Arda Fanfiction

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Kind des traurigen Wassers

von illyria-pffyffin

Kapitel #1

Die See nannten wir sie, diese riesige, grünlich-braune Wasserfläche, die unsere Lebensader war. Wir lebten an ihren Ufern – schmutzige, felsige Streifen Land, übersät von einem Wirrwarr von Landungsstegen und Mühlen und klapprigen Wasserrädern, die knarrten, während sie schlammiges Wasser in die Kanäle spritzten, die unsere kleinen Kornfelder, unsere kleine Obstplantagen und Gärten tränkten. Wir ruderten unsere Einbäume und unsere leckenden Flöße von einer Seite der See zur anderen, warfen geflickte Netze aus und Schilfkörbe, um Muscheln und den silberstreifigen, schwarzen Fisch einzusammeln, der im Wasser gedieh. Wir badeten am Ende des heißen, erschöpfenden Tages darin, während die Sonne, die langsam in den rötlichgrauen Dunst im Westen hinab tauchte, dem Wasser die Farbe von Ton verlieh, gesprenkelt mit dem Rot und Grün feiner Wassergräser. Vier Ströme ergossen sich hinein, flach von zahlreichen Erdrutschen. Unsere Ziegen tranken daraus, unsere Maultiere und Hunde... und an den stilleren, weniger bevölkerten Abschnitten der Küste stillten kleine sandfarbene Füchse ihren Durst, wachsame, grau gefleckte Hasen, versteckt hinter Binsen und Rohrkolben, braun gesprenkelte Fasane mit ihren Küken und langbeinige Vögel, die sich nur aufhielten, um ihre gebogenen Schnäbel in das Wasser zu tauchen, ehe sie ihre schwarzweißen Flügel weit ausbreiteten und sich mit rascher, herzzerreißender Anmut in die Luft erhoben.

In manchen Jahren blieb der Regen aus, und die See ermattete und schrumpfte zu einem großen, suppigen Tümpel, ihre Ufer brüchige Halskrausen aus toten Flechten, schmutzigem Grün und Dürre. In manchen Jahren, wenn der Regen in schonungslosen Niederschlägen herabstürzte und rotbraunes Wasser, schlammig von weg gespülter Erde, durch tief ausgewaschene Gräben die Berghänge hinab brüllte, verwandelte die See ihre Ufer in Sümpfe. Trümmer und Stücke unserer Hütten trieben in Strömung und Strudeln, und die aufgedunsenen Kadaver toter Tiere verfingen sich darin. Unsere Pflanzen ertranken in schwarzem Schlamm und braunem Wasser. Wir flüchteten in die kleinen Hügel im Norden und drängten uns geduldig und nass aneinander, bis die Wut der See nachließ und es an uns war, die Trümmer fort zu räumen und von vorne anzufangen. Manchmal, wenn wir nach Muscheln, Krabben, Aal und Fisch tauchten, unsere einzige Speise nach der Sintflut, dann fanden wir aufgeblähte Leichen mit zerfaserter Haut und Fleisch, in Wrackteilen unter Wasser gefangen. Manchmal wurde eine Hand ans Ufer gespült, manchmal ein Kopf, die Züge nicht länger menschlich. Aber noch immer kämpften wir um das Recht, unserer Hütten so nah an der See aufzubauen wie möglich; wir umarmten ihre Macht und ihre Reichtümer, ihre Gefahr und ihren Trost mit hungriger Gier.

