Arda Fanfiction

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Der Schatten von Angmar - Teil 2

von Dairyû

Die Schatten der Vergangenheit

Als sich die Hobbits wenige Stunden später in Form einer kleinen Abordnung unter Dathos Führung bei Arvenor einfanden, war der Mensch so weit erholt, dass er sich beinahe wohl fühlte; und das heimelige Zimmer schuf eine Geborgenheit, die Arvenor genoss und die er nur zu gerne für immer gespürt hätte. Aber dieser Wunsch war ihm verwehrt, wie er mit Trauer und Bedauern im Herzen wusste. Für die Dúnedain des Nordens gab es schon lange keine Geborgenheit mehr. Sie wurden zu Blättern in einem Wind, der alles durcheinander zu wirbeln trachtete und dem zu trotzen nicht mehr allein in der Macht der Menschen Arnors lag.

Diese Erkenntnis hatte Arvenor schließlich in das Land der Halblinge geführt - jener Wesen, die für die Dúnedain am fremdartigsten geworden waren, denn es schien fast so, als gingen die Geschicke der Welt an ihnen vorüber und als kümmerten sie die Halblinge auch gar nicht.
Arvenor empfand beinahe ein wenig Neid. Hier gab es ein Land und ein Volk, das unberührt war von der Dunkelheit, die sich wieder erhoben hatte und die unerbittlich über die Menschen kam und auch die Elben mit Besorgnis in die Zukunft blicken ließ.
Nicht so die Halblinge - sie waren unbekümmert und von unschuldigem Gemüt und friedfertig ... und nichtsahnend.
Arvenor hatte sich erhoben, so weit es für einen Menschen in einer Hobbithöhle möglich war und freundlich sah er die Hobbits an, die ihn mit neugierigen Blicken in großen dunklen Augen musterten. Arvenor sah schlicht gekleidete, kleine Leute vor sich, die ihm fremd erschienen, die für ihn aber eine eigene Schönheit besaßen und eine Ruhe, die auch ihn innerlich gelassen werden ließ.

"Ich danke euch allen für eure Güte und die Gastfreundschaft, die ihr mir angedeihen lasst; bin ich doch ein Fremder für euch und nicht euresgleichen." Mit diesen Worten verneigte sich Arvenor feierlich, denn es war ihm sehr ernst mit seiner Dankbarkeit.
Die Hobbits ihrerseits verneigten sich höflich und Datho sprach: "Nicht uns müsst Ihr danken, sondern einem jungen Hobbit, der sich des Abends in klirrender Kälte zu einem Spaziergang an den Ortsrand aufgemacht hat und voller Schrecken Eurer Pferd sah und es für ein Ungeheurer hielt."

Dathos Miene blieb ernst, aber die gutmütige Stichelei war an seiner Stimme zu erkennen und er deutete auf Nico, der verlegen von einem Bein aufs andere trat und dessen Wangen sich röteten.
Arvenor lächelte, erwiderte aber nichts, um den Hobbit nicht noch mehr in Verlegenheit zu bringen. Er war sich sehr wohl bewusst, dass er genauso gut schon hätte im Reich der Toten weilen können, denn sein Weg war beschwerlich gewesen und seine Kräfte am gestrigen Abend versiegt, gerade als er in der Ferne die Lichter des Ortes gesehen hatte.
Sein treues Ross hatte die Bedrängnis seines Herrn gespürt und sich weiter durch den hohen Schnee gekämpft, nicht viel weniger erschöpft als der Reiter, den es trug.
Sein Pferd ..., und seine Waffen!

Arvenor wandte sich an Datho, denn er vermutete in dem älteren, etwas behäbig wirkenden Hobbit zu Recht denjenigen, der den anderen vorstand.
"Sagt, Herr Hobbit, was ist mit meinem Pferd geschehen?"
"Seid unbesorgt. Euer Pferd wird gut versorgt", erwiderte Datho, "auch wenn wir Hobbits eigentlich nur Ponys kennen."
Arvenor nickte erleichtert. Sein Pferd lag ihm am Herzen, denn es hatte ihn auf vielen Reisen begleitet und durch Ungemach und Gefahr treu getragen, wie es für ein Ross seiner Art üblich war, denn das Blut seiner wagemutigen und kraftvollen Vorfahren floss unverfälscht durch seine Adern.

