Arda Fanfiction

Das neue Archiv für Geschichten rund um Tolkiens fabelhafte Welt!

Zeit der Unschuld

von S. Dorer

Chapter #1

„Fang mich! Fang mich! Du kriegst mich ja doch nicht!“

„Und ob ich dich kriege, warte nur!“ Kreischend und lachend stoben zwei Knaben unter den blühenden Zweigen des Apfelbaumes hindurch, so dass die Vögel, die darauf hockten, um ihren fröhlichen Gesang zum Besten zu geben, erschrocken aufflogen.

„Gleich hab’ ich dich!“ keuchte der letztere der beiden und versuchte den anderen mit dem ausgestreckten Arm an der Tunika zu packen. Doch dieser schlug geschickt einen Haken und entkam ein weiteres Mal.

Die goldenen Strahlen der Sonne ließen das saftige Grün der Blätter und die Blüten der zahlreichen Blumen in dem verwunschenen Garten leuchten. Die Luft war schwer vom süßen Duft des Flieders und den aufspringenden Knospen der Obstbäume, aus der Ferne war das Rauschen des Ozeans zu hören, dessen salziger Geruch in dem blühenden Garten kaum zu spüren war. Das Leben erschien so leicht und unbeschwert an diesem verträumten Ort.

Etwas verborgen hinter einer efeuumrankten Säule des Hauses beobachtete ein Mann das fröhliche Spiel der Kinder. Einer aus dem Volk der Erstgeborenen, wie es auf den ersten Blick schien, eine hoheitsvolle Erscheinung, groß gewachsen, sein edles Gesicht umrahmt von hellem Haar, das in kunstvollen Flechten aus der Stirn gehalten wurde. Ein schmaler goldener Reif schmückte sein Haupt - ein Fürst seines Volkes, dem die Verbundenheit zum Meer in den gebräunten Zügen abzulesen war. Doch auch etwas Besonderes lag in diesen Zügen, etwas, das ihn von anderen Elben unterschied...

Ein Lächeln glitt über sein Gesicht, als er dem glücklichen Jauchzen der Kinder lauschte. Innerlich pries er den Frieden, der ihnen in den letzten Jahren geschenkt worden war, und doch umwölkten Sorgen seine Stirn, denn dieser Friede beschränkte sich nur auf diese kleine Enklave hier an den Mündungen des Sirion ... und er würde nicht mehr lange dauern.

Jungen Hunden gleich balgten die Knaben sich auf dem Rasen, kugelten lachend übereinander und vertrieben für einen Moment den Schatten auf ihres Vaters Gesicht.

„Ich bin stärker als du!“ triumphierte schließlich der eine mit heller Stimme, während er den anderen unter sich festhielt.

„Aber ich bin schneller!“ Mit einer schnellen Drehung befreite sich dieser aus der Umklammerung seines Bruders, sprang auf und rannte erneut davon, der zweite ihm dicht auf den Fersen. In ihrem Übermut achteten sie nicht auf Blumen und Büsche und als der Voranlaufende sich durch ein dichtes Gewirr aus Brombeerzweigen zwängen wollte, war plötzlich ein hässlicher Laut von reißendem Stoff zu hören.

„Oh!“ Abrupt blieb er stehen und starrte entsetzt auf den langen Riss in seiner grünen, zierlich bestickten Tunika.

„Oh nein! Deine neue Tunika!“ Sein Bruder war hinzugekommen, umsichtig den spitzen Dornen der Brombeeren ausweichend, und fuhr mit seinen kleinen Fingern, denen das unbeschwerte Spiel des Nachmittags anzusehen war, über den zerrissenen Stoff. „Nana wird schrecklich schimpfen, wenn sie das sieht!“

Der kleine Missetäter brummte unwillig. „Warum müssen diese Brombeeren auch Dornen haben? Ich wünsche es nicht!“ sagte er wütend und stampfte mit dem Fuß auf. Doch ebenso schnell hellte sich sein düsteres Gesicht wieder auf. Mit der Hand wies er auf die Wiese, wo im lichten Schatten eines Baumes zahlreiche Niphredil und andere Blumen sich dicht nebeneinander drängten, um die wenigen durchscheinenden Sonnenstrahlen aufzufangen. „Komm! Wir pflücken Nana ein paar Blumen, das freut sie und sie wird sicher nicht mehr verstimmt über meine Tunika!“

Und schon flog er auf flinken kleinen Beinen wieder davon. Mit einem kurzen Schulterzucken folgte sein Bruder ihm. „Warte!“

Schon baumelten die ersten Blütenköpfe in beglückten Kinderfäusten. „Sieh nur, Niphredil! Wie sie leuchten!“

„Und wie sie duften!“

„Hier sind so viele, und dort, und da drüben, Nana wird sich freuen!“ Lachend und die ruinierte Tunika vergessend steckten beide ihre Nasen in die Blüten und pflückten in überschäumender Freude die zarten Stängel der herrlichen Blumen. Doch in ihrer Begeisterung hatten sie das Herannahen ihres Vaters nicht bemerkt.

