Arda Fanfiction

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Sul Lomin - die geheimnisvolle Schatzkarte

von Celebne

Eine grausame Strafe

„Wer von euch beiden hat den Krug aus Dol Amroth heruntergeworfen?“fragte Denethor grimmig seine beiden Söhne.
Der zehnjährige Faramir und der fünfzehnjährige Boromir blickten ihren Vater schuldbewußt an. Die zwei Jungen hatten sich während eines Spiels gestritten und herumgebalgt, bis der wertvolle Krug, welcher einst ihrer verstorbenen Mutter gehört hatte, heruntergefallen und in tausend Scherben zerbrochen war. Eigentlich waren alle beide schuld, denn ihr Vater hatte ihnen verboten, im großen Kaminzimmer zu spielen. Dafür gab es genug andere Räumlichkeiten in der Zitadelle.
Der Truchseß wiederholte seine Frage, diesmal bedeutend zorniger. Die Kinder standen vor dem großen Schreibpult und schienen fast zu schrumpfen vor Angst, denn sie hatten Furcht vor der drakonischen Strafe, die ihr Vater gegen den Übeltäter verhängen würde.

„Wir waren es beide“, stieß Boromir schließlich kleinlaut hervor. „Wir hatten Streit miteinander.“
„Und wer hat mit dem Streit angefangen?“ wollte Denethor wissen und erhob sich von seinem Lehnstuhl, der hinter dem Schreibpult stand.
„Ich habe angefangen, weil ich das Spiel verloren habe“, sagte Faramir nun unglücklich. „Boromir hat geschummelt. Er verliert immer bei Brettspielen.“
„Wie kannst du behaupten, dass dein Bruder schummelt!“ schrie ihn Denethor an. „Er ist der Ältere und Klügere von euch beiden. Du bist nur ein kleiner Nichtsnutz, der den ganzen Tag vom Drachentöten träumt.“
Faramir zuckte zusammen, als er das hörte. Sein Vater sprach die Wahrheit. Der kleine Junge vernachlässigte oft seine Studien und versank in Tagträumereien.
„Du bist der Schuldige!“ fuhr Denethor wütend fort und packte den Zehnjährigen so grob an seinen blonden Lockenschopf, dass dieser erschrocken aufschrie. „Zur Strafe wirst du in die Kellergewölbe des Weißen Turms gesperrt. Dort kannst du über dein Vergehen nachdenken. Ich bin mir sicher, dass du dannach nie wieder so etwas tun wirst.“
„Bitte, Vater, tu das nicht!“ bettelte Boromir entsetzt den Truchseß an. „Faramir ist noch viel zu klein für diesen schrecklichen Ort. Er wird dort vielleicht Schaden an seiner Seele nehmen. Man sagt, dass es dort unten spukt.“
Denethor lächelte grausam.
„Er wird es schon überleben“, sagte er barsch. „Und jetzt schweige, Boromir, sonst stecke ich dich mit dazu.“
Der größere Junge schluckte. Nein, er wollte auf keinen Fall mit in diese Gewölbe. Faramir tat ihm furchtbar leid und er hoffte, dass sein Vater die Strafe nicht allzu sehr ausdehnte.

Denethor zerrte Faramir am Ärmel seiner Hoftracht zum Portal der Zitadelle hinaus. Die Wachen betrachteten den Jungen mitleidig. Sie ahnten, dass der Kleine wieder einmal etwas angestellt hatte. Der Truchseß ging mit Faramir quer über den großen Hof mit dem Weißen Baum. Dann sperrte er die Tür des Weißen Turms auf und stieß seinen Sohn unsanft hinein.
Faramir mußte sich erst an das Halbdunkel im Turm gewöhnen und er riß die Augen weit auf, um besser sehen zu können.
„So, und jetzt geh die Wendeltreppe hinab!“ fuhr Denethor ihn grimmig an. „Schnell, denn ich habe nicht ewig Zeit.“
Schuldbewußt lief Faramir die Treppe hinab. Es wurde immer dunkler und ein Modergeruch schlug ihm entgegen. Schließlich erreichte er eine Tür aus schweren Eichenbohlen. Denethor schob Faramir beiseite und öffnete die Tür mit einem großen, rostigen Schlüssel. Die Türangeln quietschten, als der Truchseß die Tür aufschob. Drinnen war es stockfinster und die Luft roch abgestanden und stickig.
„Vater,  es ist hier vollkommen dunkel!“ stieß Faramir ängstlich hervor.
Denethor drückte ihm zwei Zundersteine in die Hand.
„Damit kannst du dir eine Kerze anzünden, falls du eine findest“, meinte er verächtlich. „Ich bin ja kein Unmensch.“
Dann verließ er Faramir und warf die Tür ins Schloß. Der Junge hörte, wie sein Vater von außen zusperrte und die Treppe wieder hinaufging.

Faramir saß jetzt ganz alleine im Dunkeln. Er hatte entsetzliche Angst. Es war ein Gefühl, als ob man ihn lebendig begraben hatte. Ganz langsam begannen sich seine Augen an die Dunkelheit in den Gewölben zu gewöhnen. Er entdeckte mehrere Lüftungsschächte oben unter der Decke des Raumes. So kam wenigstens etwas frische Luft in diese grässlichen, unterirdischen Kammern. Als sich der Junge vorsichtig etwas herumtastete, entdeckte er tatsächlich mehrere Bienenwachskerzen, die auf einem kleinen Tisch lagen. Mit Hilfe der Zundersteine gelang es ihm, die Kerzen zu entzünden. Er sah, dass die Kerzen rasch herunterbrennen würden, daher begnügte er sich mit einer. Das warme Kerzenlicht erhellte den Raum ein wenig und Faramir sah allerlei Gerümpel herumstehen. Es gab etliche Truhen und Regale, in denen Helme und Zinngeschirr herumstanden. Natürlich war alles sehr verstaubt und riesige  Spinnennetze hingen von der Gewölbedecke herab.