Mensch und Hobbits verfielen in Schweigen und wussten nicht genau, was sie weiter sagen sollten, bis Datho sich schließlich aufraffte und die Frage stellte, die ihm schon am Abend zuvor über die Lippen gekommen war.
"Haltet mich nicht für unhöflich, Herr, wenn ich neugierig erscheine, aber ich denke, es ist an der Zeit zu erfahren, wer Ihr seid und was Euch ins Auenland geführt hat."
Feierlich verneigte sich Arvenor noch einmal und sagte: "Mein Name ist Arvenor und ich komme aus dem Königreich Arthedain, dessen Herrscher Arvedui, der Sohn Araphants, ist. Im Namen meines Fürsten bin ich hierher geeilt, weil ich eine Botschaft zu überbringen habe, die für die Ohren von euch Halblingen bestimmt ist.
Deshalb bitte ich Euch, Herr Hobbit, versammelt alle, die ihr zu erreichen vermögt und tut dies, so schnell ihr könnt."

Datho nickte, auch wenn ihn die Worte des Menschen sehr nachdenklich stimmten und eine böse Ahnung in ihm aufkommen ließen, und sagte: "Ich werde einige Hobbits durch Michelbinge gehen und zu einer Versammlung rufen lassen. Geduldet Euch ein wenig, Herr.
Viele werden kommen, um zu hören, was Ihr uns zu sagen habt."
Und so war es auch. Binnen einer Stunde saßen die Hobbits von Michelbinge fast alle in ihrem Wirtshaus - das zum Glück groß genug war für diese Schar - dicht zusammengedrängt und begierig zu hören, was der Mensch verkünden wollte. Ein wenig Misstrauen war immer noch da, aber bei Weitem überwog die Neugierde, die den Hobbits zu Eigen war wie ihre Lust auf gutes Essen.

Pfeifen wurden angesteckt und Fitz und Marga eilten mit dampfenden Bierkrügen umher, das Feuer im Kamin verbreitete wohlige Wärme und alle waren zufrieden.
Freder hatte sich an dem Tisch niedergelassen, an dem auch Datho saß und hielt für Lero einen Platz frei.
Sein Freund befand sich noch in Hettelmanns Scheune und versorgte das Pferd des Menschen.
Freder lächelte, als er den eifrigen Lero vor seinem geistigen Auge sah, wie er mit dem großen Ross sprach, es streichelte und ihm Futter gab. Lero sah es als seine Pflicht an, für das Tier zu sorgen, und das nur aus dem einfachen Grund, weil er es gewesen war, der als erster die Zügel ergriffen hatte.

Aber so war Lero. Neben all seiner Unbeschwertheit und seinem leichten Gemüt war ihm ein Charakterzug zu eigen, den viele zu schätzen wussten; und am allermeisten wohl Freder: Verantwortungsbewusstsein.
Auf Lero war Verlass.
Der Hobbit kam mit den letzten Nachzüglern im Gasthaus an, drängte sich durch die Menge und nahm neben Freder Platz. Er warf seinem Freund einen vergnügten Blick zu und hielt dann nach Marga Ausschau, die wenig später mit einem Bierkrug angelaufen kam.

Eine Weile herrschte noch Geschäftigkeit und Unruhe, aber schließlich waren alle versorgt. Hier und da wurden leise Unterhaltungen geführt, die sich um den seltsamen Besucher und sein unbekanntes Anliegen drehten und erwartungsvoll sahen die Hobbits den Menschen an, der sich einen Stuhl geholt hatte und nun in der Mitte der Gaststube saß, für alle zu sehen und von allen zu hören.
Der Dúnadan blickte in die Runde und das Herz wurde ihm schwer, als er in die Gesichter der Hobbits sah, die so voller Erwartung und Arglosigkeit waren.

Langsam begann Arvenor zu sprechen und das Tuscheln unter den Anwesenden verstummte.
"Ich komme aus dem Norden, aus dem Königreich Arthedain, dem letzten der Reiche der Dúnedain in Arnor. Man nennt mich Arvenor und ich bin als Bote meines Königs ausgesandt worden, das Auenland aufzusuchen und euch Halblingen eine Nachricht zu überbringen. Aber bevor ich das tun kann, bitte ich euch um eure Geduld und Aufmerksamkeit, damit ihr das Anliegen meines Königs verstehen könnt.
Ich werde euch eine Geschichte erzählen ..."