Zu manchen Zeiten flossen blutig rote Abwässer, bleifarbener Schlamm oder schwarze Brühe, durchsetzt mit unbekannten Klumpen, von den toten, westlichen Bänken herab; sie stanken, dampften und zischten, während sie die Felsen überspülten. Dann schossen Fische an die Oberfläche; ihre Mäuler öffneten und schlossen sich krampfhaft, und am nächsten Morgen fanden wir sie zu Tausenden tot dahintreiben, die Kiemen grau und schleimig. Der Geruch ihrer faulenden Leiber waberte durch das Dorf, sickerte durch die dünnen Wände unserer Hütten, hing in unseren Schilfmatten und in unseren zerfetzten Ledertüren. Das üble Wasser schwärzte die Gräben; es ließ die Bohnen und Flaschenkürbisse in unseren Gärten welken und verfärbte ihre Blätter gelb, kränklich braun und rostrot. Es gab Hunger, Seuchen, Zwietracht und Tode. Dann vergingen die Monate, manchmal sogar ein Jahr, und die See heilte langsam. Die, die das Gift überlebt hatten, begannen damit, aufzuräumen und wieder aufzubauen. Kinder planschten wieder in den Untiefen, Frauen paddelten wieder in ihren Kanus und warfen wieder ihre Körbe aus, und die Männer teilten ihre Grundstücke auf und pflanzten neu an. Stets kehrten wir zu der See zurück, unserer Wiege, unserem Grab... mit dem hilflosen, gläubigen Verehrung eines Kindes für seine Mutter.

*****

Mein Großvater wurde im Westen geboren, jenseits der Berge. Man gab ihn zu dem Kapitän eines kleinen Frachters in die Lehre, als er erst zehn war. Fünf Monate später fiel das Schiff den Korsaren in die Hände, die die Ladung verlosten und jeden körperlich fähigen Mann an die Sklaventreiber verkauften. Keine sechs Monate, nachdem er die Küsten seiner Heimat in Dol Amroth verlassen hatte, fand sich mein Großvater als Arbeiter auf den Feldern wieder, die die See umgaben.

Er hatte nie versucht zu fliehen, denn die Bestrafung für flüchtige Sklaven war schlimmer als der Tod. Er dachte wohl daran, sich das Leben zu nehmen, mehr als einmal, aber dann erinnerte er sich stets an das Schwert seines Vaters. Es hing an der vorderen Wand im Heim seiner Kindheit, vom Alter abgenutzt, hoch geachtet. Vorwurfsvoll. „Hauptmann Thorongil höchstpersönlich hat ihn mir gegeben,“ pflegte seine Mutter ihm zu erzählen, „und er hat den Heldenmut und die Treue deines Vaters gepriesen. Dein Vater, sagte er, kämpfte immer weiter, selbst als er zu Boden geworfen wurde und die Pferde über ihn hinweg trampelten.“

Und so hielt die Vision dieses Schwertes ihn davon ab, zu verzweifeln. Er fand sich mit den Fußfesseln, den Ketten und den Peitschen ab, die ebenso sehr ein Teil unseres Lebens waren wie Land und Wasser, und zu gegebener Zeit lernte er meine Großmutter kennen. Sie hatten sechs Kinder, doch nur mein Vater überlebte das erste Jahr. Mein Großvater ertrug den Verlust seiner Zukunft ebenso schicksalsergeben wie den Verlust seiner Vergangenheit. Ich erinnere mich, auf welche Weise ich an ihn dachte: ein hagerer, grimmiger, dunkler Mann, den Rücken schwer verkrümmt, ein Mann, der nie viel sprach, ein geschlagener, beraubter Mann, so grau und so still, dass er genauso gut ein Geist sein mochte.

Dann fiel er eines Tages die Steinstufen des Lagerhauses hinunter, während er einen schweren Korb mit Wurzelknollen schleppte, und brach sich das Bein. Wir trugen ihn nach Hause und ließen einen Heiler nach ihm sehen; wir gaben ihm unser gesamtes Essen, aber wir wussten, dass er am nächsten Tag tot sein würde, wenn nicht durch seine Verletzung, so doch aus Schwäche. Die Aufseher gingen jeden Morgen, nachdem all zur Arbeit abgezogen waren, von Hütte zu Hütte. Sie hatten für die Elenden und Kranken kein Mitleid übrig. Allzu oft kam eine Familie von den Feldern zurück und stellte fest, dass ein Älterer, ein Kind oder eine schwangere Frau, die zu elend oder zu krank gewesen waren, um zu arbeiten, aus ihren Hütten fehlten. Niemand redete darüber, aber wir wussten von alten Leuten, die während der Nacht davon schlüpften, von größeren Kindern, die mit offenen Augen auf ihren Matten lagen und dem Seufzen des Wassers lauschten; sie fragten sich, ob sie wohl imstande wären, das letzte, panische Platschen zu hören, das davon kündete, wie das Leben ihrer Eltern verlosch. Sie fragten sich, ob sie den Verlust betrauern oder froh sein sollten über die Erlösung.

