Arda Fanfiction

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Liebe, stärker als der Tod?

von Dairyû

Kapitel II - Was einst war

Es war ein gutes Jahr für die Menschen in Enedwaith gewesen, denn kein Unwetter hatte gewütet und die Felder zerstört, keine Krankheiten waren über das Land gekommen, wie es so oft geschah und keine Kämpfe hatte es gegeben, die Leid über die Sippen brachten.
Ein solches Jahr würde den Menschen lange in Erinnerung bleiben, weil es kein schicksalsbehaftetes gewesen war, und dieses Glück wurde den Sterblichen nur selten zu Teil.
Aber für manche hatte sich in diesem Jahr der Lauf ihres Lebens auf unerwartete, aber nicht unwillkommene Weise geändert ...

~~~

Die Zeit der Ernte stand an und die Bewohner eines kleinen Dorfes in den fruchtbaren Gebieten nahe des Gwathló arbeiteten von Sonnenaufgang bis zur Dämmerung, um das kostbare Korn zu schneiden, das lang und üppig gewachsen war wie selten zuvor und dessen Last selbst den stärksten Zugtieren vor den großen Karren Mühe bereitete.
Ausgelassen wurde gesungen und gescherzt, denn die Arbeit machte Freude und sie versprach das Leben im Winter ein wenig einfacher und angenehmer werden zu lassen, weil man keinen Hunger würde leiden müssen, und volle Mägen schufen Behaglichkeit.

Es war um die Mittagsstunde herum, die Menschen hatten ihr Mahl vor kurzer Zeit beendet und sich der Ernte wieder zugewandt, als auf dem breiten, von Wagenspuren gezeichneten Weg zwischen den wogenden Kornfeldern ein Reiter sich näherte.
Er trug einfache Kleidung, fast so wie die, die auch die Menschen bevorzugten, die in den rauen Gefilden am Meer lebten und die zuweilen auf Wanderschaft in die Gebiete am Gwathló gingen, um Neuigkeiten auszutauschen oder Handel zu treiben.
Aber dennoch erschien der Reiter den Menschen auf dem Felde fremd; zumal sein Gesicht in den Schatten einer weiten Kapuze verborgen war, die zu einem leichten grauen Umhang gehörte.

Der Mann führte keine Waffen mit sich und das ließ ihn noch auffälliger wirken, denn nicht einmal die Bauern waren gänzlich waffenlos. Sie hatten einfache Messer bei sich - auch wenn sie die scharfen Klingen kaum zu etwas anderem als dem Schneiden des harten Brotes nutzten, das ihre Mahlzeit war.
Der Reiter kam näher und alle, an denen das Ross vorbeischritt, hielten mit ihrer Arbeit inne und warfen dem Mann neugierige Blicke nach. Er jedoch beachtete es nicht und setzte unbeirrt seinen Weg fort; ganz so, als habe er ein bestimmtes Ziel im Sinn.
So kam er schließlich zu einer Gruppe Frauen, die mit dem Bündeln der Korngarben beschäftigt war, die man in der Sonne der vergangenen Tage hatte trocknen lassen, und hieß sein Pferd mit einem kurzen Ruck am Zügel halten.
Die Frauen waren nicht minder neugierig als alle anderen, die den Reiter gesehen hatten, und so legten auch sie ihre Arbeit nieder, um zu schauen. Enttäuscht musterten sie die Kapuze, die das Gesicht des Mannes verbarg.


Einzig eine junge Frau besann sich nach wenigen Augenblicken auf die guten Sitten und die Gastfreundschaft, die man in den alten Zeiten pflegte.
Wortlos trat sie zu einem der zahlreichen Tonkrüge, die im Schatten eines Erntewagens standen, und die klares, kaltes Wasser enthielten, und füllte einen hölzernen Becher mit dem erfrischenden Nass, das in der Hitze des Mittags ein kostbares Geschenk war.
Langsam ging sie zu dem Reiter und reichte ihm den Becher und dabei berührten ihre Finger die seinen. Sie waren kühl und schlank, aber stark und die Frau spürte, dass sie es gewohnt waren eine Waffe zu führen; aber mehr noch fühlte sie, dass dem Fremden eine Kraft zu eigen war, die ihr noch bei keinem anderen Menschen begegnet war. Verwirrt und unsicher hielt sie den Blick gesenkt und begann das dunkelgraue Ross zu streicheln, das ihr mit einem leisen Schnauben der Behaglichkeit die weichen Nüstern entgegenstreckte.

