Arda Fanfiction

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Sul Lomin - die geheimnisvolle Schatzkarte

von Celebne

Die Schatzkarte

Als Faramir merkte, dass die Tür aufgeschlossen wurde, verbarg er rasch die Schriftrolle unter seinem Gewand. Rhivad, der treue Diener, stand vor ihm mit einer Schüssel heißer Suppe.
„Was ist denn passiert, kleiner Herr? Warum schreit Ihr denn so?“ fragte er besorgt.
„Ihr müsst meinen Vater holen, Rhivad“, flehte Faramir den Diener an. „Ich habe eine Leiche gefunden.“
Rhivad wurde blaß, als er das hörte. Der Junge hatte ihn noch nie angelogen und er konnte gut die Angst in Faramirs weit aufgerissenen Augen sehen.
„Wartet bitte!“ sagte er und stellte die Suppe auf einer der Truhen ab.

Er ging eilig wieder hinaus und schloß ab. Faramir hörte, wie er die Treppe förmlich hinaufstürmte. Es dauerte jedoch viele bange Minuten, bis endlich wieder Geräusche im Turm ertönten. Der Junge vernahm die grimmige Stimme seines Vaters. Offensichtlich war der Truchseß von neuem verärgert. Dann polterten schwere Schritte die Treppe hinab. Die Tür wurde erneut aufgeschlossen und Denethor stemmte seine Fäuste mit finsterem Gesicht in die Hüften.
„Was ist hier los?“ fragte er ungeduldig. „Rhivad faselte etwas sehr merkwürdiges.“
„Vater....da...drüben ist ein Toter“, stammelte Faramir völlig durcheinander. „Da...in der Geheimkammer.“
Er deutete auf das zugestopfte Loch in der Mauer. Denethor schob seinen Sohn beiseite und räumte das Loch wieder frei. Er nahm eine Kerze und leuchtete hinein.
„Tatsächlich“, murmelte er schließlich. „Ich denke, das war genug Strafe für dich. Komm mit!“
Er packte Faramir unsanft am Arm und führte ihn die Wendeltreppe hinauf. Das helle Tageslicht blendete den Jungen und er kniff die Augen zusammen.
„Vater, wer war dieser tote Mann?“ fragte Faramir schließlich tapfer, während sie über den Hof liefen.
„Das weiß ich selbst nicht“, meinte der Truchseß ungehalten. „Jedenfalls hätte ich dich nicht da unten eingesperrt, wenn ich davon gewusst hätte.“

Als sie die Zitadelle erreicht hatte, übergab Denethor seinen jüngsten Sohn erst einmal Rhivad, seinem treuesten Bediensteten und befahl ihm, Faramir in den Badezuber zu stecken. Tatsächlich war der Junge ziemlich staubbedeckt und schmutzig.
Zum Glück gelang es Faramir, vorher noch schnell die Schriftrolle in seinem Schlafgemach zu verstecken.
Während er im warmen Wasser saß und sich die Seife aus den langen Haare wusch, kam Boromir in die Badestube.
„Faramir, du bist ja der reinste Held“, meinte er grinsend. „Ich habe gehört, dass du in den Gewölben eine Leiche entdeckt hast. Ich glaube, ich wäre vor Angst gestorben.“
„Ich bin ja fast wirklich gestorben“, murmelte der Zehnjährige verstört. „Wenn es nur ein paar Augenblicke länger gedauert hätte, wäre ich tot umgefallen vor Angst.“
Boromir fuhr seinem Bruder mitleidig über das nasse Haar.
„Aber jetzt hast du es ja überstanden. Ich hoffe, Vater überlegt sich niemals wieder solch eine Strafe.“
„Das nächste Mal werde ich darauf bestehen, dass er mir den Hintern versohlt“, meinte Faramir mit einem bedrückten Lächeln.