„Elros und Elrond!“ Beim vorwurfsvollen Klang der strengen Stimme schossen zwei kleine dunkle Köpfe mit zerzausten Haaren und von Blütenstaub und feuchter Muttererde verschmierten Gesichtern in die Höhe. Zwei Paar grauer Augen blickten erschrocken auf ihren Vater, der, die Hände empört in die Hüften gestemmt, am Rande der Blumenwiese stand. Er war Earendil, der Sohn von Idril Celebrindal und Tuor aus dem sagenumwobenen Gondolin.

„Nun seht, was ihr angerichtet habt! Die schönen Blumen eurer Mutter rücksichtslos niedergetrampelt. Sie wird ungehalten sein mit euch. Kommt her, alle beide!“

Die Augen betreten auf den Boden geheftet, die kleinen Fäuste noch immer voller Blumen, traten die zwei Unholde zögernd zu Earendil. Heimlich tastete eine kleine Hand nach der anderen, um die zu erwartende Zurückweisung nicht allein ertragen zu müssen. Schuldbewusst blieben die Kinder schließlich vor ihrem Vater stehen.

„Also? Was habt ihr euch dabei gedacht?“ Trotz der Strenge in seiner Stimme konnte Earendil sich kaum des unschuldigen Zaubers seiner fünfjährigen Zwillinge erwehren, doch noch wollte er nicht nachgeben und ihr Gewissen zu schnell erleichtern.

„Wir ... ich wollte Nana Blumen bringen!“ Die zerrissene Tunika war vergessen, mit leuchtenden Augen sah Elros zu seinem Vater auf. „Sie liebt Niphredil doch so sehr und...“

„...und da seid ihr nicht auf die Idee gekommen, dass sie traurig sein könnte, über die vielen niedergetretenen und zerstörten Blumen, für einige wenige, die eine kurze Zeit in der Vase nur überdauern? Habe ich euch nicht gelehrt, die Schätze Yavannas zu achten, ihre Schönheit dort zu erkennen, wo sie entsteht?“

„Ja, Ada“, kam es leise von beiden wie aus einem Mund.

„Und nun? Ah, Elros!“ Erst in diesem Moment bemerkte er das zerrissene Hemd seines Sohnes. „Schon wieder ein Hemd...?“ Das Kind versuchte ungeschickt, den Riss zu verbergen, aber Earendils Ärger war lange verflogen und er strich liebvoll über Elros’ Haar, in dem sich Blätter und Gräser verfangen hatten.

„Du Wildfang“, seufzte er. „Was soll nur aus dir werden, wenn du nicht einmal auf deine Kleidung achten kannst? Und du, Elrond?“

Ernste graue Augen sahen ihn an. „Ich ... ich habe ihn gejagt, Ada, deswegen musste er ausweichen ... und ... und die Brombeeren haben so viele Dornen, er kann doch nichts dafür!“

Ein Lächeln tiefer Rührung glitt über Earendils Gesicht. Seine wundervollen Söhne! Der eine so temperamentvoll und begeisterungsfähig, der andere ernsthaft und verantwortungsvoll – wie konnte er ihnen gram sein, wenn sie in aller Unschuld und Freude und Übermut spielten und sich amüsierten? Die Zeiten waren hart genug, ein unbeschwertes Dasein kaum noch möglich angesichts der dräuenden Gefahren. Viel zu dankbar war er, dass die Kleinen von den Sorgen ihrer Eltern noch nichts mitbekamen und nahezu unbelastet aufwuchsen. Zumindest hoffte er dies, wenngleich er hin und wieder zu erkennen vermeinte, dass vor allem Elrond bereits viel von den Bedrohungen wahrnahm. Häufig wachte er nachts auf und kam zu seinen Eltern, unruhig, weinend manches Mal, doch ohne erklären zu können, was ihn aufgestört hatte. Er würde die Kinder nicht mehr lange in ihrer Unbeschwertheit belassen können...

