Arda Fanfiction

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Saradocs Reife

von Ethelfara Ceorlred

Die Reiter aus dem Süden

Es war wieder einmal so ein kalter, regnerischer Tag an der Wetterspitze. Saradoc Brandybock hielt zusammen mit einigen Waldläufern Wache an diesem hochgelegenen Aussichtspunkt. Sie hatten ihre niedrigen Zelte inmitten eines alten Mauerrings aufgeschlagen, der etwas unterhalb des Gipfels lag. Ihr Lagerplatz war wenigstens etwas besser vor dem pfeifenden Westwind geschützt, der sie nun schon seit zwei Wochen mit naßkaltem Wetter plagte. Aber hier oben, auf dem Aussichtspunkt wehte der Wind scheinbar aus allen Richtungen. Saradoc schüttelte sich und kniff die Augen zusammen. Dann sah er genauer nach Süden.

„Was ist es, Bruder? Hast du die Sonne gesehen?“

„Schön wäre es, Lothrandir. Aber die Sonne schert sich nicht um zwei triefnasse Wächter auf dem Wetterhügel: sie zieht es vor, andere Landstriche zu bescheinen. Aber sieh selbst, Bruder: im Süden lagert jemand, oder meine Augen sind aus Stein.“

Der Waldläufer sprang auf den Felsvorsprung und kniff nun seinerseits seine Augen zusammen. Dann pfiff er leise durch die zusammengekniffenen Zähne. „Tatsächlich. Da ist wer, und weit abseits der Straße. Daeros und Hurin können es nicht sein, sie wollten auf der Straße bis zur Bruinenfurt nach dem Rechten sehen. Entweder sind es Feinde – oder Freunde, die nicht ohne Not so weit abseits der Straße lagern. Pack deine Waffen, Bruder Hobbit, wir sehen nach.“

Saradoc nickte wortlos. Eigentlich brauchte er nicht viel zusammenzupacken: seinen kurzen ledernen Panzer, die dicke Wattejacke und den Schulter- und Oberarmschutz trug er bei diesem Wetter genauso ständig wie seine festen Stiefel (im Auenland vielleicht unüblich für einen Hobbit, aber ganz normal für einen Krieger gleich welcher Größe) und er legte sein Schwert hier draußen nie ab. Rasch griff er nach dem Bogen und den Pfeilen (fest eingepackt im Köcher konnten sie nicht naß werden), nahm noch zwei Verpflegungspakete und die beiden zogen los.

Vorsichtig zogen Lothrandir und Saradoc durch das dichte Unterholz. Die Waldläufer kannten die verborgenen Wechsel und Pfade gut, und in ihrer dunkelgrünen Kleidung fielen sie bei diesem düstergrauen Wetter noch weniger auf als ohnehin schon. Die Wachsamkeit der beiden hatte gute Gründe: seit ihrem Aufbruch von Bree hatte Saradoc schon dreimal gegen Räuber kämpfen müssen, die ahnungslosen Reisenden auflauern wollten. Und noch häufiger hatten sie es mit Wargen und Wölfen zu tun gehabt, die hier draußen in der Wildnis alles andere als scheu waren.

Bei strahlendem Sonnenschein war Saradoc von Bockenburg aufgebrochen, und Halros hatte ihn ohne allzu große Umschweife nach Bree gebracht. Sie machten in der Stadt allerdings keine Rast, sondern umgingen sie, und sie hielten sich gen Norden. Auf einem Feldweg kamen sie gut voran, und der Hobbit hatte sich über den ungewöhnlich geraden Verlauf gewundert. „Dies war einstmals eine wichtige Straße“ hatte Halros erklärt, aber nach zwei Wegstunden wandten sie sich wieder ostwärts. An einer Hütte, die verborgen in einer Talsenke lag machten sie Halt. „Hier bleiben wir die nächsten Tage“ hatte Halros verkündet, und Waldläufer begrüßten die beiden. Aber nach zwei Wochen wurde Saradoc zusammen mit dem erfahrenen Lothrandir zur Wetterspitze geschickt, und hier waren sie nun. Ab und zu war ein Bote vorbeigekommen und brachte Nachrichten und Vorräte und nahm Nachrichten mit. Und aus dem Sommer war allmählich ein kalter und regnerischer Herbst geworden, und die Räuber nahmen wieder an Zahl zu. Lothrandir vermutete, dass sie von der Aussaat bis zur Ernte als ganz normale, unauffällige Bauern im Breeland oder anderswo lebten und im Winter ihre Habseligkeiten durch Räuberei zu ergänzen gedachten. Und je weiter diese wilden Menschen von Bree entfernt lebten, um so weniger war klar, wem sie eigentlich dienten.