Also begriff ich selbst nicht, was mich dazu bewegte, mich in jener dunklen, nebligen Morgendämmerung seiner Matte zu nähern und ihm zu sagen, dass er mit mir auf die Weide kommen würde. Er seufzte, drehte sein Gesicht zur Wand und sagte nichts. Vielleicht belauschte er den geflüsterten Zank zwischen mir und meiner Mutter, als ich zusätzlich Trockenfisch und Brot für den kommenden Tag einwickelte, zwei weitere Wasserschläuche einpackte und eine Schlinge aus einem kostbaren Stück zerlumpter Decke knotete. Aber sie saß nur schweigend in der Dunkelheit, als ich meinen Großvater wortlos in die Schlinge manövrierte. Noch immer versuchte er, meine Anstrengungen zu vereiteln, in dem er sich insgesamt weigerte, mitzuhelfen. Aber er war schwach und hatte Schmerzen, und zusammen gingen wir in den kalten Morgen hinaus, dorthin, wo meine Tiere eingepfercht waren.

Ich erkaufte meinem Großvater zwei Wochen zusätzlicher Zeit. Seine Wunde eiterte, und er wurde Tag für Tag schwächer. Aber am Anfang, als sein Geist trotz der Schmerzen noch klar war, flüsterte er mir eine Geschichte ins Ohr, während wir die vertrauten Pfade zu den Hügeln entlang trotteten, und auf dem Heimweg erzählte er mir eine weitere. Später, als sein Fieber den Höhepunkt erreichte und seine Sprache immer unregelmäßiger wurde, murmelte er Lied- und Gesprächsfetzen, einen fremden Namen, ein fremdes Wort; ich saß neben ihm und wischte ihm die heiße Stirn mit einem feuchten Tuch. Ich konnte nicht umhin zu glauben, dass die Geschichten, die er mir erzählte, alle stimmten, und dass er die Abenteuer, von denen er berichtete, selbst erlebt hatte... ein so fremdartiges Leben, dass es an die Gute-Nacht-Geschichte eines Kindes erinnerte, an einen Traum. Ich wünschte, ich hätte ihn fragen können, ob es wirklich so war, aber ich bekam nie wieder die Gelegenheit, mit ihm zu sprechen.

Mein Großvater starb eines Tages zur Mittagszeit im Schatten eines Felsbrockens, als ich ihn allein ließ, um ein paar Ziegen zusammen zu treiben. Ein Loch zu graben, das tief genug war, nur mit einem kurzen Messer und einem Stock, das war langwierige, schwere Arbeit. Endlich legte ich den kalten, starren Leichnam meines Großvaters in die Erde, und der abnehmende Mond stand hoch am Himmel, als es mir endlich gelang, ihn mit Schichten aus Stein und Sand zuzudecken.

 

*****

Mein Großvater sagte immer, dass nach der Rechnung der Freien unsere See nur eine kümmerliche, bleiche Imitation der Gewalt, der Macht und des Glanzes des wahren Meeres sei. „Und ihre Boote, ihre Schiffe,“ fügte er hinzu, „sie sind so hoch wie Türme, mit riesigen Segeln aus starkem Tuch, richtigem Tuch.“

Ich tat seine Geschichten stets als das Geschwätz eines alten Mannes ab. „Boote wie Türme? Wo finden die genügend Holz, um so ein Ding zu bauen, alter Mann, he? Und riesige Stoffsegel? Ich sage dir: die Frauen würden an Bord gehen und die Segel lange vor der Jungfernfahrt für Kleider in Stücke reißen!“ Und mein Großvater ärgerte sich über meine unverschämten Anmerkungen.