Er zog die beiden in seine Arme, einer links, einer rechts, und drückte sie zärtlich an sich. Innerlich seufzte er. Er musste die Valar finden! So bald wie möglich, sonst würde es kein Entrinnen vor der Dunkelheit mehr geben und seine Söhne ... Energisch schob er den Gedanken beiseite.

„Jetzt zeigt mal her, was ihr gepflückt habt.“

Zwei kleine Fäuste leerten ihre Schätze in die ausgestreckten Hände des Vaters.

„Wird Nana sehr schimpfen, Ada?“ fragte Elrond leise und begann unsicher, die Blätter aus seinem Haar zu zupfen.

„Sie wird sicher ein wenig traurig sein über euren Ungestüm, aber wir binden ihr jetzt einen schönen Strauß und ihr beide“ – damit setzte er wieder eine gestrenge Miene auf – „geht hoch zu Tinelle und lasst euch baden und ankleiden – oh doch!“ mahnte er, als er in zwei empört ablehnende Gesichter blickte. „Und zwar sofort! Gewaschen, gekämmt und ordentlich gewandet könnt ihr eurer Nana nachher zum Abendessen die Niphredil übergeben.“

Froh, weiteren Zurechtweisungen zu entrinnen, rannten die Zwillinge, schon wieder lachend und scherzend davon. Schmunzelnd sah Earendil ihnen nach. Dann nahm er vorsichtig die Blumen und wandte sich ebenfalls zum Haus zurück.



Schimpf nicht mit ihnen! Sie haben es gut gemeint!

Er stand hinter ihr und hatte ihr die Hände auf die Schultern gelegt. Ihr dunkles, in kunstvollen Flechten geordnetes Haar verströmte einen warmen Duft nach Geborgenheit und Harmonie und er wünschte sich inständig, sie nicht so bald schon wieder verlassen zu müssen. Kurz schloss er die Augen und atmete diesen Duft tief ein. Elwing! Doch was zählten seine eigenen Bedürfnisse angesichts der Aufgabe, die er zu erfüllen hatte?

Im Kamin des behaglichen privaten Gemachs flackerte ein Feuer, denn die Abende waren noch kühl, wenn der Wind vom Meer hereinwehte. Elwing wusste, dass er mit den Gedanken bereits wieder auf See war und spürte doch seine Zerrissenheit, denn auch sie wurde von Ahnungen und Ängsten gequält...

Doch der heutige Abend gehörte nur ihnen und den Kindern. Die Diener hatten ein vorzügliches Abendessen bereitet und sie hatte den edelsten Wein heraufholen lassen. Soeben wurden zwei blitzsaubere Knaben mit jeweils einem kleinen silbernen Stirnreif auf den sorgfältig frisierten Häuptern von Tinelle, ihrem Kindermädchen, zur Tür herein geschoben. Jeder hielt einen kleinen Strauß der hübschen Niphredil in der Hand und beide harrten nun ängstlich der Reaktion ihrer Mutter, als die Tür sich hinter ihnen schloss.

Der Anblick ihrer zwei süßen, unschuldigen Kinder berührte ihr Herz so sehr, dass Elwing es nicht über sich brachte, mit ihnen zu schimpfen. Stattdessen breitete sie lachend die Arme aus und beide stürzten sich erleichtert hinein.

„Doch morgen werdet ihr beide dem Gärtner helfen, den Schaden zu beheben!“ mahnte sie liebevoll.

„Ja, Nana!“ Elrond schmiegte sich in ihren Arm, während Elros bereits wieder mit Feuereifer seinen Vater bestürmte.

„Ada! Erzählst du uns heute Abend eine Geschichte? Eine aus Gondolin, wo du geboren wurdest! Und von König Turgon!“

„Nein, von den Valar, Ada, und von der Musik! Wie Ea entstanden ist, und die Elben in Cuiviénen erwachten!“ stimmte Elrond mit ein.