„Bree und das Breeland mit den Orten Archet, Schlucht, Hang und Stadel sind wohlbestellt und durch die Stadtwache wohlbehütet. Die Bewohner sind genauso anständig wie im Auenland oder im Bockland, gleich ob groß oder klein. Aber je weiter entfernt sich Leute angesiedelt haben, um so vorsichtiger müssen wir sein. Oft kommen Menschen aus Angmar, um hier zu siedeln. Die meisten sind einfach nur arme Kerle, die vor dem Feind fliehen, aber manche sind böse und ihm untertan.“

An diese Worte dachte Saradoc, als sie die Oststraße überquerten (es war genau jene Oststraße, die bei Neuburg über den Brandywein führte) und sich gleich wieder ins Unterholz schlugen. Die beiden Waldläufer behielten ihre Richtung stetig bei, und bald konnten die beiden deutlich den Geruch von brennendem nassem Holz wahrnehmen.

„Es ist ganz nah“ flüsterte Lothrandir. „Da vorne. Da ist jemand.“

„Ich schau es mir an“ wisperte Saradoc. „Der scheint verwundet zu sein.“

„Sei vorsichtig, Bruder.“

Der Hobbit nickte und näherte sich so leise wie ein Hobbit es nur konnte. Der Regen prasselte noch immer auf das Blätterdach, und der Mensch saß an einen Baum gelehnt. Er war fremdländisch gekleidet, aber die Kleidung kam Saradoc seltsam bekannt vor. Einstmals war es ein strahlendes Kettenhemd gewesen, das er unter dem zerrissenen Wappenrock trug, auf dem mit Mühe ein weißes Tier (konnte es ein Pferd sein?) auf dem ehemals grünen Tuch zu sehen war. In der müden Hand hielt der Mann noch immer sein Schwert umklammert.

Plötzlich raschelte es im Gebüsch, und ein riesiges, dunkles Geschöpf brach durch das Unterholz. Es stank, und es brüllte, und zu seiner Verwunderung konnte Saradoc es verstehen. Es hatte den Hobbit nicht entdeckt, sondern es schien hinter dem Menschen her zu sein.

„Habe ich dich elende Misthaufenratte endlich gefunden, forgoil! Dachtest du, du könntest dem Großen Häuptling einfach so mir nichts, dir nichts folgen, hä? Das glaubst aber auch nur du!“ Wütend hob das Wesen seine unförmige Keule, und der Mensch duckte sich und schrie. Aber der Schlag wurde nicht ausgeführt, und auch das Wesen schrie auf. Saradoc hatte einen raschen Schwertstoß gegen diesen Feind geführt. Der Hobbit kannte die alten Erzählungen, und ihm war klar, das da war ein Ork – oder Schlimmeres. Mit einem lauten Kampfschrei brach Saradoc aus dem Gebüsch hervor und führte einen weiteren Hieb gegen den Ork, der nochmals laut aufschrie.

„Was glaubst du, wer du bi…“ Ein weiterer Hieb ließ den Ork verstummen. Der Feind blickte ungläubig, als er merkte, dass er Blut spuckte und keinen Ton mehr hervorbrachte. Langsam sackte er zusammen, und Saradoc führte seinen letzten Schlag gegen diesen düsteren Krieger. Lothrandir eilte herbei, und staunend blieb er stehen.

„Du hast nicht wirklich diesen Uruk erschlagen, Bruder Hobbit? In dir steckt mehr als selbst Halros erahnen konnte!“

„Mag sein, Bruder, aber kommst du bitte? Es gibt Bedarf für deine Heilkunst!“

Die beiden knieten neben dem fremdländischen Reiter, und Lothrandirs Gesicht wurde ernst. Der Mann stöhnte erneut auf und sprach Worte in einer fremden Sprache. Zu Saradocs Erstaunen verstand er sie – halbwegs. Die Sprache war der Alten Hochsprache nicht unähnlich, die von Hobbits einst vom Brandywein bis zu den Turmbergen gesprochen wurde. Zum Glück wurde sie im Brandyschloss noch gelehrt!