„Frag, wen du willst,“ forderte er mich heraus. Und ich lachte ihn aus. Wen konnte ich schon fragen? Die knurrenden, halb tierischen Geschöpfe, die uns täglich quälten? Den Strom aus verängstigten, verzweifelnden Männern, Frauen und Kindern, die in unsere Mitte marschierten, ausgepeitscht und gefesselt? Manche von ihnen starben in den ersten paar Tagen, an Krankheit, Hoffnungslosigkeit oder Sturheit. Manche versuchten zu entkommen, und man hörte nie wieder etwas von ihnen. Die, die blieben, kamen mehr und mehr aus Ländern, so weit weg und fremd, dass sie unsere Sprache ebenso wenig verstanden wie wir die ihre. Die Alten? Zuerst einmal gab es nur wenige von ihnen, und viele waren in die Sklaverei hinein geboren, hier an den Ufern der See. Was konnten sie mir von dem Land jenseits der Berge erzählen?

Aber das Ziegenhüten war eine ruhige, anspruchslose Arbeit, die mir viel Zeit dafür gab, über die Geschichten meines Großvaters nachzugrübeln. Ich erinnerte mich an seine Erzählung vom ersten Wachstum im Frühling, lebhaftes Blau und Gelb und Rot und Violett auf üppigen Grün, und wie die Milch der Kühe und das Fleisch der Lämmer am süßesten schmeckt, nachdem sie frisch gesprossenes Gras und Blumen abgeweidet haben. Ich versuchte, mir all diese Farben vorzustellen, während ich auf der Spitze eines felsigen Hügels stand und meinen Ziegen zusah, wie sie struppiges Gras rupften, trockene Moosfetzen und die steifen, dornigen Zweige verkümmerter Büsche... und alles, was ich sah, war ein windgepeitschtes, sonnengebleichtes Land in den Farben von Felsen, Sand und Staub, gleißend und blendend bei Tag, verräterisch und gefroren bei Nacht. Ich versuchte, mir den Duft von Blumen vorzustellen, während die Luft rings um mich her in der Hitze der Sonne waberte und buk, aber alles, was ich wahrnahm, war der starke, trockene Geruch der Ziegen. Und ich dachte, dass es solche Dinge wie die, von denen mein Großvater in seinen Geschichten erzählte, sicherlich nicht gab... oder wenn es sie einst gegeben hatte, dann hatten das Auge im Turm und die Meister auf ihren fliegenden Bestien sie schon vor langer Zeit zu Staub werden lassen, oder zu weniger als Staub.

Einmal, als ich auf der Suche nach einer streunenden Ziege meinen Weg in der trügerischen Leere verlor und zu weit nach Norden wanderte, da sah ich den zerklüfteten Rücken eines langen Bergzuges... die nördliche Grenze, schwarzstreifige Asche, von schwer beladenen Wolken gekrönt, und ein Schauder durchzitterte meinen Geist, ein unerwarteter Hunger. Ich bildete mir ein, ich könnte verborgene Wege sehen, mitten in den weit entfernten Tälern und auf den Passhöhen, und ich erbebte unter der plötzlichen Sehnsucht, auf die andere Seite dieses Landes aus Staub und Stein zu gelangen und zu sehen, was jenseits davon lag. Ich hatte meinen Wanderstab, einen Wasserschlauch, Trockenfisch und ein halbes Rund hartes Brot in meinem Beutel, und meinen Umhang, der in der Nacht gleichzeitig als Decke und Bettrolle diente. Ich konnte einfach gehen.

Aber dann traf eine sinnlose Furcht mein Herz, ein verkrüppelndes Entsetzen. Je näher ich den Bergen kam, desto heftiger zitterte ich, desto langsamer ging ich, zusammen gekrümmt, gebückt, die Arme um den Leib geschlungen, so dass mein Schatten sich nicht so lang neben mir ausstreckte und mich an den lidlosen Blick verriet, der mich mit stiller Bosheit zu verfolgen schien. Die Berge ragten weiter und weiter entfernt auf, bis endlich ein Schleier aus Staub und Nebel sie vor meinem Blick verhüllte. Ich stand da, bebend vor Verwirrung, und ich dachte an Zuhause, wie warm das Dungfeuer in meiner Hütte war und wie friedevoll die Nacht, erfüllt vom Blöken der Ziegen, dem Knarren der Wasserräder und das Klatschen des Wassers gegen die Kanus, die am kieselbestreuten Ufer ruhten.