Beifälliges Gemurmel erhob sich. Eine Geschichte war etwas, mit dem alle Hobbits sich gerne beschäftigten und sie begannen den Menschen mit Wohlwollen zu betrachten.
Arvenors Stimme wurde düster und traurig, als er zu erzählen anhob. Stunde um Stunde verging und den faszinierten Hobbits tat sich eine Welt auf, die viele von ihnen sich in ihren kühnsten Träumen nicht hätten ausmalen können, und - wie sie im Stillen zugaben - sich auch gar nicht hätten ausmalen wollen. Denn das, was der Mensch ihnen berichtete war mit nichts vergleichbar, was sie sich selber gerne erzählten, wenn die Nächte lang und kalt waren. Die Hobbits hörten von dunklen Orten und finsteren Wesen, deren Namen besser nicht ausgesprochen wurden und von der Bedrängnis der Menschen Arnors, die sich seit undenklichen Zeiten einer Bedrohung ausgesetzt sahen, die oftmals über sie gekommen war.
Aber noch nie schienen die zerstörerischen Kräfte, die aus dem Osten nach dem Nördlichen Königreich griffen so beängstigend gewesen zu sein wie jetzt, wo die Macht der Dúnedain des Nordens fast ganz geschwunden war ...

Das Feuer in der Wirtsstube war beinahe heruntergebrannt und Arvenors Worte wurden leiser, als er zum Ende seiner Schilderung der Vergangenheit kam.
"Der Schatten aus dem Osten hat sich wieder erhoben", flüsterte er, so als könne allein die Erwähnung des Übels seine Annäherung beschleunigen.
Vielleicht war es sogar an dem.
Immer wenn die Dúnedain der Überzeugung gewesen waren, dass der Schrecken aus Angmar endlich seine zerstörerischen Kräfte verloren hatte, weil lange Jahre keine Kunde mehr aus dem Reich im Nordosten an die Ohren der Menschen gedrungen war, hatte sich der finstere König, der über das verfluchte Land herrschte, von neuem erhoben, nur um mit noch größerer Gewalt die Reiche Arnors zu überrennen.

Rhudaur und Cardolan waren schon vor Jahrhunderten gefallen, allein Arthedain vermochte dem Feind noch die Stirn zu bieten - aber wie lange würde das letzte Königreich sich halten können? Die Zahl der Dúnedain von reinem Blut verringerte sich unerbittlich, die nördlichen Lande verödeten ... Es fehlte Arthedain an Kriegern, die die Grenzen sicherten und die den Völkern des Reiches Schutz boten; ja nicht einmal zum Schutze Fornosts reichte die Waffengewalt aus!
Und genau deshalb hatte Arvenor die Strapazen auf sich genommen, durch Schnee, Eis und Kälte in das Auenland zu reisen.

"Die grausamen Horden aus Angmar werden auch vor eurem wunderschönen und friedlichen Land nicht Halt machen!" fuhr der Mensch eindringlich fort. "Der Feind verabscheut alles Schöne und Gute, nur auf Zerstörung ist er aus und Unterjochung und er kennt keine Gnade.
Wenn Arnor fällt, wenn Arthedain untergeht, dann wird alles andere überrannt, denn das nächste Ziel des Feindes wird Gondor im Süden sein. Und wer weiß, ob unsere Brüder und Schwestern dort gewappnet sind. Das Blut der Dúnedain wird immer schwächer und kraftloser ..."
Arvenor verstummte und senkte den Blick.

Die Hobbits spürten eine seltsame Trauer in dem Menschen. Sie begriffen nicht alle seine Worte, aber ihre Eindringlichkeit rührte ihre Herzen.
"Sagt, Herr Arvenor", meldete sich Freder zaghaft zu Wort, "wer genau ist dieser Feind, von dem ihr sprecht? Mir scheint fast, dass Ihr von einem einzigen Wesen erzählt, das uralt sein muss und sehr mächtig."
Arvenor nickte langsam und dann sah er auf. Seine Miene war entschlossen und seine Augen funkelten wild, aber dennoch konnte er die Furcht nicht verbergen, die sich über seinen Geist legte, wenn er an den Schrecken aus Angmar dachte.