„Natürlich, ion-nîn. Doch nun lasst uns erst essen! Danach wird erzählt!“



Er liebte diese ruhigen und harmonischen Stunden, die er mit seiner Familie ganz allein verbringen konnte. Und auch heute Abend hatte er Anweisungen gegeben, dass sie nicht zu stören seien. Amüsiert lauschte er zunächst dem munteren Schwatzen der Zwillinge, die wie immer atemlos über die Erlebnisse ihres Tages berichteten, um dann wieder über seine eigenen Gedanken zu brüten. Er würde sich morgen zu den Häfen begeben, um nach seinem Schiff, Vingilot, der Schaumblüte zu sehen. Aerandir überwachte die Ausbesserungsarbeiten, die nach dem letzten Sturm, den er und seine Gefährten nur knapp überstanden hatten, notwendig geworden waren. Für die kommende Fahrt hatte er noch einmal die Segel verstärken lassen, die Takelage war erneuert worden ... Als er einen Blick Elwings bemerkte, schob er diese Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf seine Kinder.

„...und er hatte ein ganz großes Schwert in der Hand, sooo groß!“ Elros breitete die Arme aus, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.

„Aber es war nur aus Holz! Und nur zum Üben!“ verbesserte ihn sein Bruder.

„Aber er hat gesiegt! Falathar ist zu Boden gegangen. Wenn ich größer bin, kämpfe ich auch mit dem Schwert gegen ihn, und dann werde ich siegen.“ Hoch zufrieden mit diesen Aussichten nahm Elros sich eine zweite Portion der Honig-Haselnuss-Pastete und achtete nicht auf den Blickwechsel seiner Eltern.

„Habt ihr euch also wieder zum Übungsplatz davongeschlichen, ihr zwei?“ fragte Earendil mit hochgezogenen Augenbrauen. „Und Tinelle?“

Die zwei Kleinen sahen einander an und kicherten verschwörerisch, äußerten sich aber nicht weiter. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihrem Kindermädchen entwischt waren und auch wenn ihre Eltern sie noch für zu jung hielten, sahen sie am liebsten bei den Waffenübungen der erwachsenen Krieger zu.

„Ada“, sagte Elrond schließlich mit einiger Ungeduld in der kindlichen Stimme. „Wann erlaubst du uns endlich, wenigstens den Kampf mit dem Messer zu lernen?“

Elwing zuckte kaum merklich zusammen. Sie sind gerade einmal fünf Jahre alt! durchfuhr es sie. Meine Kleinen ... sie sollten spielen und lachen und Dummheiten machen...! Doch sie wusste ebenso gut wie ihr Gemahl, dass es leichtsinnig wäre, die Gefahren, in denen sie lebten, zu missachten, ihnen nicht wenigstens eine noch so winzige Chance der Verteidigung zu bieten. Sanft legte sie ihre Hand auf die ihres Gemahls.

Wir können es ihnen nicht länger verwehren, die Gefahren nicht länger verbergen, hervenn nîn! Vor allem Elrond spürt, dass diese friedlichen Tage voller Sonnenschein ihre Schatten zu werfen beginnen. Erzähl ihnen die Wahrheit! Und lass sie lernen...

Earendil nickte ernst und in Gedanken. Schließlich schob er bedächtig seinen Stuhl zurück und erhob sich langsam, in dem bitteren Wissen, seinen Söhnen ein Teil ihrer Unbekümmertheit nehmen zu müssen.

„Kommt, ion-nîn, kommt mit hinüber zum Kamin. Dort machen wir es uns auf den Kissen bequem und ich erzähle euch etwas.“

„Oh ja!“ Elrond klatschte begeistert in die Hände. „Von den Valar!“

„Nein“, sagte Earendil leise, ließ sich auf die Bodenkissen nahe dem warmen Feuer nieder und zog seine Söhne an seine Seite. „Heute einmal nicht von den Valar, Elrond. Ich werde euch stattdessen von eurer Familie erzählen, damit ihr versteht, wer ihr seid.“

„Aber das wissen wir doch -“ Als er jedoch das ernste, fast traurige Gesicht seines Vaters sah, brach Elros erstaunt ab. Offenbar sollte ihnen etwas Besonderes mitgeteilt werden. Also kuschelte er sich erwartungsvoll an seinen Vater, während Elrond sich an Elwing lehnte, die sich zu ihnen gesetzt hatte, und alle drei warteten gespannt darauf, dass Earendil mit seiner Erzählung begann.