Boromir reichte seinem Bruder jetzt ein Handtuch und der Junge stieg aus dem Zuber.
„Darf ich dir ein Geheimnis verraten?“ flüsterte Faramir, während er sich abtrocknete. „Aber du darfst es niemanden weitererzählen.“
„Ich verspreche es hoch und heilig, wie immer“, sagte der Fünfzehnjährige lächelnd und legte seine rechte Hand zur Bekräftigung aufs Herz.
„Ich habe eine alte Schriftrolle bei dem Toten gefunden und sie an mich genommen“, erzählte Faramir mit gedämpfter Stimme. „Vater weiß nichts davon. Und ich möchte, dass er vorerst nichts erfährt. Ich will sie als Andenken behalten – verstehst du?“
Boromir seufzte und fuhr sich durch das mittelblonde, glatte Haar.
„Du warst schon immer ein begeisterter Anhänger von alten Schriften“, sagte er schließlich. „Aber ich halte es für keinen guten Einfall, wenn du diese Schriftrolle vor Vater verbirgst. Vielleicht enthält sie irgendeine wichtige Botschaft.“
„Wie wichtig kann denn diese Botschaft sein, wenn sie vielleicht tausend Jahre in dieser Kammer schmorte?“ widersprach Faramir sofort. „Und wenn ich nicht durch Zufall diesen Steinquader berührt hätte, würde sie auch die nächsten tausend Jahre dort unten schlummern.“

Boromir sah seinem Bruder nachdenklich zu, wie er sich eine frische Tunika und dunkle Hosen anzog. Dann legte er ihm feierlich die Hände auf die Schultern.
„Ich möchte, dass du Vater diese Schriftrolle zeigst, falls sie irgendetwas wichtiges enthält, was für Gondor von Nutzen sein könnte.“
„Das werde ich natürlich tun“, versprach jetzt Faramir und legte seine Rechte aufs Herz.
Jetzt lachte Boromir fröhlich auf und fuhr dem Jungen durch das lockige Haar.

Beide verließen gutgelaunt die Badestube und Faramir machte sich sogleich auf den Weg in sein Gemach. Er wollte nun unbedingt herausfinden, was in der Schriftrolle stand. Doch sein Bruder machte ihm einen Strich durch die Rechnung.
„Vater wartet mit dem Nachtmahl auf uns. Willst du ihn erneut erzürnen?“
Widerwillig folgte Faramir seinem Bruder in den großen Speisesaal der Zitadelle. Denethor saß bereits an der Tafel und hatte ungeduldig die Arme verschränkt.
„Da seit ihr ja endlich“, bemerkte er mürrisch und wedelte mit der rechten Hand, damit die Bediensteten die Speisen auftrugen.
„Faramir hatte ziemlich viel Schmutz und Staub abzuwaschen“, meinte Boromir entschuldigend und setzte sich auf seinen Platz an der kleinen Tafel.
„Das stimmt“, bemerkte der Truchseß belustigt. „Es war ziemlich viel Staub da unten, wie ich bemerkt habe.“

Faramir blickte schweigend auf seinen Teller. Ihm als Kind war nicht gestattet, beim Essen zu reden. Boromir als fast Erwachsener durfte dies dagegen.
„Hat man denn schon herausgefunden, wer dieser Tote ist?“ fragte er seinen Vater, während er seinen Teller mit Braten und Gemüse vollschaufelte.
„Ich habe bereits die Schriftgelehrten in Kenntnis davon gesetzt“, erzählte Denethor seufzend. „Wir werden das Geheimnis dieser Leiche schon noch lüften. Ich habe sogar nach Mithrandir schicken lassen, der derzeit in Süd-Gondor weilt.“
Faramir strahlte, als er hörte, dass der graue Zauberer nach Minas Tirith kommen würde. Er mochte den alten Mann sehr, denn dieser nahm sich immer sehr viel Zeit für den Jungen. Nach Denethors Ermessen viel zu viel Zeit.

Es dauerte fast eine Ewigkeit, bis der Truchseß endlich die Tafel aufhob und die Jungen gehen durften. Sie wünschten ihrem Vater artig eine gute Nacht und dann folgte Boromir seinem Bruder in dessen Zimmer. Er wollte auch wissen, was in dieser Schriftrolle stand. Sie gingen beide in Faramirs Gemach und verriegelten dann dies von innen.
Der Junge zündete mehrere Kerzen an, die auf seinem kleinen Schreibpult standen, und rollte dann die Schriftrolle vorsichtig auf. Sie war uralt und an manchen Stellen schon sehr brüchig. Während des Aufrollens flog ein Stück weiches Leder heraus. Boromir fing es auf und betrachtete es neugierig. Er pfiff dabei leise durch die Zähne.
„Das ist eine Landkarte“, meinte er schließlich überrascht. „Und darauf ist ein großes Kreuz eingezeichnet. Das muß etwas Wichtiges bedeuten!“
Faramir blickte erstaunt auf die Landkarte. Sie zeigte das Nebelgebirge, welches im Norden von Mittelerde lag. Dicht neben dem Gipfel des Methedras war das Kreuz eingezeichnet.
„Ich möchte wissen, was das zu bedeuten hat“, meinte Boromir nachdenklich und rieb sich das Kinn, das seit kurzem von einem Bartflaum bedeckt war.
Faramir wandte sich jetzt wieder der Schriftrolle zu, die aus Pergament bestand.
„Der Weg zum Sûl Nomin“, las er seinem Bruder vor. „Die Überschrift ist in Sindarin geschrieben, doch der übrige Text in Quenya. Ich kann das nicht lesen. Vater hat die Quenya-Stunden aus meinem Unterrichtsplan gestrichen und dafür Waffenkunde eingesetzt.“