So als habe ihre Handlung die anderen aus einer Starre gelöst, verloren sie das Interesse an dem fremden Reiter und wandten sich wieder ihrer Arbeit auf dem Felde zu; dann und wann streifte noch ein Augenpaar den Mann und das Pferd, aber da er nur ein einfacher Reisender zu sein schien - kein Bote eines Fürsten, kein Tunichtgut und auch kein Barde - war er bald unwichtig und sie beachteten ihn nicht mehr.
Nur die junge Frau stand noch bei ihm und wartete geduldig, bis er getrunken hatte. Flüchtig fragte sie sich, woher der Fremde kam, denn wenn sein Gewand auch einen anderen Eindruck hinterließ, sein Pferd war ein edles Tier und niemals konnte ein einfacher Mann ein solches Ross besitzen, das sicherlich so viel wert war wie der Ertrag einer Ernte von drei oder mehr guten Jahren.

Aber der Fremde gehörte nicht zu den Fürsten des Landes, deren Zahl nicht gering war und die über kleine Reiche geboten und unter den Menschen bekannt waren, weil sie sich jedes Jahr ihren Anteil an Gold und den Früchten der Felder bringen ließen; so kam es, dass ein jeder aus einer Familie schon einmal an den Hof eines Fürsten gereist war. Die Herren wären zu stolz gewesen sich unter das einfache Volk zu mischen, ihre Pracht abzulegen und einfache Gewänder zu tragen.
Kaum merklich schüttelte die junge Frau den Kopf. Die Zeiten waren seltsam geworden, so als weiche das Alte und Bekannte etwas Neuem; kaum merklich zwar, aber wer die Zeichen zu deuten wusste, wurde nachdenklich.

Die Elben, die vormals den Menschen wohlgesonnen gewesen waren, zogen sich von Jahr zu Jahr zurück in Wälder und an Orte, die von den Sterblichen gemieden wurden, weil sie als verwunschen galten, und viele der Erhabenen schienen unter einem anderen Himmel zu wandern, denn wer einen Blick auf sie erhaschen konnte, der sah sie durch einen Schleier aus Licht - der Welt fast schon entrückt, während die Sterblichen bleiben mussten, und die meisten unter ihnen führten ein hartes und sorgenvolles Leben. Viele hätten ihre Seele gegeben, wenn sie dadurch den Elben gleichgestellt worden wären, denn sie beneideten die Unsterblichen um ihr Los. Doch wenn sie die Augen ein wenig geöffnet hätten, dann wäre ihnen aufgegangen, dass auch die Elben, die in Mittelerde ausharrten, von Kummer und Not nicht verschont wurden.

In die Kunde über die Elben mischte sich andere Nachricht und diese sprach von Schiffen aus dem Westen an der Mündung des Gwathló, deren weiße Segel weithin zu sehen waren und in der Sonne leuchteten, und die Menschen mit sich brachten; edel von Angesicht, groß und ehrfurchtgebietend und der Name Númenor machte die Runde. Für viele war er nicht mehr als ein Begriff aus einer vergangenen Zeit, welche die Menschen in Mittelerde kaum noch berührte. Die Insel im Westen war unerreichbar für sie und so mussten sie sich damit begnügen von ihrer Schönheit zu erzählen und zu träumen. Nicht wenige verwiesen die prächtigen Schiffe in das Reich der Legenden, denn wer kam freiwillig aus dem gelobten Land zurück, wenn er es einmal betreten hatte?

"Númenor", hörte die Frau sich plötzlich flüstern und Sehnsucht schwang in ihrer Stimme. Mit einem Male musste sie aufsehen und dem Reisenden in die Augen blicken, die das einzig deutliche waren, was sie unter der Kapuze erspähen konnte. Für einen winzigen Moment glaubte sie in den Tiefen aus dunklem Grau fremde Sterne funkeln zu sehen wie in einem stillen See bei wolkenloser Nacht.
Verwirrt blinzelte sie und dann war der Zauber fort, der Mann auf dem Pferd ein Mensch, geheimnisvoll zwar, aber dennoch aus Fleisch und Blut.
