Arda Fanfiction

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Als Ilúvatar sich erbarmte

von Feael Silmarien

Moria, Missgeburt

Es gibt viele Überlieferungen, die die Entstehung der Orks beschreiben, und sie widersprechen sich gegenseitig. In einigen heißt es, der Verräter Morgoth habe gefangene Eldar gefoltert, bis sie zu Orks wurden. Wenn wir von dieser Position ausgehen, folgern wir, dass die Orks zu den Kindern Ilúvatars zählen. Was passiert also, wenn der Allvater ihnen eine Chance gibt und ein gewöhnlicher Moria-Ork namens Urod eines Tages als Elb erwacht?

Bevor wir uns mit dieser Sache befassen, müssen wir jedoch eines klären: Was ist ein Ork?

Ein Ork ist eine zerstörte Existenz, das Resultat eines Gewaltaktes. Er lebt im Dunkeln und fürchtet die Sonne, weil sie ihm Schmerzen bereitet. Er ist mit Leib und Seele ein Sklave. Der Sklave seines Befehlshabers und seiner niederen Wünsche. Es gibt unzählige Orks und sein armseliges, kleines Leben ist niemandem etwas wert. Er ist ein Stück Fleisch, nicht mehr. Wenn er etwas wert sein will, dann muss er sich diesen Wert erkämpfen. Er muss stärker sein und gerissener als die anderen Orks. Und wenn er sich eine Position innerhalb des Stammes erkämpft hat, kann er mit den niederen Orks alles machen, was er will. Er kann ihnen alle Knochen brechen, er kann sie fressen, er kann sie so tief erniedrigen wie er will. Denn sie würden es mit ihm nicht anders tun, wenn die Rollen vertauscht wären. Es ist normal so. Orks haben keine Wünsche und Bedürfnisse außer Fressen, Schlafen, sich durch Folter und Tod zu amüsieren und ihr sinnloses Dasein zu fristen.

Man fragt sich, ob sie überhaupt glücklich oder unglücklich sein können. Hat ein Ork nicht genug zu essen oder muss er mehr arbeiten als er mag, dann ist er unzufrieden. Aber unglücklich? Nein, ein Wesen, das nur dafür lebt, seine tierischen Bedürfnisse zu befriedigen, weiß nicht, was Glück und Unglück bedeuten.

Ob man dies nun als Segen oder Fluch betrachtet, erscheint eine solche Existenz von außen widerlich und bemitleidenswert. Denken die Orks auch so? Können sie das überhaupt, wenn sie nichts anderes kennen und die Alternativen alle feindlich sind und ihnen fürchterliche Angst einjagen? Machen sie sich überhaupt Gedanken über solche Dinge? Sollten sie sich Gedanken machen? Macht sich ein wildes Tier Gedanken über seine Existenz? Wohl kaum. Es existiert einfach, lebt und überlebt. Wenn man noch nie die Möglichkeit hatte, über den Tellerrand zu schauen, wie kann man dann seine Welt in Frage stellen? Selbst als Mensch oder Elb. Wir alle konstruieren uns eine Welt in unseren Köpfen und das auf Grundlage der bisherigen Lebenserfahrung. Das, was wir von der Welt bereits kennen, bestimmt darüber, wie wir sie weiterhin wahrnehmen. Wir sind von Natur aus unfähig, die Welt so wahrzunehmen, wie sie wirklich ist. Und das Blickfeld eines Orks ist von allen mehr oder weniger intelligenten Lebensformen wohl das mit Abstand eingeschränkteste. Mit Ausnahme der Trolle vielleicht.

Nein, ein Ork macht sich keine Gedanken. Er existiert. Nicht mehr, nicht weniger.

Nun erwacht Urod, ein ganz gewöhnlicher Ork unter vielen, nicht einmal etwas wie ein kleiner Hauptmann, aus seinem Schlaf. In Moria gibt es weder Tag noch Nacht. Es ist immer dunkel und die Orks lieben es, denn hier brauchen sie sich nicht vor der bissigen, stacheligen Sonne zu verstecken. Die Höhle, in der Urod und seine Kameraden schlafen, liegt unterhalb von Khazad-dûm. Die Orks haben sie gegraben. Nun liegen sie ganz ungeordnet über-, unter- und nebeneinander als großer, stinkender Haufen, der den ganzen Boden bedeckt. Zwischen ihnen faulen Essensreste.

Nichts Böses ahnend tastet Urod in der Dunkelheit und findet einen Knochen. Er schnüffelt und knabbert daran. Die Fleischreste sind schlecht. Er murrt.

Dann, plötzlich, schleicht sich ein eigenartiges, nervöses Kribbeln durch seinen Magen. Etwas stimmt nicht. Er weiß nicht, was es ist. Aber etwas ist eindeutig anders. An der Umgebung? Nein. An ihm stimmt etwas nicht. Er ist faul.

