Arda Fanfiction

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Sechs Leben

von Feael Silmarien

Schatten über Gondor

Bergil, Beregonds Sohn, wurde von einem tiefen, undefinierbaren Grollen geweckt. Tag? Unbekannt. Uhrzeit? Unbekannt. Seit die Dunkelheit heraufgezogen war und die Geflügelten Schatten über der belagerten Stadt ihre Kreise zogen, hatte er jegliches Zeitgefühl verloren. Tag und Nacht waren vollkommen gleich: dunkel. Künstlich, unnatürlich dunkel. Und erfüllt von den Geflügelten Schatten.

"Der erste Ring steht unter Beschuss!", hörte er jemanden rufen, der gerade an seiner improvisierten Liege vorbeilief.

"Schafft Platz!", reagierte eine feste Stimme. "In den nächsten Stunden werden wir jede Menge Neuzugänge haben!"

Das geschäftige Getrampel in den Häusern der Heilung wurde intensiver, als alles, was Arme und Beine hatte, sich an die Arbeit machte, die Verwundeten möglichst platzsparsam auf die verfügbare Fläche zu verteilen. Der Plan war schon längst ausgearbeitet worden, nur hatte man ihn nicht umsetzen können, weil man durch die Verwundeten von Osgiliath und der Rammas Echor abgelenkt gewesen war. Und jetzt musste die Platzschaffung unter enormem Zeitdruck geschehen.

Bergil richtete sich auf und rieb seine Augen. Er konnte nicht schätzen, wie lange er geschlafen hatte. Er fühlte sich immer noch müde. Ramtiramon, einer der Heiler, hatte ihn zu Bett geschickt, damit er ausgeruht war, "wenn es wirklich ernst wird". Immer noch nur halb wach, nahm er neben den umherlaufenden Schemen und ihrem Getrampel immer wieder dieses Grollen wahr, als würde jemand tief unter der Erde eine riesige Trommel schlagen, und dann und wann wurde ihm schrecklich kalt, seine Brust verengte sich und sein Herz gefror zu einem Eisklumpen und er wusste, dass es einer der Schatten war.

Die Häuser der Heilung trotzten dem Dunkel draußen. Goldenes Licht strömte durch Räume und Gänge und trug den würzigen Duft von Kräutern umher. Alles war sauber, aufgeräumt und geordnet. Noch. "Wirklich ernst" wurde es erst jetzt, das spürte jeder. Und Beregonds Sohn wusste, dass er genau zur rechten Zeit aufgewacht war.

Entschlossen erhob er sich, um zu sehen, was er für die Heiler tun konnte. Er sollte sich von seinem Vater die Erlaubnis, in der Stadt zu bleiben, nicht umsonst erfleht haben. Er war immerhin schon stolze zehn Jahre alt und fünf Fuß groß - da wäre es zu peinlich gewesen, mit den Mädchen in Sicherheit geschickt zu werden. Er war kein kleines Kind mehr und sah sich durchaus imstande, genau wie sein Vater und sein Onkel Iorlas, der eine Wächter der Zitadelle, der andere einfacher Soldat, seinen Beitrag zur Verteidigung seines Landes zu leisten.

Fleißig half er mit, die Betten und Liegen aneinander zu schieben, die einzelnen Räume mit Verbänden zu versorgen, Nachrichten durch die Häuser zu tragen ... Alles, was ein Junge von zehn Jahren eben mitten in einer Schlacht so tun konnte.

Mit der Zeit wurde der Strom der Verwundeten immer steter. Einzelne Heilertrupps setzten unten ihr Leben aufs Spiel, um die Verwundeten aus den unteren Ringen in die Häuser der Heilung zu retten. Manche Verwundete mussten getragen werden, andere konnten selbst gehen oder wenigstens humpeln. Letztere halfen beim Tragen, wenn ihnen nicht gerade beide Arme fehlten. Bergil achtete nicht sonderlich auf sie. Er war noch nicht allzu lange hier - seit zwei Tagen vielleicht -, aber er hatte schon gelernt, dass die Leben eben dieser Verwundeter unter anderem davon abhingen, dass Botenjungen wie er sich nicht von ihnen ablenken ließen und ihre Aufträge so schnell wie möglich erledigten. Alles, was sich ihm beim Anblick von aufgeschlitzten Bäuchen, halb abgehackten Armen und Beinen, ausgestochenen Augen, blutigem Gedärme und zerschmetterten Schädeln aufdrängte, schob er vorerst beiseite; um es zu verdauen, würde später noch Zeit sein. Bergil war ein Junge, der sehr schnell lernte. Schneller zumindest als einer seiner Freunde, der sich schon seit Stunden übergeben musste. Zugegeben, ihm selbst war in den ersten Stunden hier auch schlecht gewesen, aber irgendwie hatte er schon ziemlich bald den Dreh herausbekommen, wie man es einfach schluckte und nicht weiter beachtete, wenn man gerade keine Zeit hatte.