Vor den Truhen fürchtete Faramir sich, denn sie sahen ähnlich aus wie die Sarkophage in Rath Dînen, der Stillen Straße. Die Zeit kroch im Schneckentempo dahin und der Junge begann sich immer unbehaglicher zu fühlen. Er starrte wie gebannt auf die großen Truhen, denn er glaubte, es würde sich jeden Moment eine von ihnen öffnen und eine Knochenhand herauskriechen.
„Ich will hier raus“, flüsterte er schniefend und wischte sich über die Augen.
Plötzlich hörte er das Fiepen einer Maus. Er beobachtete, wie sie über den Steinboden lief und schließlich in einem Loch in der Mauer verschwand.  Wenigstens war er nicht ganz alleine hier unten. Er fragte sich, wie lange sein Vater ihn hier lassen wollte. Noch nie hatte er Faramir in den Kellergewölben des Turmes eingesperrt. Früher war der Junge immer in sein Zimmer eingeschlossen worden. Diese Strafe hatte gewöhnlich zwei Tage gedauert.
Faramir dachte mit Schrecken daran, dass er hier  unten vielleicht auch zwei Tage bleiben mußte.
„Nein, bitte nicht!“, murmelte er entsetzt.

Bis dahin war er wahrscheinlich vor Angst gestorben. Er erhob sich von dem alten, wackligen Stuhl, auf dem er gesessen hatte, und lief in dem dunklen Raum ein wenig auf und ab. Das flackernde Licht der Kerze warf unheimliche Schatten an die Wand, die ihm ebenso Angst machten. Von den Truhen hielt er gebührenden Abstand. Er sah eine weitere Maus über den Boden huschen und er mußte ein wenig lächeln. Er fragte sich, wo die kleinen Tierchen hier unten Futter fanden. Neugierig folgte er der Maus, die auch auf dasselbe Loch unter der Mauer zulief. Als sie darin verschwand, bückte sich der Junge, um das Loch näher zu begutachten. Dabei stützte er sich mit der Hand an der Mauer ab. Plötzlich gab der Steinquader nach und rutschte mit einem scharrenden Geräusch nach hinten. Erschrocken sprang Faramir zurück, denn er befürchtete einen Einsturz des Gewölbes.

Eine Staubwolke drang durch das Loch, als der Stein auf der anderen Seite herunterplumpste. Der Junge hustete und wischte sich die tränenden Augen. Als sich der Staub wieder etwas gelegt hatte, nahm er neugierig die Kerze, um zu sehen, was sich hinter dem Loch in der Mauer verbarg. Zu seinen Erstaunen entdeckte er ein weiteres Gewölbe. Er wunderte sich, dass es dazu keine Tür gab. Anscheinend hatte man diesen Keller einfach zugemauert. Aber warum?
Faramirs Wissbegierde war größer als seine Angst und er schob sich vorsichtig durch das Loch in der Mauer. Er passte gerade durch. Mit den Fingern hangelte er nach seiner Kerze, die er draußen im anderen Gewölbe auf den Boden abgestellt hatte. Er begann den Raum staunend auszuleuchten. Die Luft war furchtbar stickig in dem Raum und Faramir begann erneut zu husten. In einer Ecke der Kammer sah er einen hohen Lehnstuhl und zu seinem Erstaunen sah Faramir darauf eine zusammengekauerte Gestalt sitzen.

„Wartet, ich werde Euch helfen!“ rief der Junge aufgeregt und lief zu dem Lehnstuhl hin.
Als das Kerzenlicht jedoch auf das Gesicht der Gestalt fiel, schrie Faramir gellend auf:
Es handelte sich um eine mumifizierte Leiche. Dieser Mann mochte hier vielleicht schon viele hundert Jahre sitzen. Die vermoderten Gewänder waren über und über von Staub bedeckt, aber die Knochenhände des Toten umkrallten eine Schriftrolle. Obwohl Faramir sich von seinem Schrecken noch nicht erholt hatte und vor Angst schlotterte, fasste er sich ein Herz und schnappte sich die Schriftrolle, denn er war einfach zu neugierig. Die mumifizierten Hände zerbröselten teilweise dabei und Faramir begann vor Angst und Ekel zu schreien. Mit der Schriftrolle in der Hand verließ er eilends die geheime Kammer wieder.
Fieberhaft versuchte er von außen diese Kammer irgendwie zu verschließen. Er stopfte alles mögliche, was er in dem Kellergewölbe fand, in das Loch in der Mauer: alte Decken, das Zinngeschirr und auch einen Teil der Helme.
Faramir hatte keine Ahnung, wie er das hier länger überstehen sollte, ohne vor Angst wahnsinnig zu werden:  er befand sich nur ein paar Schritte von einer verwesten Leiche entfernt.

Er begann laut zu schreien und zu weinen. Doch niemand hörte ihn. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, den Besitz des Toten zu rauben. Faramir überlegte sich, ob es nicht sinnvoller war, die Schriftrolle wieder zurückzutragen. Aber keine zehn Pferde brachten ihn noch einmal in diese Geheimkammer.
Plötzlich hörte er Schritte außen auf der Treppe und er begann Hoffnung zu schöpfen.
„Hier unten ist ein Toter, holt mich bitte heraus!“ brüllte er, so laut er konnte.
Dabei trommelte er wie wild an die Tür.

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