„Na… los… schon… bringt es… endlich zu Ende!“ Der Mann hustete. „Es hat… sowieso… keinen Sinn mehr!“

„Was sollen wir zu Ende bringen? Dich bestimmt nicht, Reisender! Dein Feind liegt erschlagen auf dem Boden und wird dir kein Leid mehr zufügen können. Aber was hat dich hier hergeführt?“

„Ihr… seid kein Feind?“ Der Mann öffnete die Augen. Dann staunte er. „Ihr seid… keine Reiter Rohans! Aber wieso…?“

„Wir bringen dich erst einmal hier weg. Kannst du laufen?“

„Es sollte gehen. Es muss.“ Der Mann blickte grimmig. „Eine kleine Pause vielleicht…“

Saradoc wandte sich zu Lothrandir um. „Er spricht eine Abwandlung der Alten Hochsprache. Und er fragte nach Reitern von Rohan. Aber unser Freund ist arg geschwächt, dennoch will ich ihn nicht hier in der Wildnis zurücklassen.“

„Ich sicher auch nicht. Und jetzt erkenne ich es: Éorls Ross, da auf der Brust! Nur spreche ich seine Sprache nicht. Kannst du ihm erklären, dass ich ihn tragen will, Bruder?“

„Das… braucht Ihr nicht. Ich kann Euch verstehen. Ich bitte um Entschuldigung, meine Herren… aber ich würde selbst gehen,…“

„Ich trage Euch“ bestimmte Lothrandir. Sprach es, hob den Menschen sachte auf und sie machten sich auf den Weg zu ihrem Lager. Der Regen wurde wieder stärker, als sie die Straße überquerten, und nach zwei Stunden wurde der Mann sachte in eines der Zelte gelegt. Saradoc machte in ihrem kleinen Kessel Wasser heiß, und Lothrandir kümmerte sich um die Wunden des Mannes. Die beiden Waldläufer vergaßen darüber nicht, ihr Lager zu bewachen, aber an diesem Abend blieb alles ruhig. Lothrandir bat den Hobbit, bei ihrem Gast zu bleiben. Er wollte sich in der näheren Umgebung nach Freunden oder Feinden umsehen.

„Sei wachsam, Saradoc! Ich versuche unsere Brüder zu holen!“

Der Dùnadan war rasch verschwunden, und der Hobbit sah den Mann nachdenklich an. Er schien in einem unruhigen Schlummer zu liegen. Plötzlich hatte er seine Augen weit aufgerissen.

„Was ist es? Ist alles in Ordnung?“

„Ach, es ist nichts, Freund. Nur ein schlechter Traum. Das ist alles so unwirklich.“

„Das glaube ich dir gerne. Aber lasse dir von Saradoc Brandybock dem Hobbit sagen, dass du erst einmal das Schlimmste hinter dir hast!“

„Wenn es nur so wäre! Ach… aber lasse dein Herz nicht von meinen Sorgen und meinem Scheitern schwer werden. Saradoc der Hobbit ist ein größerer Krieger als Elfmar der Rohir, der seinen Marschall schmählich im Stich gelassen hat und ihn nicht aus den Klauen der Orks befreien konnte! Lange habe ich dieses elende Gezücht verfolgt, nachdem sie meine éored angegriffen und Marschall Éomund gefangen genommen hatten, und lange schon habe ich mein Pferd verloren! Aber sie haben ihn immer noch gefangen, und sie können nicht weit sein! Aber jetzt muss ich sie wohl ziehen lassen. Endgültig gescheitert.“ Elfmar vergrub sein Gesicht zwischen seinen Knien.

