Arda Fanfiction

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Ruinen

von Feael Silmarien

Kurzgeschichte

Es kam Faramir vor, als hätte jemand die Zeit angehalten. Drückende Stille lastete über den Ruinen von Osgiliath. Die Sonne war hinter grauen Sturmwolken verschwunden. Es würde keinen farbenfrohen Sonnenuntergang geben. Die beiden Truchseßsöhne, die die Garnison der zerstörten Stadt befehligten, warteten in einem Raum im zweiten Obergeschoss des Hauptkommandogebäudes, dem seit dem letzten Angriff eine ganze Wand fehlte. Doch dass es reinregnen konnte, störte die Offiziere nicht im Geringsten. An solche kleinen Unannehmlichkeiten hatte man sich nach ein paar Jahren schon längst gewöhnt.

Faramir saß auf der Fensterbank, den Rücken gegen die Wand der Fensternische gelehnt und aus irgendeinem Grund viel zu erschöpft, um in den nächsten Stunden ein ganzes Heer zu befehligen. Dabei hatte er sich am Tag zwischendurch noch zum Schlafen hingelegt, um während der Schlacht bei Kräften zu bleiben. Er war viel zu erschöpft und für die kommende Situation gefährlich gereizt. Er selbst konnte sich nicht erklären, was ihn so stimmte. Es war ihm so schrecklich danach, sich in eine stille Ecke zurückzuziehen, um von der Welt um ihn herum nichts hören zu müssen. Nur leider hatte er ein Heer zu befehligen, Soldaten, von denen er möglichst viele am Leben erhalten wollte.

Diese gewaltige Verantwortung zermürbte ihn allmählich. Egal, was passierte, er als Befehlshaber war schuld. Er hatte nicht das Recht, Fehler zu begehen. Doch er war immer noch nur ein Mensch, der menschliche Fehler machte. Und es war nicht nur sein Gewissen, das danach auf ihm herumhakte, sondern auch sein Vater, von dem er nie etwas wie Liebe erfahren hatte. Denethor, der Statthalter von Gondor, schien seinen jüngeren Sohn regelrecht zu hassen. Faramir konnte es ihm nie recht machen. Vielleicht würde Denethor ja erst zufrieden sein, wenn Faramir getötet wurde. Ja, vielleicht wünschte er sich dies sogar.

Der junge Mann knurrte innerlich und krallte seine Finger in das Gestein. Er war erst fünf Jahre alt gewesen, als seine Mutter starb. Seitdem hatte er nichts mehr, was er als Familie bezeichnen konnte. Zwar war er im Heer und im Volk sehr beliebt, aber wer von ihnen allen kannte ihn eigentlich wirklich? Sie sahen in ihm nur den freundlichen, verantwortungsvollen, tapferen Heermeister, den Anführer der Waldläufer von Ithilien. Doch keiner sah den jungen Mann, der mit jedem Tag immer mehr an seiner Einsamkeit zerbrach.

Faramir hatte einen älteren Bruder, der sich schrecklich übertrieben um ihn kümmerte. Und doch spürte der Jüngere eine gewaltige Kluft zwischen sich und Boromir. Der inzwischen sehr erfahrene Krieger war ein völlig anderer Mensch als der eher sanfte und nachdenkliche Faramir. Seit er als kleines Kind ein Holzschwert in die Hände gekriegt hatte, interessierte er sich für nichts anderes als den Kampf. Er war besessen von dem Gedanken, noch zu Lebzeiten eine Legende zu werden. Nun, sein Ziel hatte er inzwischen fast erreicht. Er war das lebende Ideal eines Kriegers. Maßlos stolz, ehrgeizig und treuherzig. Aber auch süchtig nach Anerkennung. Das wunderte Faramir immer wieder an ihm. Er hatte die Anerkennung von ganz Gondor und es reichte ihm immer noch nicht. Wenn er nur wüsste, wie es sich anfühlte, vom eigenen Vater nicht anerkannt zu werden! Aber da verlangte er wohl zu viel von Boromir. Für ein tiefes brüderliches Verhältnis war Boromir... Nun ja, in Sachen Gefühle und Nachdenklichkeit gab es kaum etwas, was an Boromir erwähnenswert wäre. Es gab wirklich nichts, worüber die Brüder reden konnten.

Vielleicht war es frevelhaft dem eigenen Bruder gegenüber, aber es ärgerte Faramir ungemein, dass Boromir sich im selben Raum befand und die Stille mit dem Schleifen seines heißgeliebten Schwertes durchbrach. Es gab manchmal Momente wie diese. Momente, in denen Faramir so frustriert war, dass er Boromir schlagen wollte. Damit ihm die Hand nicht versehentlich ausrutschte, krallte er sie noch fester in das Gestein.

Niemand sah die Wut, die sich manchmal in Faramirs sonst so sanften Herzen ansammelte.

Sein Nerv riss endgültig, als Boromir auch noch zu pfeifen begann. So unmusikalisch er war, so klang auch sein Gepfeife. Mit zusammengebissenen Zähnen sicherte sich Faramir mit der einen Hand ab, als er sich nach unten beugte und einen Stein aufhob.

"He, was soll das, Kleiner!", fauchte Boromir, als der Stein seine Schulter traf.

"Reich mir mal das Trockenobst rüber", sagte Faramir mit bemüht ruhiger Stimme. "Und hör auf zu pfeifen."

Der Ältere entspannte sich, hob die Schale mit Trockenobst auf und trug sie zu Faramir, der sich sofort daran machte, seinen Frust durch das Kauen auszulassen.