Mit einem dankbaren Nicken reichte er der Frau nach einer Weile den Becher zurück und sie bemerkte, wie er sie eingehend betrachtete. Stolz hob sie den Kopf. Sie mochte die Tochter einfacher Leute sein, ihr Kleid war unscheinbar und keinen Schmuck trug sie, aber sie war frei, hatte einen wachen Geist und einen scharfen Verstand. Darum gefiel es ihr nicht, angesehen zu werden wie ein Schmuckstück, dessen Wert man abwog und es für gut oder schlecht befand.

Jedoch, sie wusste auch, dass sie die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zog, denn ihr war eine eigentümliche Schönheit zu eigen, die man nicht strahlend oder atemberaubend nennen konnte, aber würdevoll und beruhigend.
Ihr schmales Gesicht war eine Spur zu scharf, um sanft zu sein; das warme Braun ihrer Augen wog diese Härte aber mehr als auf und ihre große Gestalt war geformt von der Arbeit vieler Jahre, unter denen ihre Weiblichkeit nicht gelitten hatte. Ihre Haut war von der Sonne gebräunt und ihr ellenlanges Haar - nun zu einem Zopf geflochten - hatte die Farbe von glänzenden Rabenschwingen.
Herausfordernd gab die Frau deshalb den Blick zurück und sagte: "Gefällt Euch, was ihr seht, Herr? Und welches Urteil werdet Ihr über mich sprechen? Ach, es ist eine Schande, dass ich nicht gleichfalls eines über Euch zu fällen vermag."

Sie spürte das Erstaunen des Fremden und sie glaubte sogar Verärgerung zu bemerken, so als sei er den Widerspruch und die scharfe Zunge einer Frau nicht gewöhnt. Aber dann hörte sie ihn leise lachen.
"Wahr gesprochen habt Ihr, Herrin, und mir gezeigt, dass ich gute Sitten nicht zu schätzen weiß."
Seine Stimme war sanft und melodisch, aber sie hörte, dass eine andere Sprache die seine war, als die, welche von den Menschen in den Regionen Enedwaith und Minhiriath gesprochen wurde, denn bei ihm klangen die Worte fast wie Gesang und ihm fehlte die harte Aussprache der Menschen dieser Gegenden.
"So seht denn und urteilt über mich, wie ich es bei Euch getan habe", sagte er zu ihr und nahm die Kapuze ab, damit sie sein Gesicht sehen konnte.

Es war fein geschnitten, schmal und glatt, wie das eines Elben und wurde betont von hohen Wangenknochen; die Haut war hell, wenn auch ein wenig von der Sonne gebräunt. Der Fremde trug das Haar lang bis auf den Rücken hinab und einen kurzen Bart, und beides war dunkel und seidig.
Die Frau vermochte nicht, das Alter des Mannes zu schätzen. In einem Moment erschien er ihr sehr jung und in einem anderen meinte sie, die Weisheit vieler Jahre in seinen Augen zu erkennen. Sie entschied für sich, dass er vielleicht zehn Sommer älter war als sie selbst, und sie hatte dreißig Mal die Sonne ihren Lauf vollenden sehen.
Fast gegen ihren Willen musste sie zugeben, dass der Fremde ihr ausnehmend gefiel; weniger seines Aussehens wegen, sondern weil er eine Saite in ihr zum Klingen brachte, die sie vordem noch nie vernommen hatte - und das beunruhigte sie. Denn es war ein Gefühl, dass eine andere Ebene berührte, als die, auf der sie den Männern und Frauen des Dorfes und auch allen anderen begegnete, und das sie verwundbar werden ließ.

Sie war schon immer stolz darauf gewesen, nach dem Tode ihrer Eltern nicht abhängig zu sein und für sich selbst zu sorgen, während andere Frauen es vorzogen, einen Gefährten zu suchen. Sie tat es nicht, widmete sich statt dessen der Heilkunst - so wie ihre Mutter vor ihr diese beherrscht hatte -, und die Dorfgemeinschaft hatte ihren Wunsch, allein zu bleiben, mit der Zeit verstanden und respektiert; vielleicht auch, weil alle daraus einen Vorteil ziehen konnten, denn so war sie zu jeder Stunde bereit zu helfen, war fähig Tage und Nächte für einen Schwerkranken opfern, Sterbende zu begleiten und vieles zu tun, ohne dass sie es bereuen musste. Denn in ihrem kleinen Haus gab es niemanden, der auf sie wartete, den es zu umsorgen galt und der irgendwann ungeduldig werden würde, weil sie ihre Zeit anderen Menschen widmete.
