschieren. Doch seine List erkenne ich erst dann, als es zu spät ist: Sobald die Schlacht in vollem Gange ist, schickt er einen heftigen Pfeilhagel auf das Getümmel los. Viele Soldaten werden getroffen. - Auch seine eigenen.

Elboron, wie kannst du nur? Du hast deine eigenen Leute verraten! Leute, die dir Treue geschworen haben! Wenn du doch nur wüsstest, verstehen würdest, was du getan hast! Wenn du doch nur wüsstest, was das für ein Gefühl ist! Wenn du doch nur wüsstest, welche Folgen es hat! Wie kannst du nur?

Die ganze Partie über habe ich am ganzen Leib gezittert und mir den Schweiß abgewischt. Doch jetzt kann ich nicht mehr. Die Gesichter der vielen toten gondorianischen Soldaten, die ich indirekt getötet habe, ziehen an meinen Augen vorbei. Meine Landsleute, die ich verraten habe. Ich, das Monster, die Bestie, die sich so sehr wünscht, wieder ein Mensch zu sein, doch durch immer neue Opfer nur tiefer und tiefer sinkt. Ich habe mich selbst, den Menschen in mir getötet, als ich erstmals ein fremdes Leben auslöschte.

"Was ist mit dir?", fragt Elboron besorgt.

"Ich..." ... weiß nicht, wie ich es sagen soll.

Er läuft um den Tisch herum und nimmt meinen Arm.

"Warum hast du nicht gesagt, dass du dich nicht gut fühlst?"

"Ich will nicht, dass du glaubst, dass ich dich hasse", antworte ich heiser.

"Geh' lieber in den Garten, da kannst du dich besser erholen", rät er mir fürsorglich.

Ich nicke und begebe mich zur Tür.

"Ich liebe dich, Ada", ruft er mir hinterher.

Ich schaue kurz zurück. Ich liebe dich auch, Elboron... Ich sage nichts, doch mein Lächeln sagt mehr, als es Worte getan hätten. Ich liebe dich auch, Elboron, und ich bin dir dankbar, dass du mich liebst.

Seine Worte haben eine merkwürdige Wärme, die sich wie ein Mantel um mich legt. Ich bin nicht allein. Ich bin nicht im Krieg. Das Schlimmste ist schon längst überstanden. Ich sehe das Sonnenlicht, das den Gang flutet, ich höre die Vögel singen, ich rieche die Blumen im Garten, ich spüre die Wärme des Sommers. Die Erinnerungen werden wie ein dunkler Schleier von der sanften Brise fortgetragen, die mir das Gesicht streichelt, als ich aus dem Fenster schaue. Eine Fessel löst sich und plötzlich sehe ich die Welt mit anderen Augen, als wäre ich aus einem Albtraum erwacht. Ich sehe die Schönheit dieser Welt, ich spüre meine Herzschläge, wenn ich mir die Hand auf die Brust lege. Die Finsternis wird von meinen Tränen fortgespült.

Ich lebe.


ENDE

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