Er hatte gerade einen Auftrag erledigt, als eine Bahre trotz allem seinen Blick auf sich zog. Eine böse Ahnung trug ihn näher zum Verwundeten und er erkannte seinen Onkel Iorlas.

"Nein ..." Es kam trocken und leise über seine Lippen, nahezu ruhig, erstickt vor lauter Druck in seiner Brust.

Von einem Augenblick auf den anderen war Bergil nicht mehr verantwortungsvoller Bote der Häuser der Heilung, sondern ein Junge, dem das Herz stehen blieb. Iorlas, der jüngere Bruder seines Vaters, wohnte zusammen mit seiner Familie. Als Bergil klein gewesen war, hatte der junge Mann mit ihm oft gespielt und in den letzten Jahren hatte er ihn den Umgang mit Waffen gelehrt. Iorlas war für Bergil eher etwas wie ein großer Bruder.

Wie vom Donner gerührt folgte er der Trage in das Zimmer, in dem, wie Bergil wusste, schwer Vergiftete untergebracht wurden. Iorlas wurde auf eine schmale Liege gebettet und Bergil hatte endlich Zeit, seinen Onkel genauer anzusehen. Ein schwarzgefiederter Pfeil ragte aus seiner linken Schulter, das Panzerhemd war an der Stelle zerschmettert. Er selbst lag unbeweglich und man hätte ihn leicht für einen Toten halten können, wäre da nicht sein flacher, schwacher und doch ziemlich schneller Atem gerade noch so zu hören gewesen.

"Nein!", flüsterte der Junge nun deutlicher, als wäre er fest entschlossen, sich selbst von diesem "Nein" zu überzeugen.

"Sie machen es uns nicht einfach", sagte ein junger Heiler, der nun ebenfalls neben Iorlas kniete und ihn untersuchte. "Es wäre auch zu schön, wenn sie nur ein oder zwei Sorten von Gift benutzen würden. ... Schneller Atem ... Viel zu schnelle, unrhythmische Herzschläge ... Und er ... Das Gift scheint ihn gelähmt zu haben." Der Heiler machte einige plötzliche Bewegungen vor den halb offenen Augen des Verletzten. Keine Reaktion. Der Heiler überlegte. "Ich kenne dieses Gift nicht, doch es ist wahrscheinlich ein Wunder, dass er nicht sofort gestorben ist. Aber es wird sein Herz ganz sicher noch zum Stillstand bringen."

Bergil schaute auf und erkannte Ramtiramon, der ihn gewissermaßen unter seine Fittiche genommen hatte. Der Zehnjährige wusste, dass der junge Mann den Vorsteher angefleht hatte, ihn unten mitkämpfen oder wenigstens die Verwundeten dort mit erster Hilfe versorgen zu lassen, doch der Vorsteher hatte abgelehnt. Einige wenige Männer würde man hier oben noch brauchen, hatte er gesagt, für den Fall, dass die Rohirrim, Gondors treueste Verbündete, nicht rechtzeitig kommen würden und der Feind bis hierhin vordringen sollte, sodass es darum ging, die Häuser der Heilung zu verteidigen. Ramtiramon hatte Erfahrung mit Krieg. Er hatte das Heer Gondors schon mehrmals auf Feldzügen begleitet, um sich um die Verwundeten gleich vor Ort kümmern zu können, und einmal war er sogar selbst schwer verletzt worden. Trotz seines Alters galt er als einer der besten Heiler von Minas Tirith.

Zwei Dienerinnen der Häuser gesellten sich zu ihnen. Eine alte und eine junge.

"Hier gibt es noch fünf weitere solche Fälle", sagte die junge. "Aber kennen tut das Gift keiner."