Ihre Arbeit als Heilerin und die Aufgaben, die jedem aus der Gemeinschaft oblagen, hatten ihr Leben ausgefüllt und sie fühlte sich glücklich all die Jahre.
Und nun plötzlich begann sie ihre selbstgewählte Einsamkeit - die für sie nie eine Last gewesen war - zu spüren.

Erzürnt über sich selbst suchte sie Schutz in sprödem Verhalten und maß den Reiter mit den Augen von Kopf bis Fuß und dann sagte sie: "Ihr seid ein Mann wie jeder andere, Herr - so wie ich eine gewöhnliche Frau bin. Wenn Ihr weiter reitet, dann haltet Euch an den Fluss, denn nach Nordosten hin wird das Land rau und unwegsam und kaum ein Mensch hat es je betreten."
"Dann wird es Zeit, dass es einer tut", gab der Fremde lachend zur Antwort. "Auch hörte ich von vielen kleinen Reichen im Norden. Es braucht eine starke Hand, sie zu vereinen und etwas Mächtiges zu erschaffen! Wenn das geschehen ist, werde ich wiederkommen und dann werde ich Euch mit mir nehmen, damit Ihr die Königin an meiner Seite seid!"
Mit diesen Worten gab der Mann seinem Pferd die Zügel frei und es trabte schnell von dannen. Verwundert und ein wenig verärgert sah die Frau dem Reiter nach.
Trieb er seinen Spott mit ihr?
Eine Königin?

Sie lachte leise. Ein schönes Gesicht und Stattlichkeit machten noch keinen König, und auch wenn der Fremde seltsam und geheimnisvoll schien - ein Fürst konnte er nicht sein, denn niemals hätte sich einer der hohen Herren eine einfache Frau wie sie erwählt. Sie besaß nichts wertvolles oder kostbares, ihre Hütte war klein und ihre Aufgaben waren zumeist groß. Ihre einzige Habe waren ein scharfer Verstand, das Wissen um die Kunst des Heilens und die Güte ihres Herzens, die von allen hoch geschätzt wurde.
Aber war es das, was ein König an einer Frau schätzen würde? Sie bezweifelte es und dann tat sie die Begegnung als eine derjenigen ab, die einem jeden Menschen widerfahren konnte, trat zu den anderen Frauen und verrichtete ihre Arbeit; an diesem Tag und auch an den kommenden.

Ihre Gedanken jedoch folgten häufig dem Mann, der so anders war, als die Menschen, die sie kannte. Gerne hätte sie mehr über ihn und seine Herkunft erfahren, über das, was er gesehen hatte und das, was er wusste, weil sie es liebte Anteil an allem Neuen zu haben und ihr Geist wissbegierig war.
Und immer wieder hörte sie seine Worte.
"Ich werde wiederkommen ...", hatte er gesagt, und auch wenn sie darüber gelacht hatte, hoffte sie doch im Stillen darauf, ihn einmal wiederzusehen, weil er ihre ruhige Seele zum Schwingen gebracht hatte, wie kein Mensch zuvor.


Aber es geschah nichts und das Leben nahm seinen gewohnten Lauf, war beschwerlich und erfüllend zugleich, denn die Frau besaß das Geschenk der Zufriedenheit.
Der Herbst kam und der Winter ging ins Land und langsam verblasste die Erinnerung an den Fremden mit den dunklen Augen, die ferne Lande und unbekannte Himmel erblickt hatten - nur dann und wann noch dachte sie an den Spätsommertag und die Begegnung zurück, bis nicht einmal mehr das geschah; aber das Herz der Frau vergaß beides nicht, denn es war angerührt worden von einem Zauber, der oftmals im Verborgenen wirkte und lange unerkannt blieb.
So nahm es nicht Wunder, dass sie sich eines Tages fühlte, als habe sie etwas verloren, kaum dass sie es gefunden hatte. Eine unbestimmte Sehnsucht war in ihr geweckt worden, die sie ruhelos werden ließ und mit einem Male hielt sie Ausschau und lauschte auf jedes Wort über ferne Ereignisse, das den Weg zu den einfachen Menschen fand.