Dieser sah einen Moment stumm vor sich hin, bevor er tief Luft holte und sagte:

„Ich habe euch von König Turgon erzählt, von der Verborgenen Stadt Gondolin, in der meine Eltern lebten – eure Großeltern –, in der ich geboren wurde und die es heute nicht mehr gibt. Aber nun sollt ihr die ganzen Zusammenhänge erfahren.“

Und weit holte Earendil aus, um seinen Söhnen die tragische Geschichte der Noldor zu erläutern, die mit dem Schicksal seiner Heimat, der Verborgenen Stadt in den Echoriath, den Umzingelnden Bergen, aufs Engste verbunden war, denn nur wenig wussten sie über die wechselvolle Geschichte der Elben und die düsteren Bestrebungen Morgoths, der auch Gondolin schließlich zerstört hatte.

„Und so floh der Rest der Gondolindrim unter Tuors Führung durch den geheimen Gang über die Berge bis in das Tal des Sirion und nach Nan-tathren, das Land der Weiden. Dort begann die Liebe zum Meer mein Herz zu berühren, denn mein Vater Tuor sang mir von Ulmo, dem Herrn der Wasser und König des Meeres, der ihn einst nach Gondolin gesandt hatte. Und hier in Arvernien liegt noch immer Ulmos schützende Hand über uns...“ Er hielt inne, noch immer voll der Eindrücke, die seine frühe Kindheit bestimmt hatten und ihre Nachwirkungen bis heute zeigten. Der Seefahrer, so wurde er genannt, und seine stete Unruhe, die ihn die Küsten Endors erforschen ließ, trieb ihn schließlich weiter auf der Suche nach seinen Eltern Idril und Tuor über das weite Meer und der Wunsch, den Äußersten Westen zu finden und die Hilfe und Vergebung der Valar zu erbitten.

Die Kinder waren stumm geblieben, hatten gebannt den Worten ihres Vaters gelauscht und harrten nun darauf, dass er fortfuhr. Elwing hatte die Arme um ihren jüngsten Sohn gelegt und betrachtete ihren Gemahl, denn sie verstand, wie ihm zumute war: seine Unruhe hatte nicht nachgelassen und sehr bald würde er wieder aufbrechen, um zu finden, was er suchte. Als er ihre gedankliche Berührung verspürte, blickte er auf und sah in ihre warmen grauen Augen.

„Auch ich war ein Flüchtling“, fuhr sie an seiner statt leise fort und zog Elrond ein weniger näher zu sich. „Kurz bevor euer Vater Arvernien erreichte, waren wir aus Doriath, dem einst glanzvollen Reich meines Volkes in den Wäldern von Neldoreth und Region geflohen ... zerstört von den Söhnen Feanors, die rücksichtslos ihrem Unheil bringenden Eid folgten.“

Erinnerungen flammten in Elwing auf an die tief verborgene Schönheit des Waldes, die verbliebnen Teile Menegroths, doch zu schmerzlich waren diese Bilder ... keiner ihrer Familie hatte überlebt ... sie war als einzige geflohen, mit einem schweren Erbe...

„Warum, Nana? Warum haben sie Doriath zerstört?“ Elronds Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Furcht lag darin, die Bemühung, etwas zu verstehen, was über die Welt eines Fünfjährigen weit hinausging. Und Elwing erzählte ihnen von Valinor, von dem Licht der Zwei Bäume und wie Feanor mit seiner großen Kunstfertigkeit es fertig gebracht hatte, ihr Licht nach ihrer Zerstörung durch Ungolianth in den Silmarilli einzufangen. Sie erzählte von dem unseligen Eid der Söhne Feanors, dem Fall der Noldor und den darauf folgenden Geschehnissen in Endor und ihre Trauer darüber erschütterte auch ihre Kinder. Die Geschichte um Lúthien und Beren war den Jungen zwar bekannt, aber die Zusammenhänge waren ihnen neu und mit großen Augen vernahmen sie, dass jener Silmaril, den Beren aus der Krone Morgoths gebrochen hatte, sich noch immer im Besitz ihrer Mutter befand.

„Das Nauglamir...“, flüsterte Elwing. „Sie wissen jetzt, dass ich überlebte und das Nauglamir mit mir! Und sie werden es fordern...“

„Aber ... es gehört ihnen doch nicht!“ hub Elros erbost an und sah hilfesuchend zu seinem Vater.

„Doch ihr Eid bindet sie, Elros, und sie fühlen sich diesem Eid tiefer verpflichtet als dem Frieden innerhalb des Volkes der Eldar. Das sind die Folgen des Schattens ... der Einflüsterungen Morgoth’s...“ Ein Schauder durchlief ihn: zwei Sippenmorde unter Elben um den berühmtesten und schönsten aller Edelsteine hatte es bereits gegeben...

