Arda Fanfiction

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Sechs Leben

von Feael Silmarien

Die einzige Wahrheit

Nur die Blume zählte. Sechs Leben. Für jedes ein Blütenblatt. Die Blume war Leben. Die Blume, die nie verwelkt.

Bergil achtete auf nichts mehr. So sehr die Erde auch bebte, so tödlich die Pfeile auch zischten, so gespenstisch die Geister auch schrien, es zählte nur das Leben. Er trug Leben in seinen Händen, er schützte es mit seinem Körper, mit seiner Seele. Er schützte es mit allem, was er hatte. Er existierte nur noch für das Leben und dieses Leben schützte ihn wiederum vor dem Krieg.

Die Resignation ebbte ein wenig zurück, als er sich den Häusern der Heilung näherte. Sie durfte jetzt zurückebben. Er brauchte sie nicht mehr. Er hatte seinen Auftrag erfüllt.

Eine ihm bisher unbekannte Magie, die in ihm lebte, hatte seine Schmerzen durch eine solche Kraft und Ausdauer ersetzt, die er sich nie zugemutet hätte. So schnell wie er nur konnte war er fast durch die ganze Stadt gerannt, sechs Festungsringe bergauf. Als wären ihm plötzlich Flügel gewachsen und die Zeit verflog mit einer übernatürlichen Leichtigkeit, sodass es kaum etwas anderes als Magie gewesen sein konnte. Es war das Leben.

Kaum war er durch den Haupteingang hereingestürzt, sah er zu seinem unschätzbaren Glück Lalaith durch die Eingangshalle laufen und übergab ihr das Leben. Zweifellos war es die Magie gewesen, die Lalaith gerade im rechten Moment in die Eingangshalle gebracht hatte, sodass die Zubereitung des Aufgusses auf der Stelle begonnen werden konnte.

Doch in dem Augenblick, als er die Blume übergab, wich die Magie aus ihm, er entspannte sich und seine Schmerzen erwachten, die Erschöpfung machte sich bemerkbar. Aber das war nun gleichgültig. Er hatte seinen Auftrag erfüllt. Zufrieden stützte er sich auf einen Tisch mit Verbänden und hechelte grinsend.

Gut sah er aus: die Kleider zerfetzt, die Haare zerzaust, von Kopf bis Fuß mit schwarzem Ruß bedeckt, verschmiert mit Blut, Schweiß, Tränen und Rotz. Er hatte einen Weg hinter sich. Hin und zurück.

Während Bergil seine Wahrnehmung zurückerlangte, merkte er, dass auch die Häuser einen Weg hinter sich gebracht hatten. Blutbefleckte Heiler rannten durcheinander und riefen, dass Rohan nicht rechtzeitig kommen würde, die Verbände auf dem Tisch vor ihm waren schmutzig vor lauter Körperflüssigkeiten und aus irgendeinem Grund waren sogar die Wände dreckig. Es stank nach Blut, Erbrochenem, Eiter, Kot, Urin, Schweiß und vielen weiteren Dingen, die Bergil nicht zuordnen konnte und auch nicht wollte. Er rang um Luft und fragte sich, ob in all dem Gestank noch etwas davon übrig war. Wie lange war er eigentlich fort gewesen, dass die Häuser sich so krass hatten wandeln können?!

"Das hättest du dir beinahe sparen können", hörte er plötzlich eine bekannte Stimme und sah Ramtiramon nur wenige Schritte entfernt müde an der Wand lehnen. Er trug eine Schürze, die einst weiß gewesen sein musste. Seine Ärmel waren hochgerollt und seine Arme bis zu den Ellbogen unter einer dicken Blutkruste verborgen. Er schaute Bergil nicht an, als er sprach, sondern starrte gelassen ins Leere.

"Drei von denen sind schon hinüber. Zwei weitere werden es nicht mehr schaffen, bis wir den Aufguss fertig haben. Aber wenn wir Glück haben, werden wir deinen Onkel noch retten können."

Bergil begriff allmählich. Zuerst brauchte er Zeit, um die vernommenen Laute Wörtern zuzuordnen, dann brauchte er noch mehr Zeit, um die Wörter mit den dazugehörigen Begriffen zu verbinden und schließlich brauchte er sehr viel Zeit, um den Zusammenhang der Begriffe zu verstehen.