„Noch nicht ganz. Orks sind in der Nähe? Nun, das wird Arbeit geben. Wir halten hier in diesen nassen, einsamen Landen Wache, damit das Leben hier wenigstens etwas sicherer wird, die letzten Nachfahren von Königen und wir Hobbits, eines der wenigen noch mit ihnen verbündeten Völker. Also lass dir das Herz nicht schwerer werden als nötig, Elfmar der Rohir!“

„Leicht gesagt. Ich kann ja im Moment noch nicht mal mehr mein Schwert halten. Da ist selbst der kleine Saradoc der Hobbit kräftiger… was ist eigentlich ein Hobbit? Und welche Sprache war das, die du vorhin gesprochen hast? Nicht unähnlich dem Rohirrischen, der Sprache meines Heimatlandes, würde ich sagen.“

„Wir nennen sie die Alte Hochsprache. Nur wenige sprechen sie noch, und soweit ich weiß wird sie nur noch im Brandyschloss gelehrt, wo mein Vater wohnt und mein Großvater herrscht. Aber einstmals wurde sie überall in unseren alten Landen an der Langflut gesprochen, sagt man. Und Hobbits nannte man damals… hoibidla oder so, warte… holbytla glaube ich. Ja, das müsste das richtige Wort sein.“

Elfmars Augen öffneten sich weit vor Erstaunen. „Du bist ein hol-bytla? Da komme ich in den nassen, einsamen Norden, mutlos, entkräftet, und von wem werde ich gerettet? Von einem Nachfahren der alten Könige, einem Dùnadan und einem hol-bytla! Das wird mir in der Heimat keiner glauben – wenn mir denn jemals noch jemand zuhören will.“ Er senkte seinen Blick. „Ich habe meine Ehre wohl ein für allemal verloren und das Recht auf Rückkehr verwirkt.“

Lothrandir war rasch in ihr Lager zurückgekommen, und er brachte Daeros und Hurin mit. Sie hatten bis zur Bruinenfurt keine Räuber auf der Straße angetroffen und waren mehr als erstaunt, als Saradoc von seinem Kampf gegen den Uruk berichtete.

„Uruks, die nordwärts ziehen“ meinte Daeros nachdenklich. „Sie müssen die Straße unweit von hier, bei den Wetterbergen überquert haben. Dort ist der Grund felsig, und selbst Orks hinterlassen darauf keine Spuren.“

„Freilich, so konnten wir keine Spuren bemerken“ warf Hurin ein. „Aber wir werden sie verfolgen müssen, so oder so. Zu dumm, dass wir keine Pferde hier haben. Wir brauchen die Verstärkung unserer Brüder aus Saeradans Haus.“

„Ich werde gehen“ sagte Daeros. „Ich bin ausgeruht und schnell, und unsere Brüder werden sich auf ihre Pferde schwingen, wenn sie die Kunde erfahren. Wie viele Uruks sind es, Elfmar?“

„Etwa fünfzig waren es, die sich mit Herrn Éomund gen Norden abgesetzt hatten. Die anderen dürften von der Dritten éored schon längst besiegt worden sein.“

„Etwa fünfzig. Na gut.“ Lothrandir holte tief Luft. „Daeros, du machst dich gleich jetzt auf den Weg. Hurin, du bleibst hier bei Elfmar. Saradoc, du kommst mit mir mit: wir wollen herausfinden, wo sich diese Uruks herumtreiben.“

Rasch hatten die beiden sich wieder auf den Weg gemacht. Saradoc hatte eine Vermutung, was den Lagerplatz der Uruks anging: unterhalb der Wetterspitze gab es ein enges Tal, das von der Straße aus nordwärts führte, aber den Wanderer nirgendwo hinbrachte. Die Wände waren steil, und nur an wenigen, verborgenen Stellen konnte ein ortskundiger Kletterer sicher zum Talboden gelangen. Es schien ein vielversprechender Fluchtweg für unkundige Flüchtende zu sein, und schon oft hatten sie an dieser Stelle Räuber stellen können. Elfmars Schilderungen zufolge waren die Uruks aus dem Weißen Gebirge weit im Süden gekommen und kannten sich hier nicht aus.

„Dann wollen wir deine Vermutung überprüfen, Bruder Hobbit“ meinte Lothrandir. Vorsichtig folgten sie dem Talverlauf, und plötzlich stutzte der Dùnadan. Auf dem Boden lag etwas Glänzendes: er hob eine Schließe in Form eines Pferdekopfes auf!