"Ihr habt recht, Freder. Der Feind hat einen Namen für uns und eine Gestalt. Der Hexenkönig wird er genannt und er selbst gab sich den Namen Aran-dûr - der Dunkle König. Er hat ein mächtiges Reich erschaffen in den Jahrhunderten seiner Herrschaft und immer wieder hat er die Hand ausgestreckt nach den Königreichen des Nordens, bis Rhudaur und Cardolan sich ihm beugen mussten. Nur Arthedain, das Land meines Fürsten, hat ihm bis jetzt widerstanden.
Aber wehe uns, denn wir sind schwach geworden und ein neues Heer sammelt sich in Angmar, wie uns die Elben berichteten, und mit jedem Tag werden es mehr der abscheulichen Kreaturen über die der König von Angmar zu gebieten vermag."

Arvenor sah in die Runde. Ernste Gesichter blickten ihn an, die so gar nicht zu den gemütlichen und immer fröhlichen Hobbits passen wollten, als die er sie in der sehr kurzen Zeit, die er in ihrer Mitte weilte, kennen gelernt hatte. Die Unbeschwertheit, die noch vor wenigen Stunden geherrscht hatte, war von ihnen gewichen.
Arvenor tat es mit einem Male Leid Neid empfunden zu haben und er verwünschte seine Rolle als Zerstörer der Träume von Frieden und Freude - denn genau das war er. Er hatte den Hobbits mit wenigen Worten, aber umso eindringlicher vom wahren Wesen der Welt erzählt, in der sie lebten, auch wenn das Auenland wie ein verwunschenes Elbenreich dalag, verschont von allen Übeln.

"Jetzt wisst ihr, wie es um das Reich der Menschen des Nordens bestellt ist. Einstmals waren wir mächtig, und unsere Könige gewaltige Herrscher, aber nun ist unsere Zahl verschwindend gering und der Feind steht wieder einmal vor unseren Toren ..." Arvenor sprach mit Bitterkeit in der Stimme und ein wenig Scham.
Was war nur aus den Nachkommen Elendils und Isildurs geworden? Als Bittsteller kamen sie nun - zu denen, die noch nie mächtig gewesen waren. Es fiel Arvenor nicht leicht, seine nächsten Worte auszusprechen.

"Es mag vielleicht lächerlich erscheinen, aber auch eine vermeintlich gering zu erachtende Hilfe ist in Zeiten wie diesen wichtig. Deshalb bittet Euch mein König Arvedui um diese Hilfe.
Gewährt ihm einige Krieger - so viele, wie ihr entbehren könnt - und lasst sie nach Fornost ziehen. Jede Hand, die eine Waffe zu führen versteht, ist uns mehr als willkommen. Jeder Krieger, und mag er auch noch so klein sein, wird gebraucht. Überdenkt meine Worte!"

Über die Wirtsstube begann sich eine fast gespenstische Ruhe zu legen, als die anwesenden Hobbits sich langsam bewusst wurden, was die Worte des Menschen bedeuteten.
Dem einen erschlossen sie sich schneller, dem anderen erst nach einiger Zeit, aber schließlich hatte auch der letzte Hobbit ihren Sinn erfasst.
Aufgeregtes Reden erhob sich und so manche Miene, die bis dahin freundlich gewesen war, verfinsterte sich, denn der Mensch wollte etwas, dass undenkbar erschien. Noch nie war jemand gekommen und hatte etwas Ähnliches von den Bewohnern des Auenlandes gefordert!

Einige Hobbits bestürmten ihren Bürgermeister und machten ihrem Unmut Luft, indem sie auf Datho einredeten, andere - wie Freder und Lero - blieben auf ihren Plätzen sitzen und sahen sich nur stumm an.
Nach einer Weile erhob sich Arvenor und seine hohe Gestalt überragte die Hobbits und er begann mit klarer, lauter Stimme zu sprechen.
"Hört mich an und verurteilt mich nicht vorschnell!
Ein Bündnis wurde geschlossen, vor langer Zeit, ein Bündnis zwischen den Dúnedain und den ersten Halblingen, die ihre Füße in dieses Land setzten." Mit diesen Worten ergriff Arvenor einen kleinen ledernen Beutel an seinem Gürtel und zog ein Pergament hervor, das er hochhielt, auf das jeder Hobbit es zu sehen vermochte.

Das alte Pergament war schon sehr vergilbt und die schwarze Tinte darauf blass geworden, aber man konnte die Buchstaben in der Sprache der Elben immer noch lesen und immer noch das Siegel des Nördlichen Königreichs Arthedain sehen und daneben eine schwungvolle Unterschrift.
Ehrfürchtig strich Arvenor das Pergament glatt und fast liebevoll glitten seine Finger über die feine Schrift.
"Das ist der Name Argelebs, des Königs von Arthedain vor über drei Jahrhunderten. Dieses Pergament bestätigt euch Halblingen den Besitz des Auenlandes."