Ich fing an zu rennen, zu stolpern und zu kriechen, unsehend in der Blindheit, die nicht Finsternis war, in dem Unlicht, das nicht Nacht war... wie viele Tage, das weiß ich nicht mehr. Dann, am Ende, konnte ich das vertraute Aroma vom Menschen und Tieren riechen, die zusammen gepfercht in notdürftigen Heimstätten lebten, an den Stränden der See entlang. Ich konnte sie hören, konnte sogar spüren, wie der Boden in meinen Händen und unter meinen Knien weich wurde. Ich schrie auf, ich stöhnte und wimmerte vor Freude und Furcht, während ich auf den Klang von menschlicher Sprache und Tierlauten zu stolperte. Ich fiel mit dem Gesicht voraus in ein Beet mit kleinen, kränklichen Kohlköpfen. Die Erde war frisch gehackt und roch kräftig nach Dünger. Die grobkörnigen Klumpen drangen mir in die Nase, in den Mund und die Augen. Ich wischte mir den Schmutz aus den Augen und sah durch den Tränenschleier meine Hütte. Meine Mutter war draußen und schrie meinen Bruder an; er schrie etwas zu ihr zurück, ehe er sich der See zuwandte, geschmeidig, braun und nackt, und im Davonlaufen lachte er.

Ich hastete schluchzend auf diesen vertrauten Anblick zu. Die Leute sahen mich, zeigten auf mich und lachten mich aus. Meine Mutter warf mir einen Blick zu und ließ einen Strom an Schimpfwörtern los. Sie schlug und trat mich, bis ich in Richtung See wankte. Dann versetzte sie mir einen harten Stoß und ich stürzte klatschend in die braunen, schmutzigen Untiefen. Das Wasser zerrte verführerisch an mir, spielte mit meinem schlaffen Körper, gefährlich, zärtlich, machtvoll und heiß ersehnt. Ich unterwarf mich willig und in freudiger Demut. Seither war ich nicht mehr von seiner Seite gewichen.

*****

Dann, eines Tages, stöhnte und seufzte die ganze Erde. Der Himmel war kohlschwarz, von flammendem Rot gesäumt. Die See brodelte, die Oberfläche kochend von Wirbelstürmen; das Wasser färbte sich von grünlichem Braun zu Dunkelbraun und schließlich zu Rot. Dann sank eine Finsternis herab, die schwärzer war als irgend eine, an die ich mich erinnern konnte. Die Welt erbebte, Regen fiel in heißen, schweren Tropfen und Blitze zerrissen den Himmel. Jedermann rannte schreiend umher. Eine Hütte fing Feuer. Kinder weinten, Frauen klagten, Männer brüllten und unsere Tiere wurden wahnsinnig vor Angst. Dann war über dem Tumult, über dem Getöse ein durchdringendes Kreischen zu vernehmen. Ein Blitzschlag offenbarte riesige Schwingen, die sich gegen den feurigen Himmel abzeichneten. Wie heulten in Verzweiflung und Panik und verstreuten uns auf der Suche nach Zuflucht, denn wir kannten die kalte Grausamkeit der Neun nur zu gut. Aber die Gestalt, majestätisch und fürchterlich, kreiste nur über uns, während wir in dumpfem Entsetzen starrten. Dann schrie sie nochmals in einer Zunge, die keiner von uns verstand, ihre Flügel schlugen einmal und sie segelte durch die aufgewühlte Luft, den Hagel und Sturm nicht achtend, und raste westwärts.