Zitternd richtet er sich auf und tastet sich aus der Höhle. Draußen brennen Fackeln. Er weiß selbst nicht, wieso er hinausgeht. Hofft er allen Ernstes auf Hilfe?

Er stellt fest, dass er größer geworden ist. Um einiges größer als die anderen Orks. Irgendwie haben sich auch seine Sinne verändert. Er kann nicht behaupten, sie seien besser oder schlechter geworden. Nur ... anders. Seine Schritte sind leiser als je zuvor und das trotz der eisernen Panzerschuhe. Seine Rüstung sitzt nicht richtig.

Er tritt hinaus ins spärliche Fackellicht. Moria-Orks, die in der Dunkelheit besonders gut sehen können, brauchen nicht viel davon. Aus irgendeinem Grund hat er die Höhle verlassen, doch hier wird ihm noch schlechter. Die Fackeln strahlen ihn unbarmherzig an und er schaut an sich herab. Dabei bewegt er seinen Kopf langsam, widerwillig und doch unfähig, sich dem Drang zu widersetzen.

In der Tat, er ist größer geworden. Er ist schlanker. Seine Proportionen sind die eines Menschen oder Elben. Seine Haut kann er im Fackellicht von der Farbe her nicht genau einordnen, aber sie ist hell und glatt. Seine Hände sind lang und eher schmal. Er fühlt, wie die grobe Rüstung ihm ins Fleisch schneidet und die Lumpen darunter seine Haut scheuern.

Er steht da, erstarrt im Stupor, unfähig, sich zu bewegen. Er hat Angst, furchtbare Angst, doch er kann nicht schreien. Er will rennen und kann sich nicht rühren. Zum ersten Mal will er sterben, doch er ist zum Leben verdammt.

Schritte. Er hört Schritte, aber er kann sich immer noch nicht rühren. Nach einigen Sekunden erkennt er das charakteristische Schlurfen seines Hauptmanns. Dieser geht mit einem Trupp Orks den Gang entlang. Sein Name ist Gad und er tut sich unter den ihn umgebenden Orks durch besondere Intelligenz und sogar Weitsicht hervor. Seine Wahrnehmung hat einen wesentlich größeren Horizont als die anderer Orks. Deswegen ist er Hauptmann. Er weiß, wie man andere beherrschen kann. Er weiß, wie man andere steuert und manipuliert. Er weiß, wie er seine Ziele erreichen kann und was er fürchten soll und was nicht.

Es ist nicht gut, wenn er Urod sieht. Wir können nicht vorhersagen, wie er reagieren wird, aber er kann sehr grausam werden. Die Dümmeren mögen vielleicht die brutaleren sein, aber die Klügeren sind dafür stets die grausameren. Weil sie nachdenken, ehe sie zuschlagen. Und Urod hat schon oft gesehen, wie Gad Probleme beseitigt. Er hat Angst. Gerade noch hat er sein Leben verdammt, doch jetzt, im Angesicht einer ernsthaften Gefahr, erwacht in ihm der Überlebensinstinkt und er hat keinen anderen Wunsch als zu leben.

Gerade, als Gad um die Ecke biegt und ihn sieht, erwacht Urod aus seinem Stupor. Sie starren sich an. Auch die Orks, die Gad begleiten, stieren Urod verwundert, verwirrt, ängstlich und hasserfüllt zugleich an. Er weiß, dass sie ihn töten werden. Selbst dann, wenn er sie überzeugen kann, wer er ist.

Soll er trotzdem versuchen, sie zu überzeugen? Doch aus seinem Mund dringt kein Laut. Seine Kehle ist zugeschnürt, sein Körper ist nicht mehr unter seiner Kontrolle. Der Überlebensinstinkt nimmt die Oberhand. Urod wendet sich um und der Instinkt trägt ihn. Die Korridore fliegen an ihm vorbei, er rennt einem imaginären Lichtpunkt entgegen, der sich immer weiter entfernt, je näher er ihm kommt. Er achtet auf nichts und niemanden mehr. Nicht auf die Schreie der anderen Orks, nicht auf die Trommeln, nicht auf die Pfeile, nicht auf den eigenen Schmerz. Es gibt nur ihn und diesen unerreichbaren Lichtpunkt. Alles andere versinkt in Dunkelheit.

Er hat richtig und falsch gehandelt. Richtig, weil Orks schwierigen Angelegenheiten nicht sonderlich gerne auf den Grund gehen und wohl kaum eine Wissenschaft um seine Veränderungen angestellt hätten; wenn etwas faul ist, dann wird es einfach beseitigt. Er hat falsch gehandelt, weil ein wegrennendes Opfer den Angreifer provoziert. Es dauert nicht lange, bis die meisten Orks in Moria hinter ihm her sind. Sie machen Lärm und weitere schließen sich ihnen an.