"Was genau steht dort", fragte ein Hobbit leise und Arvenor sprach: "Hier steht geschrieben 'Ich, Argeleb der Zweite von Arthedain, überlasse Kraft meines Amtes und meiner Macht, unter Zeugen der Menschen und Halblinge, diesen letzteren, die aus dem Osten gekommen sind vor etlichen Jahren, das von ihnen Auenland genannte Gebiet zwischen dem Baranduin und den Weiten Höhen. Möge es ihr Besitz sein, bis sich der Lauf der Welt dem Ende zuneigt. Als einzige Gegenleistung erbitten die Dúnedain von den Halblingen, die Große Oststraße in einem ordentlichen Zustand zu erhalten. In weiser Voraussicht wird von den Halblingen erwartet, dass sie - sollte es einmal nötig sein - ihre Kräfte zum Wohle Fornosts und Arthedains und somit ihrer selbst aufbringen, wenn darum ersucht wird.'"

Arvenor ließ das Pergament sinken. "Ich fürchte, nun ist der Tag gekommen, an dem sich diese Worte erfüllen sollen. Im Namen meines Königs Arvedui von Arthedain bitte ich noch einmal in aller Förmlichkeit um diese Hilfe."
Die Hobbits sahen sich an, aber keiner sagte ein Wort und es dauerte lange, bis sich einer regte. Datho erhob sich langsam. Seine Bewegungen waren schwerfällig geworden, so als sei in wenigen Stunden die Last vieler Jahre auf seine Schultern gelegt worden.
"Seid Ihr Euch im Klaren, was Ihr verlangt, Herr?" fragte er mit leiser Stimme.

"Wir Hobbits sind keine wagemutigen Krieger. Wir sind Bauern, Handwerker und wenige etwas mehr. Seht Euch um, das Auenland hat noch nie die Waffen erheben müssen. Das Schlimmste und Größte, was wir jemals töten mussten, waren ein paar hungrige Wölfe. Wir verstehen nichts vom Kampf gegen die Feinde, die Ihr uns geschildert habt. Uns graut vor ihnen. Und ich glaube mit Recht behaupten zu können, dass ich für die Hobbits des ganzen Auenlandes spreche. Ich fürchte, wir werden Eurem König keine Hilfe zu bieten vermögen."
Arvenor fuhr sich müde mit der Hand über die Augen. Er fühlte sich erschöpft und schuldig.

Sein Auftrag war klar gewesen und seine Bitte berechtigt, aber er wusste genau, das Datho ebenso Recht hatte: die Hobbits waren keine Krieger. Sie in den Kampf gegen Angmar zu schicken, war das Todesurteil für sie. Nur, es blieb keine andere Wahl!
Arthedain war auf jede helfende Hand angewiesen und wenn sie das Verhängnis auch nicht abwenden konnte, so konnte sie es hinauszögern und dann waren vielleicht die ersehnten Kräfte aus Gondor eingetroffen, auf die König Arvedui seine Hoffnungen setzte.
Schon vor zwei Monaten hatte er seine Boten ausgeschickt, um Beistand im Kampf gegen den Schatten aus Angmar zu erbitten, denn die Elben hatten ihn vor neuem Unbill aus dem Osten gewarnt, auch wenn sie selbst sich in die Geschicke der Menschen kaum noch einmischten.

Aber wer wollte es ihnen verübeln. Sie, die Unsterblichen, Schönen und Weisen, wurden von den Nöten der Menschen nicht berührt. Sie wandelten eine Zeit lang über Mittelerde und dann verschwanden sie, wie Nebel im Wind, kehrten übers Meer heim in die geheiligten Gefilde, weil sie der Welt überdrüssig geworden waren. Die alte Kraft in ihnen, die sie Zeitalter um Zeitalter angetrieben hatte, erlosch immer mehr, war nur noch eine kleine Flamme - wie sollte sie wieder zu einem Feuer werden?