Dumpfes Schweigen war eingetreten und nur das Knistern des Feuers im Kamin war zu hören. Die Kinder hatten sich eng an ihre Eltern geschmiegt und versuchten das Gehörte zu verarbeiten, eine Vergangenheit, die so jäh ihre goldene, unbeschwerte Kindheit beendete. Schließlich war es Elros, der die Stille durchbrach, während sein Bruder noch immer mit gerunzelter Stirn vor sich hinstarrte.

„Ada?“

„Hm?“ Earendil blinzelte und kehrte aus tiefen Gedanken in die Behaglichkeit des Gemachs zurück. Elros wartete, bis er sicher sein konnte, die volle Aufmerksamkeit seines Vaters zu besitzen.

„Vielleicht sollten wir doch lernen, wie Krieger mit dem Messer zu kämpfen...?“ Der unschuldige Ernst des Kindes, das nach einer einfachen Lösung suchte und das doch zu verstehen begann, rührte und schmerzte ihn zugleich. Mit einem Lächeln zog er Elros auf seinen Schoß und sagte seufzend:

„Ja, tithen-nîn, du hast Recht. Ab morgen sollt ihr auf den Übungsplatz dürfen und bei Túro den Umgang mit dem Messer erlernen.“

Denselben Schmerz, den er bei diesen Worten empfand, erkannte er bei Elwing. Auch ihrer beider Kindheit war kurz gewesen, zu kurz für unbekümmertes, übermütiges Spiel innerhalb eines behüteten Friedens und so sehr hatten sie gehofft, ihren Kindern eine lange und sorglose Kindheit bieten zu können. Doch ihre Hoffnungen waren nur zu bald betrogen worden.

Er betrachtete Elrond, der noch immer konzentriert die Stirn kraus zog und offenbar versuchte, sich über etwas klarzuwerden. Oft war er so anzutreffen, wenn ihn eine Frage beschäftigte und meist äußerte er sich erst dann, wenn er zu einem Ergebnis gekommen war, doch nun schien er besonders verwirrt.

„Elrond?“ Abrupt hob das Kind seinen Kopf und begegnete dem fragenden Blick seines Vaters. „Worüber denkst du nach? Willst du es mir erzählen?“

Elrond zögerte, suchte nach Worten, um zu erfragen, was er nicht verstand. „Ada, werden sie herkommen und sich das Nauglamir holen?“

Earendil zögerte, während Elrond geduldig seiner Antwort harrte.

„Ich ... weiß es nicht, Elrond.“ Elbereth! Hoffentlich blieb ihm die Zeit, die Valar zu finden!

„Warum bringen wir es dann nicht fort? Wo es sicher ist?“

Earendil seufzte tief auf und sah schließlich seinem Sohn offen in die Augen. „Das Nauglamir, dieser eine Silmaril hat die Geschicke der Familie eurer Mutter bestimmt, wieviel Leid ist daraus entstanden! Es fortzubringen, würde bedeuten, sie alle zu betrügen und sich vor dem wahnsinnigen Eid der Söhne Feanors zu beugen. Der Silmaril ist die letzte Erinnerung an das Licht der Zwei Bäume in Valinor. Seit langem versuche ich, dieses Land zu finden, doch es liegt verborgen und ist mit Zauber umgeben und noch immer lastet der Fluch Mandos’ auf den Noldor. Doch Elben und Menschen brauchen die Hilfe der Valar gegen den Schatten Morgoths, sonst ist Endor verloren. Mein Vater Tuor war aus dem Volk der Menschen, meine Mutter Idril entstammte den Elben – ich vereine beide Völker in meinem Blut und so ist es meine Aufgabe, die Valar zu finden und ihre Besinnung auf uns hier in Endor wieder zu wecken und ihre Vergebung zu erlangen.“

Es war dunkel geworden in den Stunden, die Eltern und Kinder vor dem Kamin gesessen und den Erzählungen der eigenen Vergangenheit gelauscht hatten. Die Zwillinge waren müde, erschöpft und verwirrt von dem, was sie über sich selbst und ihre Familie, ihre Völker erfahren hatten, und doch harrten sie aus in der tröstenden und geborgenen Nähe der Eltern, mit der noch nicht greifbaren Ahnung, dass ihr Leben bald eine gewaltige Änderung erfahren würde.

Es sollte das letzte Mal sein, dass Earendil und Elwing und ihre Söhne Elros und Elrond das wertvolle Glück einer heilen Familie teilten...
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