Verzweifelt sah er Boromir an.
„Du hast doch Quenya gelernt. Kannst du das übersetzen?“
Der Fünfzehnjährige wurde leicht rot. Er hatte den Sprachunterricht immer gehasst und konnte nur ganz schlecht Quenya.
„Das ist eine tote Sprache, die heutzutage kaum jemand mehr spricht, nicht einmal die Elben“, murrte er. „Ich denke, es ist keine Schande, wenn man kein Quenya beherrscht.“
„Aber du musst doch irgendetwas davon entziffern können“, jammerte Faramir enttäuscht.
Boromir las den Text wieder und wieder durch, bis ihm die Schweißperlen auf der Stirn standen.
„Das ist irgendein uraltes Gedicht und es geht um die Valar, wie sie die Welt erschaffen haben. Morgoths und Aules Namen kann ich entziffern.“
„Sûl Lomin bedeutet ‚Kelch der Weisheit’“, warf Faramir aufgeregt ein. „Was bedeutet das?“
„Hm, ich glaube, es handelt sich dabei um einen Schatz“, meinte Boromir und kratzte sich verlegen an der Wange. „Aber ich weiß es nicht mit Sicherheit.“
„Jemand muß uns dieses Gedicht übersetzen“, fuhr der Junge mit heiserer Stimme fort.
„Was hältst du von den Gelehrten Gondors, die diese Sprache beherrschen?“ fragte Boromir stirnerunzelnd.
„Nichts“, erwiderte Faramir trotzig. „Sie sind doch alle eng mit Vater befreundet und werden ihm sofort Bericht erstatten.“
„Gut, dann müssen wir warten, bis Mithrandir in die Stadt kommt“, beschloß Boromir seufzend. „Er wird uns sicher helfen können und verschwiegen ist er auch.“
Faramir nickte und seufzte ebenfalls. Er brannte darauf, zu erfahren, was es mit diesem Gedicht auf sich hatte.

Einige Tage vergingen und die beiden Söhne des Truchseß fragten immer wieder nach, ob die Herkunft des unbekannten Toten schon geklärt sei. Selbst Denethor war neugierig und wartete gespannt auf Nachrichten. Man hatte inzwischen den Toten aus der geheimen Kammer herausgeholt und den Gelehrten zu Untersuchungszwecken übergeben. Sie hatten herausgefunden, dass die zerlumpten Kleider, die an seinen Gebeinen hingen, etwa vor fünfhundert Jahren Mode in Gondor gewesen waren. Fünfhundert Jahre zuvor hatte Truchseß Cirion geherrscht. Er war der Berühmteste aller Truchsessen, denn er hatte damals Eorl das Lehen Rohan gegeben, weil er ihm geholfen hatte, das Land Gondor von feindlichen Balchoth und den Korsaren zu befreien. Umso rätselhafter erschien es Denethor und seinen Söhnen, dass ausgerechnet in dieser ruhmvollen Zeit ein Mann in den Gewölben des Weißen Turmes eingemauert worden war.
Ein Gelehrter wurde extra von Denethor beauftragt, in den Archiven der Stadt nach den Zeitgeschehnissen von damals zu forschen.
Alle warteten gespannt auf das Ergebnis, doch der Gelehrte wurde nicht fündig – im Gegenteil: er behauptete, in dem alten Buch, in welchen die Annalen zu Cirions Zeit aufgezeichnet waren, fehlten einige Seiten.
Faramir jedoch hatte ganz andere Probleme: er wurde nachts von Albträumen gequält seit jenem verhängnisvollen Tag und er konnte nur noch mit Licht einschlafen. Denethor machte sich bittere Vorwürfe, als er davon hörte, aber er ließ sich vor Faramir nicht anmerken, dass er sich Sorgen um ihn machte.

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