Ein Rumpeln tief im Boden. Und ein schockierendes Gefühl der Erleichterung... als ob die Erde die ganze Zeit die Luft angehalten hätte, und als ob sie jetzt mit einem Mal ausatmete.

Dann endlich Stille.

Am nächsten Morgen ging die Sonne auf.

Ich erwachte lustlos und verwirrt. Ich brachte die Ziegen in die Hügel, weil ich es nicht ertrug, den verwirrten Blick in den Augen meiner Mutter zu sehen, in den Augen aller. Etwas war dahin gegangen und hatte ein Nichts zurück gelassen. Die Ebenen schienen tausendfach stiller, leerer zu sein. Selbst die Geister waren scheinbar verschwunden.

Niemand kam, um das Essen einzusammeln. Das Gemüse welkte in der Sonne. Fliegen summten über den Bergen aus faulendem Fisch und geschlachteten Ziegen. Niemand kam.

Ostlinge und Männer aus dem Süden ritten oder liefen eilig in vereinzelten Gruppen am Dorf vorüber; sie sahen uns nicht an und hielten sich nicht auf. Orknachzügler schlichen sich des Nachts vorbei, stahlen Essen und alles, was herum lag... Seile, einen Korb, ein Beil, und dann verschwanden sie in der Dunkelheit.

Die Sonne ging auf und unter, auf und unter. Es gab kein Zeichen von den Aufsehern. Eines Nachts kletterten wir auf den Getreidespeicher und fanden ihn unbewacht; wir plünderten ihn und setzten ihn in Brand. Binnen Tagen brach Streit aus, Männer gegen Männer, Familien gegen Familien, um die Beute dieser bemerkenswerten Nacht. Ich bemerkte, dass die Schmiede anfingen, grobe Schwerter und Speere zu fertigen. Zuvor hatten sie nur Spaten und Pflüge gemacht.

Leute fingen an, fort zu gehen, vor allem die, die nicht lang versklavt gewesen waren und vielleicht noch einen Ort hatten, den sie Heimat nannten. Sie gingen, einer nach dem anderen oder in Gruppen, zuerst des Nachts, dann in hellem Tageslicht. Die leeren Hütten, die sie zurückließen, standen da wie Brunnen der Finsternis. Neue Sklaven gab es nicht mehr.

Die Erde bebte wochenlang mehrmals täglich, nicht genug, um viel Schaden anzurichten und uns in Panik flüchten zu lassen, aber es reichte aus, dass wir uns nachts entsetzt zusammendrängten, es reichte, um Fragen und Gerüchte auszubrüten. Waren wir tatsächlich im Stich gelassen worden, um zu krepieren? Wenn das so war, was würde geschehen, wenn wir fortgingen? Was geschah mit denen, die es taten? Waren unsere gefürchteten Herren endlich besiegt? War alles, das geschehen war, eine bloße Einbildung, ein allgemeiner Aufstand, oder eine Falle?

Wir arbeiteten weiter in den Feldern und Obstgärten. Wir brachten die Ziegen zum Grasen in die Hügel. Wir paddelten in unseren Kanus, um Muscheln und Fisch zu fangen. Wir besserten unsere Pflüge und Netze aus. Wir kehrten heim und kochten unsere Mahlzeiten über den Dungfeuern, wir aßen, wir schliefen, manche von uns träumten unruhige, wirre Träume. Wir wachten morgens auf und gingen an die Arbeit, Tag für Tag für Tag. Es schien keine andere Wahl zu geben. Wenigstens bewahrten die harte Arbeit und die Erschöpfung uns davor, am Ende des Tages zu grübeln und uns Sorgen zu machen. Die Sonne ging auf und unter, auf und unter.