"Du siehst nicht gerade gut aus, Kleiner", stellte Boromir fest, als er seinen Bruder aus der Nähe betrachtete. "Vielleicht hättest du vorhin doch in den -"

Das Wort "Puff" blieb unausgesprochen. Er duckte sich gerade noch rechtzeitig, sodass der Stein, den Faramir in seine Richtung geschmettert hatte, an der Wand abprallte.

"Hm, ja, du hast recht", sagte Boromir mit einem Unschuldsgrinsen, als er sich wieder aufrichtete. "Weiber sind die reinste Zeitverschwendung."

"Ein bisschen mehr Respekt vor Frauen, wenn ich bitten darf", knurrte Faramir. "Deine Mutter war zufällig auch eine."

Boromir verdrehte die Augen. "Na das ist schon was ganz Anderes."

Er ging zurück zu seinem Schwert und fuhr mit dem Schleifen fort. Endlich wieder Ruhe! Immerhin hatte er sich ein wenig beherrschen können. Unheimlich, wie schwer es ihm diesmal gefallen war. Normalerweise konnte er das ganz gut. Aber es war inzwischen wohl alles zu viel für ihn.

"Denkst du manchmal an sie?"

Boromirs so ungewohnt leise Stimme ließ ihn wieder aufschrecken.

"Ja, natürlich...", murmelte er ein wenig verwirrt und vergaß, dass er eigentlich gereizt war.

Der Ältere hielt mit dem Schleifen inne und blickte schuldbewusst zu Boden.

"Weißt du, Faramir, ich habe dich gehasst."

Was..? Was zum...

"Als ich noch Einzelkind war, waren Vater und Mutter so glücklich über meine Geburt, dass sie mich über alle Maße verwöhnten. Aber da Vater immer so viel zu tun hatte, habe ich die meiste Zeit mit Mutter verbracht. Ich hatte sie für mich ganz allein und dachte, das würde immer so bleiben. Doch dann wurdest du geboren und sie hat sich nur noch um dich gekümmert. Ich meine... Wie hätte es anders sein sollen? Du warst noch ganz klein und brauchtest Aufmerksamkeit. Aber ich dachte, du würdest mir meine Mutter wegnehmen."

Boromir...

"Ich fühlte mich so schrecklich beiseitegeschoben. Vater hatte nie Zeit für mich, Mutter auch nicht. Einmal habe ich mich bei Vater beklagt und er hat dann mit Mutter gesprochen. Ich bin sein Erstgeborener und er war schon immer sehr stolz auf mich. Er konnte es nicht leiden, dass sie mich vernachlässigte. Aber sie konnte sich ja nicht in zwei Hälften teilen und sich uns beiden widmen. Ich beklagte mich immer wieder bei Vater und er stritt sich deswegen immer öfter mit Mutter. Ich glaube, daran ist sie letztendlich zugrunde gegangen. Sie wurde von uns dreien seelisch in Stücke gerissen. Du kannst ja nichts dafür, du warst noch ein Kleinkind. Dennoch gaben Vater und ich dir die Schuld an ihrem Tod. Wir waren überzeugt, wir wären eine glückliche Familie geblieben, wenn du nicht geboren worden wärst."

Diese Worte taten weh. "Du... Du hast mich..."

"Jaah..." Boromir verhüllte mit seiner Hand eine Gesichtshälfte. "Nach ihrem Tod hasste ich dich nur noch mehr. Ich wollte, dass du dieselbe Einsamkeit erleidest wie ich damals. Ich wollte Rache. Zarte, süße Rache... Als ob sie an den Dingen etwas ändern könnte..." Er schwieg für eine Weile, dann fuhr er leise flüsternd fort, dass Faramir sich neben ihn setzen musste, um ihn zu verstehen. "Weißt du noch, als du mit zehn dieses fürchterliche Fieber hattest? Du hast im Schlaf geredet. Du hast geweint und sie um Hilfe gebeten. Erst als ich das sah, erkannte ich, was ich angerichtet hatte. Ich schwor mir, dir ein guter Bruder zu sein. Aber ich glaube, ich habe mein Ziel verfehlt. Ich konnte meinen Fehler nie wiedergutmachen.

Vergib mir."

Er blicke Faramir direkt in die Augen. Mit einem so unglücklichen Ausdruck, dass der Jüngere fast nach hinten umfiel. So hatte er Boromir noch nie erlebt. Es machte ihm Angst. Angst vor sich selbst.

"Boromir...", hauchte er grauenerfüllt. "Boromir... Ich... Gerade eben... Ich wollte dich schlagen... Ich habe dich gehasst..."

Sie starrten sich an. Beide bebend, beide die Tränen nur mit Mühe zurückhaltend.

"Verflucht..." Sie senkten gleichzeitig den Blick.

"Verzeih mir, Bruder", murmelte Faramir kaum hörbar. "Bitte verzeih mir..."

Im nächsten Augenblick fand er sich an Boromirs Brust gedrückt.

Ich bin ein solcher Narr gewesen!

Ich habe dich gehasst...

Dich!

Meinen eigenen Bruder!

Verzeih...

"Es tut mir so leid, Kleiner", flüsterte Boromir. "Es tut mir so leid..."

Faramir konnte keinen Laut mehr hervorbringen. Vergib mir...


Ein Soldat kam die Treppe hochgestürmt.

"Heermeister Boromir, Feldhauptmann Faramir, sie kommen."

Faramir erhob sich von der Fensterbank und lächelte zu Broromir. Auch dieser erhob sich.

"Los, komm."

Ich bin froh, dich als Bruder zu haben.


ENDE

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