„Auf jeden Fall ist hier ein Rohir vorbeigekommen, und es war nicht Elfmar.“ Saradoc untersuchte den Boden. „Da, schau. Die Fußspuren gehen weiter ins Tal hinein, und keine führen hinaus. Das kann unangenehm werden, vor allem für den Gefangenen.“

„Das ist übel. Und es wird schon dunkel, Saradoc!“

„Wird es.“ Der Hobbit lächelte grimmig. „Dunkel und neblig. Gut. Bruder, ich werde mich noch ein wenig weiter da hineinwagen. Mal sehen, was die Feinde da treiben. Spätestens in fünf Stunden mache ich dann Meldung.“

Langsam und vorsichtig schlich der Hobbit weiter in das enge Tal. Die Talwände wurden nicht so rasch enger wie er es zunächst vermutet hatte, und die Uruks schienen immer noch dem Talboden gefolgt zu sein. Bald roch Saradoc, dass da ganz bestimmte Feinde lagerten. Vorsichtig ging er in Deckung. Dann lauschte er. Unter dem üblen Volk schien ein Streit entbrannt zu sein, der offenbar heftig war. Der Hobbit konnte jedes Wort verstehen.

„Nee, ich sage dir, wir haben uns ganz gewaltig vertan! Wir kommen immer weiter in diesen verfluchten matschigen Norden, und weit und breit keine Verstärkung! Was auch immer sich der Häuptling dabei gedacht hat, es kann nichts Sinnvolles gewesen sein!“

Mehrere rauhe Stimmen murmelten laut, und dann wurde alles still. Jetzt sprach eine sanftere Stimme, die aber irgendwie böser klang. Saradoc schauderte.

„So, dachtest du dir. Dein Häuptling kann nichts Sinnvolles denken? Mein lieber Uftghâsh! Alles, was ich denke und mache ist sinnvoll, merke dir das. Ich könnte ja auch auf die Idee kommen, deinen Körper sinnvollerweise von deinem aufgeblasenen Kopf zu befreien. So!“

Ein dumpfes Platschen später sprach die Stimme wieder. „Ein Verräter weniger. Na gut. Du und du. Holt diesen dreckigen Gefangenen her, den Blonden! Guckt nicht so blöd! Macht!“ Der Hobbit konnte hören, wie ein Gefangener zum Häuptling gezerrt wurde. „Gut so. Und du da, Blonder, zapple nicht so. Pass auf: entweder gibts bald Lösegeld für dich, oder ich werde dich dem Roten Auge opfern. Und zwar auf diesem Berg da oben! Da ist eine alte Weihestätte, sagt man!“

Saradoc schluckte. Auf der Wetterspitze war sehr wohl eine Weihestätte, aber nicht von Orks. Die Dùnedain hatten dort einen Begräbnisplatz. Sollte er sich davonmachen und Lothrandir davon berichten oder abwarten? Für den Gefangenen könnte es so oder so zu spät sein. Irgendwas schien den Hobbit aber festzuhalten. Er hörte wieder den Häuptling reden.

„Na, Lösegeld ist in diesen Landen eh nichts wert, glaube ich. Dem Roten Auge ein Opfer bringen lohnt sich aber immer. Du da“ er schien einen seiner Orks anzuherrschen, „mach dem die Beine los. Und zwar nur die Beine! Gut. Ihr da, schert euch zu den anderen. Nur der Häuptling darf ein Opfer darbringen, so will es das Auge. Wehe, einer folgt!“

Murrend entfernten sich die anderen Uruks. Dann hörte Saradoc, wie dieser Häuptling näherkam und den Gefangenen unbarmherzig vor sich herstieß. Der Hobbit hatte sich zu gut versteckt, als dass der Uruk seine Anwesenheit bemerkte, und leise folgte er dem Häuptling. Der schien nichts außer einer Art Ritualmesser in der Hand zu haben, eine dünne, lange, krumme Klinge an einem häßlichen Griff. Und es schien, als ob der Häuptling nicht genau wüßte, wo in diesem dichten Nebel dieser Ritualplatz sein sollte. Da kam Saradoc eine Idee. Er warf einen Stein gegen die Felswand. Das Klacken des Steins hallte vielfach im engen Tal wieder.