Und so hörte sie schließlich nach fast vierzehn Monden, dass im Norden Enedwaith', dort wo sich Mitheitel und Glanduin trafen, ein neues Reich entstanden war, dessen Herrscher einer der Númenórer sein musste, deren Schiffe von Jahr zu Jahr zahlreicher an den Küsten Mittelerdes erschienen ... denn ihm vermochte niemand zu widerstehen. Durch Zauberkunde und Waffengeschick und durch die Hilfe einer Schar Getreuer hatte er sich die Fürsten der kleinen Reiche unterworfen und zu Vasallen gemacht, und sich zum König.
Von da an gab es keine Stunde mehr, in der die Frau nicht wartete, und als im kühlen Morgengrauen eines Herbsttages das ferne Getrappel von Hufen durch den Nebel an ihr Ohr drang, ergriff sie eine Aufregung, wie sie sie noch nie gekannt hatte.
Sie lauschte dem Geräusch der Pferde, in das sich erstaunte Rufe mischten. Sie wusste, dass die Bewohner des Dorfes die Ankömmlinge entdeckt hatten und nun rannten die Kinder ihnen neugierig nach, um zu sehen, wohin sie sich wenden wollten.

Die edlen Fremden auf den großen Rössern ritten durch die Ansammlung von Gehöften mit einem festen Ziel vor Augen - eine kleine, unscheinbare Hütte etwas abseits am Rande des Dorfes auf einem flachen Hügel.
Ringsum war ein Garten angelegt, in dem Kräuter und Blumen wuchsen; man sah, dass sie gehegt und gepflegt wurden und mit Sorgfalt behandelt, ebenso wie das Häuschen in Ordnung gehalten war von fleißigen Händen. Jedem im Umkreis von vielen Meilen war bekannt, dass dort eine begabte Heilerin lebte, und es kam nicht selten vor, dass sich Kranke und Hilfesuchende bei ihr einfanden.
Aber kein einziger war darunter gewesen, der den Fremden geglichen hatte, die ihre Pferde rasch den ausgefahrenen Weg entlang traben ließen und schließlich vor der bescheidenen Wohnstätte der Heilkundigen hielten.

Der Hufschlag war verklungen und die Frau vernahm das Schnauben der Rosse, die einen langen Ritt hinter sich hatten.
Langsam trat sie aus ihrer Hütte und erblickte vierzehn prächtige schwarze Pferde, von denen eines keinen Reiter trug. Die Tiere waren herausgeputzt, das Silber an ihren Geschirren und Sätteln glänzte im Licht des jungen Tages, und ihre langen Mähnen waren mit bunten Bändern geschmückt.
Die Frau ließ ihren Blick schnell über die Reiter schweifen und als sie den sah, den sie erwartet hatte, tat ihr Herz einen Sprung.
Der Fremde von einst trug nun eine silberne Krone und kostbare Gewänder aus dunklem Leinen, die sehr lang waren, und von fremdartigem Schnitt.
Er lenkte sein Pferd zu ihr, glitt geschmeidig aus dem Sattel und neigte sein Haupt. "Ihr seht, meine Herrin, ich bin gekommen, um mein Versprechen einzulösen", sagte er feierlich zu ihr, "und Euch zu holen. So frage ich Euch denn: wollt Ihr mit mir gehen und die Königin an meiner Seite sein? Meine Getreuen erwarten Euch und ein jeder würde sein Leben für Euch geben, wenn er Euch damit diente."

Mit Staunen sah die Frau die zwölf Reiter an. Sie alle waren groß und in edle Gewänder gekleidet, ein jeder trug ein Schwert und hier und da sah sie Gold und Silber, das Stirn und Hände zierte.
Auch diese Männer mussten aus dem Westen gekommen sein, denn sie sahen dem König ähnlich mit ihren schmalen Gesichtern und den dunklen Haaren. Sie alle neigten die Köpfe vor ihr, als der König sie zu dem reiterlosen großen Ross geleitete, das einer der Recken mit sich geführt hatte.
Keiner schien sich daran zu stören, eine bescheidene Frau in einem unscheinbaren Kleid und einem ebensolchen Mantel um die Schultern zu erblicken, die in einer Hütte wohnte, in die diese Krieger wohl nicht einmal ihre Pferde gestellt haben würden. Ehrerbietig wurde sie angesehen und schweigend, aber aufrichtig willkommen geheißen, wie sie mit Freude bemerkte und sie dankte den Männern mit einem Lächeln.