"Wir hatten das schon einmal", entgegnete die alte nachdenklich. Es handelte sich um Ioreth, die älteste Frau der Häuser. "Das ist lange her, da waren noch nicht einmal Eure Eltern auf der Welt. Das scheint ein sehr seltenes Gift zu sein, zumindest wird es selten verwendet und auch nie in großen Mengen. Und die meisten sterben auf der Stelle, wenn sie von einem solchen Pfeil getroffen werden. Ich bezweifle, dass wir noch mehr Verwundete dieser Art haben werden."

"Was kann man dagegen tun?", schob Ramtiramon rasch dahinter, ehe Ioreth Gelegenheit hatte abzuschweifen.

"Nun ... Der damalige Vorsteher - ein sehr weiser Mann übrigens - hat Alfirin verwendet. Ich dachte immer, Alfirin hätte keine Heilwirkung, das dachten wir ja alle. Aber diese Blume scheint dagegen sehr wirksam zu sein."

Ramtiramon ging offenbar ein Licht auf: "Natürlich ist Alfirin wirksam. Sie verwelkt nie." Seine Stimme wurde scharf wie die eines Hauptmanns gegenüber einem Soldaten. "Was hat er gemacht? Haben wir diese Blume?"

Auch Bergil schaute hoffnungsvoll zu der alten Frau.

"Er hat einen Aufguss zubereitet und ihn den Kranken eingeflößt, ganz einfach. Aber haben tun wir Alfirin ganz sicher nicht. Dieses Gift ist das einzige, wogegen sie hilft. Und da es so selten vorkommt, haben wir sie nicht auf Vorrat."

Es war wie ein Schlag. Bergils Verstand weigerte sich, es zu begreifen. Sein Onkel Iorlas war hoffnungslos dem Tod ausgeliefert?! Irgendwo in der Ferne war ein schriller, etwas heiserer Schrei zu hören. Ein Schrei wie aus einer anderen Welt.

"Alfirin ist doch diese kleine, weiße Blume, die auf Gräbern wächst?", murmelte Lalaith, die junge Dienerin. "Die Rohirrim nennen sie Simbelmyne, oder?"

"Ja." Ramtiramon machte eine düstere Pause und wartete, bis der Schatten des Reiters hoch oben in den Lüften wieder fort war. "Sechs. Sechs. Nur sechs. Wenn es wirklich so ist, wie Ioreth sagt, dann können wir nichts tun."

"Doch, da ..." Lalaiths Stimme wurde zaghaft. "Meine Mutter liebt diese Blume und sie hat jahrelang versucht, sie in einem Topf aufzuziehen. Das war sehr schwierig, weil sie vorzugsweise dort wächst, wo Tote liegen, aber es ist ihr gelungen."

Alle starrten sie an.

"Wo ist sie jetzt?" Ramtiramon hatte wieder seinen Befehlston.

Lalaith schluckte. "In unserem Haus im ersten Festungsring."

Stille.

Und das Grollen unten. Unten im ersten Festungsring.

Bergil kannte diese eine Regel der Häuser, die zu den wichtigsten überhaupt zählte: In erster Linie kümmerte man sich um jene, von denen man genau wusste, dass man ihre Leben retten konnte, und Iorlas und die anderen fünf zählten nun mal nicht in diese Kategorie. Jemanden in den ersten Festungsring zu entsenden bedeutete ein Risiko und selbst wenn man diese Blume aus dem Beschuss retten konnte, so hatte hier oben dennoch niemand Erfahrung mit diesem Gegengift, also gab es keine Garantie, dass der Rettungsversuch gelingen würde. Und es ging hier schließlich "nur" um sechs Leben.

Ramtiramon erhob sich mit steinerner Miene und Bergil wusste genau, wie sein Entschluss lautete: "Wir können nichts tun. Ich werde sie in die Sterbekammer bringen lassen. Hier nehmen sie nur Platz weg."

Bergil ahnte, welch eine Vorgeschichte diese steinerne Miene und der kühle Ton hatten, doch konnte er ein Aufwallen von verzweifelter Wut nicht verhindern.

"Iorlas ist mein Onkel!", rief er und erhob sich nun ebenfalls.

Ramtiramon war kein Mann, der lang und breit diskutierte. Statt einer Antwort packte er Bergil am Oberarm, zerrte ihn durch die Häuser und die Gärten, dann hinauf auf die Stadtmauer. Dort ließ er ihn einfach stehen und eilte wieder seinen Pflichten entgegen.