„Wer… wer da? Zeig dich!“ Stille. „Zeig dich!!!“ Stille. Zögernd ging der Häuptling weiter. Der Nebel wurde dichter, und Saradoc grinste in sich hinein. Dann warf er wieder einen Stein. Sofort blieb der Häuptling stehen. „Jetzt zeig dich, Ratte!“ Stille. Der nächste Stein traf den Häuptling auf der Stirn. Einen Moment lang war der benommen, dann knurrte er und wankte in die Richtung, aus der dieser verflixte Stein gekommen sein musste. Aber da war nichts. Und wieder schlug ein Stein gegen die Felswand. Und wieder traf einer den Häuptling. Und wieder irrte der durch das Tal. Schon längst hatte er seinen Gefangenen irgendwo im Nebel stehen gelassen. Saradoc warf ein letztes Mal. Dieses Mal traf er genau zwischen die Augen. Der Häuptling sackte bewußtlos zu Boden. Der Hobbit eilte davon.

„Nicht erschrecken.“ Leise flüsterte er die Worte in der Alten Hochsprache. Der Gefangene zuckte zusammen. Rasch waren die Stricke durchtrennt und der Knebel entfernt. „Kommt mit. Rasch, Herr. Jetzt oder nie. Aber seid so leise wie möglich.“

Der Mensch schien zu verwirrt zu sein, um etwas anderes zu machen als Saradoc zu folgen. Schnell hatte der Hobbit ihn aus dem Tal geführt, und Lothrandir staunte nicht schlecht, als Saradoc jemanden von seinem Erkundungsgang mitbrachte.

„Wie ich es dir sagte“ grinste der Hobbit. „Die lagern im Tal, mitten in der dicksten Suppe und haben gar keine Ahnung, was los ist. Aber es wurde gefährlich: ihren Gefangenen wollte der Häuptling einem Roten Auge opfern.“

„Ein übles Ritual für einen üblen Glauben“ brummte der Dùnadan. „Machen wir uns auf den Weg. Bald dürfte uns eine ganze Urukhorde auf den Fersen sein.“

Die drei eilten die verborgenen Waldpfade zur Wetterspitze hinauf. Der Nebel lichtete sich, und starker Regen setzte ein. Die Felsen wurden glitschig, aber dafür wurde jede Fährte, die von irgendwelchen Spürnasen aufgenommen werden konnte weggewaschen. Der Mensch mühte sich, so gut er konnte auf den steilen Pfaden, aber Lothrandir und Saradoc passten auf, dass er nicht fehlging. Bald hatten sie das Lager auf der Wetterspitze erreicht. Elfmar schien wieder in einen unruhigen Schlummer gefallen zu sein, und Hurin meinte, ihm ginge es nicht gut. Ihm würde immer noch zusetzen, dass er seinen Marschall verraten habe.

„Der arme Kerl“ meinte Saradoc. „Wir haben diese Uruks ausfindig gemacht. Sie sind im Engen Tal, so wie wir es uns dachten. Es ist ein zu verlockender Fluchtweg.“

„Ich sehe, ihr habt jemanden befreit?“

„Ganz recht, das hat dieser hol-bytla“ rief der Mensch. „Mein Vater sprach davon, einmal einen in seinen Diensten gehabt zu haben, und er spricht von mutigen Kriegern, die niemand nach ihrer Körpergröße beurteilen soll. Wie sehr er doch recht hatte!“

„Nicht alle sind mutig und große Krieger, aber dieser hier ist es“ sagte Lothrandir stolz. „Und die Besten kommen und schließen sich unserer Wache an – für eine Weile. Manche gehen sogar in den Süden und dienen den Nachfahren der Éothéod, ihren alten Verbündeten.“

„Und halten auch dieses Bündnis in Ehren! Lasst Euch von Éomund Éorling, dem Dritten Marschall der Riddermark gesagt sein, dass auch ich den Bund in Ehren halte!“

Saradoc verbeugte sich. „Saradoc Brandybock dankt Euch sehr für Eure Worte, Herr. Aber wir stehen hier, mitten in der Wildnis, Meilen um Meilen von der nächsten befestigten, freundlichen Siedlung entfernt und es dürfte nicht allzu lange dauern, dann haben wir fünfzig stinksaure Uruks an der Backe kleben! Wie wollen wir vorgehen? Uns hier verteidigen und auf Verstärkung hoffen oder rasche Flucht gen Westen?“

„Uruks laufen bei Tag und bei Nacht und ruhen nicht, wenn sie aufgebracht sind“ sagte Éomund düster. „Und wenn ich mich hier so umschaue, dann scheint es keinen besseren Platz als diesen hier zu geben, um uns unserer Haut zu erwehren. Ich würde das Lager innerhalb dieses Steinkreises hier aufbauen. Nichts liegt oberhalb davon. Wir sollten einen guten Überblick über die Lande haben.“

Dem stimmten die anderen zu, und Saradoc meinte, dass es noch eine Sache gäbe, die zu klären wäre. Mehr sagte er nicht, dafür kroch er in ein Zelt. Elfmar wälzte sich unruhig hin und her.