Die Krieger blieben ernst, aber ihre Augen glitzerten, denn nun verstanden sie, warum ihr Fürst diese Frau aus dem einfachen Geschlecht der Menschen Mittelerdes erwählt hatte - sie war von Aufrichtigkeit und Güte erfüllt, und ihr freundliches Wesen erwärmte jeden, der ihr begegnete.
"Ich werde mit Euch kommen, mein Gebieter", antwortete sie nach einer Weile leise, "denn das ist es, was mein Herz mir befiehlt."
Mühelos hob der König die Frau daraufhin auf das Pferd und reichte ihr die Zügel, seine Augen leuchteten, und da wusste sie, dass auch er all die Monate mit Ungeduld an sie gedacht hatte. Unter den Blicken der neugierigen Menge, die sich eingefunden hatte und die schweigend und mit Verwunderung die Fremden betrachtete, brach die Gruppe auf. Für die Frau war es ein Abschied, der widerstreitende Gefühle heraufbeschwor.

Das Sehnen, das in ihrer Brust gewohnt hatte, fand ein Ende und bedrückte ihr Gemüt nicht mehr, aber zugleich war es eine Last für sie, zu gehen, denn sie musste alles hinter sich lassen, was ihr vertraut geworden war und am Herzen lag. Am schwersten fiel es ihr, die Menschen zu verlassen, die sie jahraus und jahrein umsorgt hatte und vermutlich hätte sie sich gegen den Mann entschieden, der ihr ein neues Leben bot, wenn sie nicht in weiser Voraussicht einige andere Frauen des Dorfes in der Heilkunst unterwiesen hätte. So wusste sie, dass ihr Platz ausgefüllt werden konnte mit der Zeit, und dass ihr Gewissen schweigen würde. Ihre Wohnstätte mit allem was darinnen war, gehörte von nun an der Gemeinschaft des Dorfes - und die Menschen würden gute Verwendung für alles finden, wenn sie sich damit abgefunden hatten, das die Besitzerin einen eigenen Weg gewählt hatte, der Trennung bedeutete.

Die Frau warf keinen Blick zurück in das kleine Dorf, als sie am Morgen des Herbsttages, der von einer blassen, großen Sonne beschienen wurde, die verschwommen durch den dichten Nebel zu sehen war, neben dem Mann her ritt, der bald der Gefährte ihres weiteren Lebens sein sollte.
Es genügte ihr zu wissen, dass sie den Anblick der einfachen Häuser, der Felder und der Gärten niemals vergessen würde, und noch weniger würde sie die Menschen vergessen, die jetzt schweigend am Rande des Dorfes standen, um ihr nachzusehen.
Keiner von ihnen wagte zu fragen, was geschehen war und was die Heilerin des Dorfes bewog, den Fremden zu folgen und fortzugehen. Die Menge war in Ehrfurcht erstarrt, denn niemals zuvor hatte sie Menschen gesehen, die von ganz anderem Schlage waren, als sie selbst und die stolz, aber nicht hochmütig von dannen ritten.

Die Frau in der Mitte der Recken vergoss stumm einige Tränen; sie ging nicht unendlich weit fort, aber dennoch erschien es ihr wie ein Abschied für immer. Traurigkeit erfüllte ihr Herz, doch je fremder die Gegend wurde, durch welche die Reise ging, desto mehr kam die alte Begeisterung für alles Neue zurück, und da sie niemals zuvor lange Strecken gegangen war, erfreute sie sich an der Landschaft, aus der sich langsam der Nebel zurückzog und einen hohen Schleier am Himmel bildete.
Der Weg führte am Fluss entlang nach Norden, und das Wasser plätscherte leise dahin. Der Gwathló war fast immer ein ruhiges Gewässer; nur wenn die Schneeschmelze im fernen Nebelgebirge einsetzte, aus dem er entsprang, dann wurde er zu einem reißenden Strom, der über die Ufer trat. Die Menschen hatten gelernt, mit dem Fluss und den jährlichen Überschwemmungen zu leben, denn sie machten das Land ringsum fruchtbar.