Er begriff: Eine Blume. Ein Leben. Er begriff, dass er angelogen worden war. Dass er sich selbst angelogen hatte. Dass alles ihn angelogen hatte. Es war alles eine Lüge. Sein Leben war eine Lüge. Tief unten grollte und trommelte es immer noch.

"Ioreth gibt dem Kranken jetzt den Aufguss", rapportierte Lalaith irgendwo in der Ferne. "Die anderen beiden sind tot."

Ramtiramon nickte nur und ging nicht näher darauf ein, sondern konstatierte stattdessen: "Das Wasser ist schmutzig."

"Die Mädchen, die es aus dem Brunnen ziehen, kommen dem Bedarf nicht hinterher", entschuldigte sich die Dienerin. "Wenn die Rohirrim nicht bald kommen und wir dem Ganzen ein Ende machen können, läuft hier alles endgültig aus dem Ruder."

'Endgültig aus dem Ruder!', trommelte es schmerzhaft in Bergils leerem Kopf nach. Es trommelte zu deutlich.

"Falls die Rohirrim tatsächlich kommen, weiß ich nicht, wo wir auch noch ihre Verwundeten unterbringen sollen", grummelte Ramtiramon. "Wir kommen ja schon mit den eigenen kaum zurecht. Und nach der Schlacht werden es noch mehr. Die Häuser wurden in Friedenszeiten gebaut. Aber wenn wir die Schlacht verlieren, ist das eigentlich eh egal."

"Wenn wir die Schlacht verlieren, dann war unsere ganze Arbeit umsonst", protestierte Lalaith.

"Das ist sie eh schon fast."

Ramtiramon hatte die Blutkruste nicht wirklich abgekratzt bekommen und als er sich die Arme abtrocknete, bekam das schmutzige Tuch noch mehr rote Flecken.

"Und damit soll ich in menschlichen Körpern herumwühlen", knurrte er, als er seine nach wie vor schmutzigen Hände missbilligend betrachtete.

"Ihr seid ein sehr guter Heiler", versicherte Lalaith.

"Das ist es ja."

Mit einem Seufzen spritzte er sich das blutige Wasser zur Auffrischung und Gesicht, trocknete es ab und schleppte sich seinen Pflichten entgegen.

Bergil starrte ihm düster hinterher. Er war nicht wütend auf ihn; er war wütend auf alles. Er war wütend auf die schlechten Bedingungen in den Häusern, er war wütend auf den Feind, er war wütend auf den Krieg und er war wütend auf die Welt, weil sie die Dreistigkeit hatte zu existieren und ihn anzulügen. Es war von vornherein nur eine Blume gewesen. Ein Bergil. Ein Beregond. Ein Leben.

Mit aller Kraft presste er Zähne und Lippen aneinander, während er durch die Gänge der Häuser der Heilung lief. Ein kaum erträglicher Druck baute sich in seinem Inneren auf und zwang Tränen aus seinen Augen. Tränen der Wut. 'Scheiße, Scheiße, Scheiße', kreiste es unaufhörlich in seinem Kopf, bis es in den Gärten schließlich als Schrei an die Oberfläche drang: "Ich hasse diese Scheiß-Welt! Geh doch unter, verdammt, geh unter, nur lass mich in Ruhe! Ich hasse dich!!", brüllte er zum Heer jenseits des Stadtwalls.

Schwankend und taumelnd sah er dem von der Mauer versperrten Schattengebirge entgegen. All den Lügen, seinem vorgelogenen Leben entgegen. Es war alles falsch. Was für ein herrliches Glück, ein Narr zu sein! Doch die Welt hatte ihn hintergangen. Sie hatte ihm ihr wahres Gesicht gezeigt. 'Ich hasse, hasse, hasse ...'

"Sauberes Wasser", hörte er irgendwann Lalaiths Stimme hinter sich und hasste sie. "Es ist eigentlich für Ramtiramon, aber er will, dass du es bekommst."

Er wirbelte herum. "Lasst mich in Ruhe!" Seine Augen funkelten gefährlich, als wollte er sie jeden Moment anspringen, um ihr das Genick zu brechen. "Ihr habt sie erwähnt! Was musstet Ihr sie auch erwähnen? Ramtiramon hatte recht!"

"Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht." Ein fester Griff legte sich auf Bergils Schultern und der Heiler schob ihn Lalaith entgegen, die sogleich ohne auch nur die geringste Spur von Groll sein Gesicht zu säubern begann. Verzweifelte Menschen machten auf sie schon längst keinen Eindruck mehr.