„Elfmar. Es ist Zeit.“ Saradoc legte sachte seine Hand auf die Stirn des Menschen. Der erschrak und blickte den Hobbit mit aufgerissenen Augen an.

„Es ist nichts Schlimmes. Wir haben einen neuen Gast hier im Lager.“

Müde schälte Elfmar sich aus seinem Lager, und er schwankte, als er draußen wieder auf die Beine kam. „Ich bin noch immer zu entkräftet, Freund. Wie soll ich euch jemals nützen?“

„Begrüße erst einmal unseren neuen Gast. Ich bin mir sicher, dass es dir dann besser geht.“

„Ach, Saradoc, deinen Optimismus hätte ich gerne.“ Weiter kam der Mensch nicht. Er rieb sich die Augen. „Kann das sein? Saradoc?“

„Na, nun komm! Herr Éomund, hier ist ein weiterer Krieger Eurer éored, der Euren Peinigern auf den Fersen geblieben ist!“

„Und ich dachte, ich wäre von allen aufgegeben worden! Elfmar! Das gibt es doch nicht!“ Éomund drückte seinen Krieger an sich. „Elfmar! Wie um alles in der Welt kommst du hierher?“

„Das ist eine lange Geschichte, mein Marschall.“

„Dann hebe sie für bessere Zeiten auf. Saradoc soll stattdessen von meiner Befreiung berichten. Anschließend verlegen wir unser Lager auf die Bergspitze. Wir dürften bald Besuch haben.“

Der Hobbit berichtete kurz von seinem Erkundungsgang und wie er den Streit der Uruks mit anhören konnte, wie die Feinde unsicher waren, was sie im ihnen unbekannten nördlichen Wilderland tun sollten und dass der Häuptling ein Opfer bringen wollte. Und Saradoc berichtete davon, wie er diesen Häuptling im dichten Nebel von seinem Gefangenen weglockte.

„Also wurde ich durch einen Zauber der hol-bytla gerettet“ meinte Éomund mit einem Augenzwinkern. „Der Uruk wird es niemals verstehen. Die Orks im Weißen Gebirge glauben eher deshalb an das Rote Auge, weil sie meinen, sie müßten das tun und verstehen es trotzdem nicht. Aber der Aberglaube an Nebelgeister, Schneemonster und Felsdämonen ist bei ihnen um ein Vielfaches stärker. Ihr müsst ein starker Nebelgeist sein, Saradoc! Geradezu unheimlich! Wenn diese Uruks wirklich so abergläubisch sind wie die Orks aus dem Weißen Gebirge, dann dürften wir es (wenn überhaupt) mit sehr verängstigten Feinden zu tun bekommen.“

„Und wenn nicht, dann wird es interessant“ brummte Lothrandir. „Wenn wir nicht so wenige wären, dann hätte ich ja einen Kundschafter ausgeschickt. Aber so muss es reichen, wenn wir unseren Aussichtspunkt besetzen.“

Hurin besetzte die Wache, während die anderen rasch das Lager unterhalb der Bergspitze abbrachen und im Steinkreis oben auf dem Gipfel wieder errichteten. Saradoc beobachtete mit Sorge, dass Elfmar noch immer reichlich entkräftet war und Éomund ging es nicht besser. Verfolgung und Gefangenschaft forderten ihren Tribut. Dennoch waren die beiden Rohirrim guten Mutes.

Gegen Nachmittag kam ein Warnruf von Hurin. Rasch eilte er herbei.