Die Frau hing ihren Gedanken nach. Sie war froh, dass die Krieger, die das Geleit bildeten, schweigsam waren und das auch der König stumm neben ihr ritt, denn so nahm nichts weiter ihre Aufmerksamkeit in Anspruch, als die Umgebung, in der sie immer wieder Sehenswertes entdeckte.

Die Stunden vergingen schnell, die Sonne stieg empor, vertrieb den hohen Nebel und erwärmte die frische Herbstluft noch einmal, bevor ihre Strahlen zu schwach werden würden, um dem nahenden Winter zu widerstehen.
Weit im Osten konnte man die langgezogene Kette des Nebelgebirges sehen, dessen höchste Gipfel schon mit einer weißen Kappe überzogen waren - ein untrügliches Zeichen für einen frühen Kälteeinbruch. Aber noch hatten die Bäume ihr herbstliches Laub und es leuchtete weithin in Rot, Braun und Gelb.
Ein sanfter Wind bewegte diese Farbenpracht und das hohe Gras auf den Ebenen, er spielte mit den Mähnen und Schweifen der Pferde und den langen Haaren der Menschen.
Das Murmeln des Flusses, das leise Stampfen der Hufe auf dem mit Gras bedeckten Boden und das Klirren des Sattelzeuges waren zu einer seltsamen Melodie in den Ohren der jungen Frau geworden. Sie lauschte bedächtig, denn es war ein Klang, der sie vorantrieb in eine unbekannte Zukunft. Ein Gedanke formte sich in ihrem Geist und sie brach das lange Schweigen, indem sie sich an den König wandte.

"Erlaubt mir eine Frage, mein Herr", begann sie zögernd und suchte nach den richtigen Worten. "Warum habt Ihr mich erwählt? Es gibt so viele Frauen, die eines Fürsten aus dem Westen viel würdiger wären als ich ..."
Liebevoll betrachtete der König sie und dann antwortete er: "Weil ich in dein Herz gesehen habe und dort fand, was ich suchte, meine Gebieterin.
Es war mir, als habe ich dich schon immer gekannt, lange bevor ich dich das erste Mal sah, izrê*, denn die Menschen sprachen über dich und die Worte wurden auch mir zugetragen. Was ich gehört hatte, ließ mich aufhorchen und deshalb kam ich, um zu sehen, was für eine Frau es ist, von der man nur Gutes zu berichten wusste und der man nachsagte, etwas ganz Besonderes zu sein.
Alle Worte entsprachen der Wahrheit. Und da stand mein Entschluss fest - ich wollte dich zur Gefährtin und keine andere, wenn die Grundfesten meines Reiches errichtet worden wären. So hoffe ich nun, dass wir einander lieben lernen werden, denn mein Herz wurde angerührt von dir und mein Geist sagt mir, dass ich eine kluge Wahl getroffen habe."

Die junge Frau errötete leicht und wandte den Kopf ab. Mit einem Male erschien ihr alles wie ein Traum, aus dem sie jederzeit erwachen würde, nur um über ihre dummen Sehnsüchte zu lachen, über die sie sich immer erhaben geglaubt hatte.
Ganz sachte spürte sie plötzlich eine Berührung an ihrer Hand. Der König hatte sein Pferd nahe an das ihre gelenkt und ihre Hand ergriffen.
"Ich werde immer für dich da sein und dich beschützen, niemals soll es dir an etwas fehlen und ich werde dich achten und ehren, solange mein Leben währt", flüsterte er ihr zu. "Das sind die Worte, die man unter meinesgleichen zueinander spricht, wenn man den Ewigen Bund eingeht."
Sie nickte bedächtig, und dann wiederholte sie diese Worte in tiefem Ernst ...

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So war sie Königin geworden, wie ihr Gemahl es ihr gesagt hatte. Schnell hatte sie gelernt, in ihre Aufgaben und Pflichten hineinzuwachsen und Freude daran zu finden. Sie hatte das Reich sich vergrößern und gedeihen sehen ... ihr Anteil an diesem Werk war nicht gering zu schätzen. Und es hatte nicht lange gedauert, da war die Liebe zu ihrem Mann erwacht in ihrem Herzen zu einem immerwährenden Feuer, das schon bei ihrer ersten Begegnung als winziger Funke zu glimmen begonnen hatte, denn das Schicksal hatte sie zusammengeführt, damit sie einander ergänzten. Und sie taten es vortrefflich viele Jahre lang ...
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