Ramtiramons Griff hatte etwas Zähmendes, sodass Bergil die Prozedur still über sich ergehen ließ. Er tobte nicht, aber ihm war nach Sterben zumute. Obwohl er nie gelebt hatte. Das wusste er nun genau. Ein vorgetäuschtes Leben, ein verlorenes Leben, eine verlorene Vergangenheit. Es würde nie wieder so sein können wie früher. Tote kehrten nicht zurück.

"Du hast Schmerzen", hörte er Ramtiramon hinter sich sagen. "Das bedeutet, dass du noch lebst. Tote spüren keinen Schmerz. Eigentlich sollte ich das Wasser bekommen, weil ich der Heiler bin. Aber bei mir wäre es sinnlos. Es ist zu spät. Du hast Schmerzen und ich beneide dich."

Der Griff wurde gelockert, doch Bergil rührte sich nicht. Stattdessen rollten immer neue Tränen über sein Gesicht und die Schlacht dröhnte in seinen Ohren.

"Natürlich tut es weh", fuhr Ramtiramon leise fort. "Du hast in nur wenigen Stunden eine Entwicklung hinter dich gebracht, die andere Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte, kostet. Du hast ein ganzes Leben durchlebt. Natürlich ist das belastend. Aber das vergeht wieder. Solange du lebst, wird alles wieder gut. Du musst nur immer weiterleben.

Und dennoch hast du in den letzten Stunden ein gewaltiges Opfer gebracht. Du bist kein Kind mehr. Du hast dich geopfert und dadurch Leben gegeben. Mehr kann ein Mensch nicht tun. Wenn ich jemals einen Sohn haben sollte, dann wünsche ich mir, dass er so wird wie du."

Ob sein Kopf vor lauter Druck in seinem Inneren so wehtat oder wegen seiner Bruchlandung oder wegen beidem, wusste Bergil nicht und es war ihm auch egal. Wie ein kleines Kind drückte er sich an Ramtiramon. Er hatte keine Mutter mehr, keinen Vater, er hatte nur noch Ramtiramon. Der Heiler tätschelte ihn mit seinen blutigen Händen, mit denen er das Leben schützte. Leben zu schützen bedeutete zu leben.

Lalaith beobachtete mit stillem Lächeln diese malerische Szene. So viel Leben!

"Nun, um einen Sohn wie ihn zu haben, müsst Ihr erstmal heiraten", bemerkte sie.

Ramtiramon riss seinen Blick von Bergil los und schaute sie ganz direkt an. "Wollt Ihr etwa jemand Bestimmtes vorschlagen?"

Lalaith kam nicht dazu, rot anzulaufen, denn sie begriff: "Wie viele?"

"Zwölf."

Stille. Bergil verstand nicht ganz, doch etwas in seinem Bauch wand sich wie eine Schlange und er trat beiseite, damit auch Ramtiramon sich Gesicht und Hände waschen konnte. Der Heiler zögerte nicht und schrubbte seine verklebte Haut mit einer sonderbaren Verzweiflung. Er hatte so selten Gelegenheit dafür ...

"Hast du gehört?", sagte der junge Mann heiser. "Zwölf Abgänge allein innerhalb der letzten Stunde. Zwölf Leben sind mir durch die Lappen gegangen. Sie sterben wie die Fliegen. Für die meisten ist es von vornherein hoffnungslos, für die anderen hat man nicht die Zeit, es fehlt dieses und jenes ... Bei Feldzügen werden es locker hundert für einen Heiler. Wären es nur nicht so viele, könnte man bei den Einzelnen viel mehr ausrichten. Aber so ist es beinahe zwecklos. Reihenweise sterben sie mir weg, die ich eigentlich retten könnte. Irgendwann bist du es einfach nur noch leid und fragst dich, wozu du das alles noch tust, als gäbe es nichts Sinnvolleres." Er hielt inne und seufzte. "Von sechs hast du einen retten können. Das ist viel. Du hast ein Leben gerettet."

Er kratzte die letzten Blutreste von seinen Händen und richtete sich kerzengerade auf. Sein Blick wanderte zu den Häusern der Heilung.

"Die meisten werden sterben. Wenn nicht an ihren Wunden, so doch an den Bedingungen hier. Der Vorrat an Kräutern und Verbänden ist nicht unendlich und das Wasser ist sowieso ein Problem. Aber ich bin Heiler. Meinem Ruf nach sogar ein ganz guter." Er lächelte traurig. "Krieg ist weder gut noch schlecht. Er ist. Und das ist die einzige Wahrheit."