Die Menschen mussten sich neue Verbündete suchen. Mochten diese wollen oder nicht.
"Wer sagt uns denn, dass Eure Worte überhaupt der Wahrheit entsprechen, Herr!" warf ein alter Hobbit ein und deutete auf das Schriftstück in Arvenors Hand. Er sprach aus, was nicht wenige dachten.
Der Dúnadan wollte auffahren, aber seine Verärgerung wich schnell und machte Verständnis Platz. Hätte er selber nicht die gleiche Frage gestellt, wenn ein Fremder, noch dazu von einer anderen Art, nach Arthedain gekommen wäre, um Beistand zu fordern aufgrund eines vergilbten Pergaments, das in einer Sprache geschrieben war, die er nicht lesen konnte? Er durfte den Hobbits ihr Misstrauen nicht verübeln.

"Dieses Schriftstück besiegelte das Bündnis", erklärte Arvenor erneut. "Wenn eure Vorväter ihm die gleiche Bedeutung beimaßen, wie es die unseren taten, dann befindet sich im Auenland ein identisches Pergament in eurer Sprache. Das, was darin geschrieben steht ist für uns Dúnedain gleichermaßen wichtig und bindend, wie für euch Halblinge."
Die Hobbits sahen sich an. Köpfe wurden geschüttelt und Fragen in den Raum geworfen.
Keiner hatte dieses Schriftstück jemals gesehen und keiner konnte sich daran erinnern, davon gehört zu haben.
Nun, vielleicht bis auf einen oder zwei Hobbits ...

Schließlich räusperte sich der alte Hettelmann, der die ganze Zeit über ruhig und gründlich zugehört hatte, ab und an sein warmes Bier genoss und dem nachging, was fast alle Hobbits im Wirtshaus taten. Nun zog er wütend an seiner Pfeife und blies Rauchringe in die Luft. Er hatte es schon lange geahnt - eines Tage würde einer der Großen Leute sich ins Auenland verirren und alles durcheinander bringen. Nun war es also geschehen; und konnte nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Und vielleicht war es ganz gut so. Hettelmann war immer der Ansicht gewesen, dass die Hobbits es eigentlich gar nicht verdient hatten mit soviel Glück, Zufriedenheit und Freude gesegnet zu sein, wie sie es waren, seit das Auenland ihre Heimat war. Deshalb traf der alte Hettelmann eine Entscheidung, wie sie schwerwiegender nicht sein konnte.

Durch den Rauch hindurch hörte man seine knarzige, raue Stimme.
"Hm, hm", sagte er bedeutungsvoll und wandte sich an Datho. "Du solltest das Mathom-Haus doch eigentlich in und auswendig kennen, immerhin ist dein Sohn dafür verantwortlich, dass alles seine Ordnung hat und auch du siehst nach dem Rechten. Aber ich will dir keinen Vorwurf machen. Schick einfach einen aus dieser Runde los. Im Großen Zimmer, dort wo auch das Wolfsfell hängt, steht in der dunklen Ecke neben der Uhr eine alte schwarze Truhe und in dieser Truhe liegt ein Pergament. Wenn wir unserer Ehre genügen wollen, lass es holen."
Die Augen aller Hobbits ruhten auf dem alten Hettelmann und wanderten dann zu ihrem Bürgermeister.

Datho blieb eine Weile stumm. Als Hettelmann zu sprechen angefangen hatte, da war es dem Hobbit kalt den Rücken hinuntergelaufen und Zorn kam in sein Herz. Datho wusste sehr wohl, was sich alles im Mathom-Haus befand, aber er war der Ansicht gewesen, dass nicht jedes Ding gleichermaßen viel Beachtung verdiente. Er selbst hatte das Pergament in der alten Truhe, die niemand vorher jemals näher in Augenschein genommen zu haben schien, entdeckt.
Es musste Jahrhunderte dort gelegen haben und vergessen worden sein, und so vergaß er es auch - bis zu dem Zeitpunkt, als er das Gegenstück in der Hand des Menschen gesehen hatte.

Datho war ein aufrichtiger Hobbit und ein guter Bürgermeister, dem das Wohl der Bewohner Michelbinges und der Bewohner des Auenlandes am Herzen lag und deshalb hatte er schweigen wollen. Er konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass die Hobbits in die Welt außerhalb des Auenlandes gingen, die so ganz anders war als ihre eigene, wie der Mensch ihnen geschildert hatte - grausam und kalt und tödlich.
Aber Hettelmann hatte recht. Es war nie die Art der Hobbits gewesen, sich aus der Verantwortung zu stehlen und so sollte es auch diesmal sein, mochte dann geschehen, was geschehen sollte. All das lag nicht mehr in der Hand der Hobbits.