„Die Feinde kommen“ meldete er atemlos. „Sie haben sich auf dem kompletten Hang aufgefächert. Aber es sind gerade mal acht Uruks.“

„Acht von fünfzig?“ Lothrandir kratzte sich verwundert am Kopf. „Soweit ich weiß haben wir bei unserem Erkundungsgang niemanden erschlagen. Wie dem auch sei: zu den Waffen, Brüder!“

Saradoc hatte seinen Bogen rasch aufgespannt und einen Pfeil eingelegt. Hurin war ebenfalls schussbereit, und Lothrandir hatte sein Schwert gezogen. Éomund tat es dem Waldläufer gleich, und Elfmar hatte sich mit Saradocs Speer bewaffnet. Der Hobbit atmete tief durch.

Dann erschien der erste Uruk auf dem Abhang unterhalb des Steinkreises. Sieben weitere folgten, sie hatten sich wieder auf dem schmalen Pfad massiert. Lothrandir hob die Hand.

„Wer zieht hier durch Arnor?“

„Wir, du Ratte. Gib uns die beiden Blondköpfe, dann lassen wir euch vielleicht in Frieden. Das kommt auf die Art eurer Übergabe an.“

„Warum sollen wir euch unsere Freunde ausliefern? Was glaubt ihr wohl, was ihr hier in meinem Land zu sagen habt?“

„Alles, was wir wollen, und wann wir wollen. Die Blondköpfe sind unser Eigentum, und wir fordern es zurück. Oder wir kommen und fressen euch. Wir sind in der Mehrzahl.“

„Ihr fordert hier gar nichts. Im Gegenteil: ihr werdet euch auf euren Heimweg machen, und zwar jetzt, hier und sofort.“

„Wir lassen uns von dir gar nichts sagen.“ Der Uruk stürmte los, kam aber nicht weit. Saradocs Bogen sang, und der Feind brach tot zusammen. Rasch hatte der Hobbit einen weiteren Pfeil eingelegt, und der nächste Uruk stolperte und stand nie wieder auf. Als der dritte fiel schrie ein Uruk entsetzt auf. „Das ist dieser Geist, von dem ich euch erzählt habe. Flieht, Narren, ehe er über uns alle ist und uns holt! Flieht! Er hat den Häuptling schon verhext!“

Plötzlich rannten die verbliebenen Uruks kreuz und quer, und Saradoc erlegte noch zwei weitere. Das reichte, um die wenigen überlebenden Feinde zu wilder Flucht zu treiben. Lange noch konnten die Verteidiger ihre Schreie hören, die langsam erstarben.

„Was war das denn?“ Saradoc sammelte enttäuscht seine Pfeile wieder ein. Mit einem Fußtritt ließ er die Kadaver den Abhang hinunterrollen.

„Na was wohl, Saradoc, du Hexer!“ lachte Hurin. „Du hast die alle verhext. Gib es zu, um Mitternacht hüpfen dann schwarze Frösche gen Süden. Oder sowas.“

„Na, mal abwarten. Ich glaube noch nicht so ganz daran, dass wir aus der Gefahr raus sind. Es waren insgesamt acht von fünfzig. Was ist mit dem Rest? Vielleicht ist der nicht so leichtgläubig oder die haben von der Begegnung hier oben nichts mitbekommen.“

„Wir werden auf jeden Fall wachsam bleiben.“

Wenige Momente später krachte weit unten etwas durch Unterholz, und dann hörten sie entfernte Orkschreie, die sich in kopfloser Panik zu entfernen schienen. Saradoc kletterte rasch auf den Aussichtspunkt. Lothrandir und Éomund folgten ihm etwas langsamer.

„Wie ich geahnt hatte“ meinte der Rohir. „Seht, da unten! Eine feine wilde Flucht ist das!“

Unten auf der Straße floh ein wüster, ungeordneter Haufen gen Osten, auf das ferne Nebelgebirge zu. Lothrandir lachte.

„Sollen sie doch den ganzen Weg bis zum Gebirge rennen! Es ist nicht mehr weit, und die Elben des Gebirges werden sich ihrer annehmen. Zu dumm, dass wir ihre genaue Zahl nicht feststellen können. Bleibt wachsam! Es kann durchaus sein, dass der eine oder andere Uruk zurückgeblieben ist und sich seine Rache persönlich holen will. Und wir sollten herausfinden, was aus diesem Häuptling geworden ist!“

„Gut möglich, dass wir diese Aufgabe abgeben können“ erwiderte Saradoc. „Seht nach Westen! Dort kommen Reiter, die uns unter Garantie bekannt vorkommen!“

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