Endlich riss er den Blick von den Häusern los und wandte sich direkt an Bergil: "Dein Onkel wird leben. Dafür werde ich sorgen. Das hast du verdient. Dein Opfer soll nicht umsonst gewesen sein. Du bist noch jung. Du sollst weiterleben."

Bergil starrte ihn an und ein neuer Schmerz löste den alten ab, als ihm bewusst wurde, wie klein und nichtig sein Tod gewesen war, dass es noch viel schlimmer hätte kommen können. Ein kleiner, nichtiger Tod, nichts weiter. Es gab Schlimmeres. Er war winzig und unbedeutend. Überhaupt nicht beachtenswert.

Irgendwo ganz unten änderten sich jäh die gewohnten Geräusche. Die Einschläge des Hexenfeuers wurden seltener und umso besser waren die Trommeln des Feindes zu hören. Sie untermalten ein ganz anderes Trommeln, ein lauteres, boshafteres, ein übernatürliches Donnergrollen: Mit gewaltiger Kraft wurde Grond, eine riesige Ramme von hundert Fuß Länge, gegen das Tor von Minas Tirith geschwungen, doch ihr mit Flüchen belegter Wolfskopf prallte zurück. Das Tor war stark und leistete Widerstand.

Dann kroch ein grausiger Ruf jedermann durch Mark und Bein, doch war er von anderer Art als die bereits viel zu vertrauten Schreie der Schatten. Worte einer alten, verbotenen Sprache wurden ausgestoßen mit einer Macht und Gewalt, die nur dem Schwarzen Feldherrn, dem Fürsten von Minas Morgul, eigen war. Und als Grond das nächste Mal gegen das Tor prallte, bebten sogar im sechsten Festungsring die Wände.

Ramtiramon, Bergil und Lalaith erstarrten und merkten, wie es in den Häusern der Heilung totenstill wurde wie auf einem Friedhof. Kein Wort wurde gewechselt, denn Worte waren sinnlos und jeder wusste, dass der Untergang nahe war. Das Tor würde nicht mehr lange standhalten können.

Ein erneuter Ruf, ein erneutes Grollen, ein erneutes Beben.

Bergil hatte nur einen winzigen Teil von der Welt gesehen und das war nichts. Er wusste nach wie vor nichts vom Leben. Und dennoch mehr als andere. 'Der Feind will uns Angst machen mit bösen Gesichtern.' Er hatte Leben gerettet.

Ein drittes Mal war der Fluch zu hören und diesmal wurde das Grollen von einem Bersten begleitet. Die Belagerung gefror zu Eis. Doch Bergil hatte Leben gerettet.

"Wenn das die einzige Wahrheit ist", sagte er zaghaft, "dann sollt auch Ihr weiterleben."

Ramtiramon schaute ihn an, dann glitt sein Blick zu Lalaith und dann wieder zu Bergil. Wider jede Erwartung krähte irgendwo in der Stadt plötzlich ein Hahn, jenseits von Krieg und Hexenfeuer. Die Schatten wurden zerrissen und einige Strahlen der aufgehenden Morgensonne brachen hindurch. In der Ferne hallten die Hörner von Rohan.


ENDE


Widmung:

Normalerweise gehört sowas an den Anfang, aber ich habe beschlossen, in diesem Fall die Widmung ans Ende zu setzen. Den Grund kann ich selbst nicht genau benennen, es war eher eine gefühlsmäßige Entscheidung. Ich weiß auch nicht, ob diese FF für eine solche Widmung angemessen ist, aber ich möchte es wagen, hiermit meinen Respekt gegenüber Militärärzten, Sanitätern und Krankenschwestern vergangener Kriege auszudrücken, die sich mitten im Tod - oft unter Gefährdung ihrer eigenen Leben - um die Rettung von Menschen bemühten. Dies gilt, da ich aufgrund meiner Abstammung mit der Sowjetunion tief verbunden bin, insbesondere für die sowjetischen Sanitätskräfte während des Zweiten Weltkrieges. Natürlich aber auch für jene, die anderen Staaten angehörten und an anderen Kriegen beteiligt waren. Ich möchte all dieser Menschen gedenken.

Ich hoffe, dass euch die FF im Großen und Ganzen gefallen hat, und bedanke mich ganz herzlich fürs Lesen!

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