Datho wandte sich an eine junge Frau, die in seiner Nähe saß und sagte: "Mya, sei so lieb und gehe ins Mathom-Haus und schau in der Truhe nach und bring das, was Hettelmann gemeint hat, hierher."
Die junge Frau nickte und war einen Augenblick später verschwunden.
Wieder herrschte Schweigen in der Gaststube und im Schein des niedergebrannten Feuers, saßen sie alle, Hobbits und Mensch, in stummer Erwartung und mit Ahnungen beladen; und nicht wenige mit bangen Herzen.

Als Mya wieder in die Gaststube trat, war die Anspannung bei einigen so groß, dass sie aufstanden, um zu sehen, was die junge Frau mit sich brachte.
Keiner sagte etwas, aber ein Seufzen ging durch die Reihen der Hobbits, denn in Myas durchgefrorenen Händen lag ein Stück Pergament, ganz so wie das, welches der Mensch mit sich führte. Zögernd hielt die Hobbit-Frau es in die Höhe, damit jeder es sehen konnte.
Einige Hobbits drängten sich heran und beäugten das Schriftstück, das so lange in ihrem Mathom-Haus gelegen hatte und dem über unzählige Jahre hinweg keine Beachtung geschenkt worden war - nicht geschenkt werden konnte, denn bis auf Datho hatte niemand davon gewusst und der Hobbit hatte sein Wissen wohlweislich für sich behalten.

War es Zufall oder eine Fügung des Schicksals, dass der alte Hettelmann es eines Tages in der verstaubten Truhe fand, die er Zeit seines Lebens in der schummrigen Ecke hatte stehen sehen und die ihn - und auch die anderen Besucher des Mathom-Hauses - nie interessiert hatte, weil sie unscheinbar und wenig ansehnlich war und so gar nicht geheimnisvoll. Aber an jenem Tag, an einem späten Herbstabend, an dem der Wind durch Michelbinge gepfiffen hatte und man sich in seiner Höhle aufhielt und nicht herumspazierte, war Hettelmann einer inneren Stimme folgend in das Mathom-Haus gegangen. Er war schon damals nicht mehr jung gewesen und lebte häufig von seinen Erinnerungen und deshalb liebte er das alte Gebäude mit seinen verwinkelten und verträumten Zimmern.

Ganz allein war er gewesen und durch die Räume geschlendert und im Großen Raum hatte er die Truhe erblickt und zum ersten Mal richtig in Augenschein genommen und sie schließlich geöffnet. Er hatte dem vergilbten Stück Pergament, das zwischen alten Pfeifen und abgegriffenen Büchern über Kräuterkunde lag, nicht mehr als einen Blick gegönnt, denn er hielt nicht viel von der Kunst des Lesens, aber es war in seinem Gedächtnis haften geblieben, weil es ihm als etwas Sonderbares erschienen war, dem irgendwer einmal Bedeutung beigemessen haben musste; sonst wäre es nicht im Mathom-Haus in der unscheinbaren Truhe gelandet.

Nun wusste ganz Michelbinge von dieser Bedeutung, aber niemand konnte darüber glücklich sein, denn in dem Pergament stand - für diejenigen Hobbits, die des Lesens kundig waren nur allzu deutlich sichtbar - der gleiche Wortlaut, den Arvenor vor kurzer Zeit verlesen hatte. Alles war genauso ... das Siegel und die Unterschrift des Königs, daneben die etwas weniger eleganten Zeichen zweier Hobbits ... und die Bedeutung.
"Ihr habt die Wahrheit gesprochen, Herr Arvenor", begann Datho mit müder Stimme. "Bitte zürnt uns nicht ob unseres Misstrauens und habt Verständnis für unsere Sorgen, denn was ich gesagt habe, ändert sich nicht durch ein Stück Pergament ... wir Hobbits sind keine Krieger.
Ich will niemanden mit Euch schicken, weder aus Michelbinge noch aus dem übrigen Auenland. Befreit mich von meiner Bürde, denn mein Gewissen ließe mir keine Ruhe!"

Der Dúnadan setzte sich langsam wieder. "Ich kann Euch verstehen, Herr Hobbit, und ich respektiere Euren Wunsch", antwortete er leise.
"Nun denn, jetzt liegt es in den Händen jedes einzelnen Hobbits hier, wie er zu dem Bündnis steht. Zwingen werde ich euch nicht, schon allein weil ich es nicht vermag, aber ich bitte noch einmal um Beistand."
Arvenor blickte in die Runde und sah in verschlossene, nachdenkliche und auch ängstliche Gesichter und Schweigen folgte auf seine Worte.