Dann kamen die Männer. Ihre Kleider waren aus gewebtem Stoff, aus fein gefärbtem und bemalten Leder, polierten Metallplatten und glänzenden Metallketten. Manche von ihnen trugen Banner, die im Wind knallten, deren Farbe so tief, dass sie in den Augen schmerzte. Die Männer waren hochgewachsener, viel größer als wir, größer noch als sogar die Orks. Ihre Stimmen waren gleichmäßig und fest. Ihre Worte fielen merkwürdig in unsere Ohren; ihnen fehlten die groben Ecken und Kanten der Schwarzen Sprache, sie klangen auf merkwürdige, fast obszöne Weise sanft. Sie saßen auf großen, mächtigen Pferden und blickten auf unsere Verschläge hinunter, unsere zerlumpten Kleider, die Brandmale auf unseren Gesichtern und Gliedern, auf die See, grünlichbraun und tranig.

Einer von ihnen verkündete mit klarer, durchdringender Stimme – in mehreren Sprachen, außer der der Orks – dass das Auge des Turms gefallen, die Neun umgekommen waren. Die Herrschaft des Dunklen Herrschers hatte ein Ende. Wir waren frei.

Wir lauschten, aber wir konnten es nicht begreifen. Die meisten von uns waren in die Sklaverei hinein geboren worden und waren aufgezogen worden, während wir nichts anderes kannten... daran gehindert, irgendetwas anderes zu kennen. Freiheit war ein fremdes, unvermessenes Gebiet. Wie kamen wir dort an? Was sollten wir als nächstes tun?

Ein hochgewachsener, ernster Mann mit klaren, grauen Augen stieg vom Pferd und kam mit langen Schritten dorthin, wo wir zusammen gedrängt und still beieinander standen. Eine ganze Anzahl seiner Gefährten beeilte sich, ihm zu folgen, aber er winkte sie weg.

Als er näher kam, machten wir einen allgemeinen Schritt rückwärts und duckten uns. An seinem Gürtel trug er ein langes Schwert in einer schönen Lederscheide. Ein dünner Silberreif lag um seinen Kopf, besetzt mit einem leuchtenden, grünen Stein. Dann ließ er sich auf ein Knie nieder und sein schwerer Mantel schleifte auf dem Boden. Er streckte die Hand nach einem schmutzigen Bengel mit geschwollenem Bauch aus, der mit geweiteten Augen dastand und sich an den Rock seiner Mutter klammerte. Der Junge wimmerte, zerrte an seiner Mutter und versuchte, sich davonzumachen. Seine Mutter starrte finster und versuchte, eine abwehrende Hand zwischen ihn und das Kind zu bringen, aber der Mann blieb hartnäckig, bis seine Hand, groß und kraftvoll, auf der Wange des Jungen ruhte.

„Tut es sehr weh?“ fragte er.

Der Junge blinzelte. „Ja,“ brachte er flüsternd heraus. „Woher... woher weißt du das?“

Der Mann blickte auf. Die Mutter des Kindes starrte wachsam zurück, aber mit einem schwachen Hoffnungsschimmer in den Augen. „Er kann nachts nicht schlafen.“

Der Mann nickte. Er legte seine andere Hand auf den Bauch des Jungen, gleich unterhalb seines Herzens; er schloss die Augen, den Kopf gesenkt. Die Frau umfasste die kleine Hand, die sich immer noch an ihren Rocksaum klammerte. Das Kind starrte den Mann an, und ein Wirbel an Empfindungen zuckte über sein schmales Gesicht: Furcht, Verblüffung, Neugier, Friede. Er berührte die große Hand, die noch immer sein Gesicht umschloss und seine Augen schlossen sich flatternd.

„Is’ warm,“ murmelte er.

Der Mann hob sein Gesicht. Er war um eine Schattierung bleicher, aber er lächelte den Jungen an. „Ist es jetzt besser?“

Der Junge öffnete die Augen, lächelte scheu zurück und nickte leicht. Seine Mutter packte ihn an den Schultern und tastete seine Arme und seinen Rücken hinab; sie hielt ihre Augen misstrauisch und doch hoffnungsvoll auf den fremden Mann gerichtete, der immer noch auf der Erde kniete. „Wer bist du...“ flüsterte sie. Dann, ein furchtsamer Nachgedanke: „...Herr?“

„Ich werde Aragorn genannt, Sohn des Arathorn,“ erwiderte der Mann. „Der Elessar meines Volkes.“

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