Sie jagen Urod durch die Halle von Khazad-dûm und dann über die Brücke. Er kennt den Weg und er meistert ihn instinktiv. Er ist umgeben von anderen Orks. Die meisten sind hinter ihm, die anderen nähern sich von vorne und von den Seiten. Doch er nimmt sie nur als Schemen wahr. Er rennt um sein Leben.

Irgendwann stürzt er durch das Tor hinaus ins strahlende Tageslicht. Hier ist er vorerst in Sicherheit. Seine Kräfte lassen nach und er strauchelt. Wie er seine Flucht überlebt hat, wird ihm bis zum Rest seines Lebens ein Rätsel bleiben.

Die Sonne bereitet ihm keine Schmerzen. Sie flutet seinen Körper und legt ihre warmen Arme um ihn. Er kennt dieses Gefühl nicht. Er mag es. Aber er fürchtet sich auch. Jetzt, wo der Überlebensinstinkt seinen Griff allmählich lockert, wird er wieder seiner Andersartigkeit bewusst.

Und er fühlt, wie er stirbt.

Mittlerweile ist er fast eine Meile vom Osttor entfernt und vor ihm liegt das Schattenbachtal. Es ist Sommer. Der Himmel ist blau und kleine, weiße Wölkchen ziehen friedlich dahin. Um den schwarzen Spiegelsee summen und schlummern Pflanzen, deren Namen er nicht kennt. Gras, Sträucher, Bäume, Blumen. Hinter ihm sonnt sich das Nebelgebirge.

Fühlt er etwas? Er fühlt viel und gleichzeitig nichts. Am Ufer des Sees legt er eine Rast ein. Obwohl er weiß, dass es sinnlos ist, schaut er in das Wasser, fühlt dann, wie sein Herz zu einer Bleikugel wird, und lässt sich ins Gras fallen. Der Spiegelsee ist berühmt dafür, dass er nie das Spiegelbild des Betrachters zeigt, sondern nur die Sterne und zwar zu jeder Tageszeit.

Mit leerem Ausdruck blickt Urod hinauf zum Himmel. Als Ork hat er gelernt zu akzeptieren. Alles zu akzeptieren, jede Misshandlung der Vorgesetzten über sich ergehen zu lassen. Hätte er es nicht gelernt, wäre er vermutlich längst tot. Körperliche Leiden machen Urod nicht viel aus. Doch nun hat er es mit einem Schmerz zu tun, der jenseits all seiner bisherigen Vorstellungen liegt. Einem Schmerz, den kaum ein Ork jemals fühlt. Dem Schmerz eines Wesens, das aus seiner Welt geschleudert wurde, das jenseits von allem existiert, das es kennt. Dem Schmerz eines Wesens, das nicht weiß, was es ist. Dem Schmerz eines Wesens, das sich vor sich selbst ekelt. Dem Schmerz eines Wesens ohne Heimat.

Urod fühlt eine fremdartige Flüssigkeit in seinen Augen aufsteigen. Durch seine Arme und Beine zucken Krämpfe und seine Zähne schlagen aneinander. Der Stress beginnt sich zu entladen. Doch er ignoriert das. Der Schüttelfrost gehört der Vergangenheit an. Wenn er vorübergeht, dann wird von Urod nichts mehr übrig bleiben. Bis auf ...

'Wenn sterben, dann endgültig', beschließt er und staunt für einen kurzen Moment über seinen eigenen Gedanken. Dann richtet er sich auf und zerrt sich Rüstung und Lumpen vom Leib. Er fühlt sich, als hätte er sich gerade von etwas Schwerem befreit, von einer fremden Macht, die ihn seit Urzeiten in ihren Fesseln gehalten hatte.

Er hatte diese Fesseln geliebt. Er hatte sie nie in Frage gestellt. Sie waren seine Heimat gewesen. Ohne sie ist er ein Nichts. Eine leere Existenz, ein undefiniertes Objekt, ein Fremdkörper in seiner eigenen Welt.

Am Ufer des Spiegelsees steht Urod, ein Ork, der kein Ork ist. Eine namenlose Missgeburt. Er steht aufrecht da und lässt sich vom Licht durchfluten.


Making of:

Den Namen Urod habe ich aus dem Russischen erschaffen. Das Wort urod wird auf dem O betont und bedeutet - dreimal dürft ihr raten - so viel wie "Missgeburt", womit es zum Schimpfwortvokabular gehört und ich daher vom Gebrauch dieses Wortes abrate. Damit Urod als Name in meinen Ohren nicht so krass klingt, verlagere ich die Betonung hier auf das U.

Der Name Gad hat übrigens die gleiche Entstehungsgeschichte. Ein gad ist jemand, der gadit, also Scheiße produziert bzw. etwas verdirbt. Ich würde das Wort am ehesten als "Arschloch" übersetzen.


Ich hoffe natürlich, dass das erste Kapitel euch gefallen hat. Wenn ihr etwas kritisieren möchtet - nur der damit! Über Lob freue ich mich selbstverständlich aber auch.

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