"Ich werde mit Euch gehen, Herr Arvenor!" rief nach einer beklemmend langen Zeit plötzlich eine Stimme.
Freder war aufgestanden und sah dem Menschen fest in die Augen. "Ich verstehe einen Bogen zu führen und mag Euch und Eurem König von Nutzen sein."
Die Hobbits begannen zu tuscheln. Sie wunderten sich nicht sonderlich über Freders Entscheidung. Der junge Hobbit war schon immer etwas Besonderes gewesen und er hatte Ehrgefühl, das erkannten sie neidlos an.
Lero zögerte. Er blickte zu Freder auf, der sich als erster freiwillig gemeldet hatte, dem Menschen in eine ungewisse Zukunft zu folgen, um der Ehre der Hobbits gerecht zu werden und das alte Bündnis zu erfüllen.

War es Freder leicht gefallen diese Entscheidung zu treffen?
Lero dachte an seine Frau und seine Kinder. Er wollte sie nicht einfach allein lassen, obwohl seine Frau eine große Familie hatte, die sie und die Kinder jederzeit aufnehmen würde. Aber was würde aus seiner Arbeit werden? Er war der beste Schmied weit und breit ... Durfte er dann fortgehen?
Lero tat sich schwer damit, das Für und Wider abzuwiegen, während sein Herz die Entscheidung schon lange gefällt hatte. Also hörte Lero sich sagen: "Ich komme ebenfalls mit."

Und keiner war überrascht, denn Lero und Freder gehörten zusammen - in guten, wie in schlechten Zeiten.
"Auch ich werde mich anschließen", sagte Datho unvermittelt und als er die erstaunten Blicke der anderen Hobbits sah, fuhr er fort: "Es ist ohnehin an der Zeit, dass Michelbinge einen neuen Bürgermeister bekommt, welche Gelegenheit wäre besser als diese."

Und so kam es, dass sich in Michelbinge zwanzig Hobbits fanden, die bereit waren einem der Großen Leute in ein Abenteuer zu folgen, dessen Ausgang mehr als ungewiss war. Die meisten von ihnen würden mit einem Ger umzugehen verstehen, wenn sie ein wenig Anleitung und Übung bekamen, Lero wäre allein schon wegen seiner Kraft auch für ein größeres Schwert geeignet und Freder schließlich war ein Bogenschütze, wie es keinen zweiten im Auenland gab.

Arvenor spielte eine Weile mit dem Gedanken, durch das Auenland zu ziehen und weitere Hobbits für sich zu gewinnen, aber er entschied sich schließlich dagegen. Zu viel Zeit würde es kosten, um von Ort zu Ort zu gehen und sein Anliegen vorzutragen und um Verständnis zu ringen. Diese Zeit hatte er nicht; hatte sein König nicht.
Wenige Stunden nach der denkwürdigen Versammlung im 'Glücklichen Hobbit' machten sich die Michelbinger, die den Menschen begleiten wollten auf, um Vorbereitungen zu treffen - und allen wurde mit Rat und Tat zur Seite gestanden.

Als der Abend hereinbrach und die ersten Sterne zu funkeln begannen wie kleine, ferne Fackeln, war die Gruppe um Arvenor bereit zum Aufbruch und ein wehmütiges Abschiednehmen begann, mit nicht wenigen Tränen und besten Wünschen.
Alle Michelbinger folgten den einundzwanzig Wagemutigen schließlich zum Ortsrand und bildeten dort eine stumme Schar, denn es sollte kein Wort mehr fallen, alles war gesagt und es gab kein Zurück mehr.

Lange sahen die Hobbits den Scheidenden nach, die, in dicke Kleidung gehüllt, mit Proviant und hier und da einem langen Messer oder Bogen bepackt, dem Menschen folgten, der sein Pferd am Zügel führte; auf dem Weg, den er den Abend zuvor gekommen war.
Bald verschwanden die Gestalten in der Ferne und die Nacht brach über Michelbinge herein. An diesem Abend wurden keine Geschichten erzählt und nicht gesungen und gelacht, denn die Gedanken der Hobbits weilten bei ihren mutigen Verwandten und Freunden und nicht wenigen war sehr schwer ums Herz ...
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