Bergil hatte es bisher sorgfältig vermieden, hinunterzusehen. Er hatte Aufgaben zu erledigen und die Eindrücke, die er bekommen würde, hätten ihn zu sehr abgelenkt. Zumindest hatte er das bei einigen anderen Botenjungen beobachtet und einige Dienerinnen hatten ihn auch noch ausdrücklich gewarnt. Doch jetzt, wo er hier war, konnte er nicht mehr widerstehen. Langsam, unsicher und dennoch maßlos neugierig trat er an die Brüstung.

Was sich seinen kindlichen Augen bot, raubte ihm den Atem: Schwärze und ewige Nacht, so weit das Auge reichte. Schwärze, erfüllt vom rötlichen Schimmer des dämonischen Feuers, das in den Gräben vor der Stadt brannte. Bergil kannte ihre Funktion nicht, aber es war ihm auch egal. Er sah einfach diese von Orks ausgehobenen Gräben, aus denen Flammenzungen loderten, von denen niemand wusste, wovon sie gespeist wurden. Im roten Schatten dieser Feuer konnte er Soldaten erkennen, unzählige Sklaven des Dunklen Herrschers, aufgestellt in Reih und Glied, eine ganze Armee wie eine einzige gigantische Belagerungsmaschine. Die Bliden des Feindes konnte er in der Dunkelheit zwar nur undeutlich ausmachen, aber es waren zweifellos die größten, die er je gesehen hatte. Ihre langen Wurfarme verschleuderten etwas, das sich beim Auftreffen auf die Erde augenblicklich in Feuer verwandelte, und auch etwas, das von hier oben aussah wie Häufchen von Kieseln. Diese Kiesel flogen wie kleine, ungeordnete Vogelschwärme über den Stadtwall in den ersten und zweiten Festungsring. Beide standen in Flammen. Der erste mehr als der zweite.

Bergil starrte hinunter, grauenerfüllt und fasziniert zugleich. Noch nie im Leben hatte er etwas so Großes, Mächtiges, Unendliches gesehen! Er fühlte sich klein, so klein wie er es nie gekannt hatte. Klein und bedeutungslos, ein winziges Stäubchen, ein kleiner Junge auf der Stadtmauer.

Ein winziges Stäubchen. Ein winziges Stäubchen war nichts im Vergleich zu dieser Macht. Bergil war nichts und das war gut so.

Entschlossen rannte er los, zurück in die Häuser, die er sogleich nach Lalaith zu durchkämmen begann. Er fand sie, als sie gerade zusammen mit Ramtiramon aus einem der Krankenzimmer heraustrat.

"Vielleicht könnten wir es mit einem Aderlass probieren?", schlug sie gerade vor.

"Nein, das würde mehr Schaden als Heilung bringen", entgegnete der Heiler. "Ohne das Gegengift sind wir machtlos."

"Wo wohnt Ihr?", keuchte Bergil den beiden entgegen. "Lalaith, wo genau ist das Haus?"

Die Erwachsenen erstarrten, als sie ihn so voller Entschlossenheit sahen.

"Ich meine, Euch einige Male in das Gebäude rechts schräg gegenüber vom Alten Gästehaus hineingehen gesehen zu haben. Ist es das Haus, in dem Ihr wohnt?"

"Ja, das -"

Ehe sie zu Ende sprechen konnte, stürzte Bergil den Gang entlang in Richtung Ausgang.

Ängstlich und schuldbewusst schaute Lalaith zu Ramtiramon. Doch was sie da sah, erschreckte sie noch mehr als blanke Wut es getan hätte: Das Gesicht des jungen Heilers sah mit einem Mal ganz alt und müde aus, als hätte er schon viel mehr Leben hinter sich als alle Greise, die sie kannte, zusammengenommen. Etwas Kaltes und Starres, eine maßlose Resignation lag in seinem Blick.

"Lass uns sehen, wie wir deren Tod hinauszögern können", sagte er leise.


Ursprünglich war diese FF als Ficlet geplant, aber als ich gewittert habe, welche Länge sie am Ende haben würde, habe ich beschlossen, sie in Form eines kleinen Dreiteilers zu posten.

Ich hoffe, dass das erste Kapitel euch gefallen hat. Für Kritik und Verbesserungsvorschläge habe ich noch niemanden aufgefressen.

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