Arda Fanfiction

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Der Schatten von Angmar - Teil 2

von Dairyû

Ein unerwarteter Gast

Am westlichen Ortsrand von Michelbinge stand in der Tat ein dunkler Schemen, der sich im Sternenlicht vor dem hellen Schnee deutlich abzeichnete. Die Abordnung Hobbits, die sich mit allerlei Dingen, die sich als Waffen eigneten und einigen Lampen ausstaffiert hatte, blieb in gebührender Entfernung stehen. Der Schatten war groß! Von Zeit zu Zeit bewegte er sich unruhig, ein mächtiger Schädel pendelte hin und her und zuweilen war ein dumpfes Stampfen zu vernehmen.
Die Hobbits strengten ihre Augen an.

Eine geraume Zeit starrte jeder auf die von Schnee und Sternenlicht angenehm erhellte Straße. Was sie da vor sich sahen war ...
"Das ist ein Pferd!" entfuhr es Lero, dem man die Erheiterung anmerkte. Er sprach damit aus, was alle zu sehen vermocht hatten.
Unter den Hobbits erhob sich Gemurmel.
Zunächst machte sich Erleichterung breit und Nico musste sich einige gutmütige und spöttische Bemerkungen über die Schärfe seiner Augen gefallen lassen. Aber wenig später kam eine gewisse Ratlosigkeit und Unsicherheit auf, denn Pferde waren etwas, das die Hobbits kaum jemals zu Gesicht bekamen. Sie gehörten zu den Großen Leuten und nicht ins Auenland.

Die Hobbits gaben sich mit Ponys zufrieden, die mehr Lasttiere denn Reittiere waren. Pferde beunruhigten die meisten von ihnen, denn sie waren groß, stark und unberechenbar - für all jene, die ohne viel Anstrengung unter einem Pferdebauch hindurch laufen konnten ganz besonders, und das traf auf die meisten Hobbits zu.
Das Exemplar eines Pferdes, das dort vor ihnen stand war nicht dazu geschaffen, die Bedenken der Anwesenden zu zerstreuen.

Dieses Pferd war außerordentlich groß und kräftig und es schnaubte, als es die unbekannten Ankömmlinge erblickte. Unschlüssig verharrte die Gruppe an ihrem Platz.
Datho hob seine Lampe und leuchtete damit in die Runde. Große Augenpaare sahen ihn erwartungsvoll an. Datho räusperte sich und setzte zum Sprechen an, aber seine bürgermeisterliche Autorität wurde jäh untergraben, als jemand rief: "Da liegt etwas am Rand der Straße im Schnee!"
Und tatsächlich.

Ein wenig abseits des freigeschaufelten, schmalen Streifens Straße, der nur noch mit einer dünnen Schicht Eis bedeckt war - die daher rührte, dass die Sonne am Tage ein wenig Schnee am Straßenrand schmolz - und schräg vor dem Pferd befand sich ein dunkles, langes Bündel. Schweigend und unschlüssig starrten die Hobbits die Gestalt an, die mit dem Gesicht nach unten im Schnee lag.
Trotz der dicken Winterkleidung war deutlich zu sehen, dass es sich um einen Menschen handelte.
"Ist er ... tot?" fragte plötzlich jemand zaghaft.
Freder gab sich einen Ruck. "Das werden wir gleich sehen", sagte er energisch.
"Lero, hilf mir", bat er seinen Freund und gemeinsam traten die beiden Hobbits langsam und vorsichtig auf den Mann zu.

Offensichtlich war er einfach von seinem Pferd gerutscht, denn der reich verzierte Sattel hing dem Tier ein wenig schief auf dem Rücken. Es tänzelte nervös, als die Hobbits herankamen, schien dann aber zu verstehen, dass von den beiden keine Gefahr ausging.
Freder und Lero beugten sich zum dem Mann herunter. Vorsichtig drehten die beiden Hobbits den Menschen - nicht ohne Anstrengung - auf den Rücken. Das schmale, düstere Gesicht wies einige Schürfwunden auf, die vom Sturz auf den verharschten Schnee herrührten, aber ansonsten schien der Mann unverletzt. Aber er war schon sehr kalt und seine blauen Lippen zitterten leicht und sein Atem ging flach und stoßweise.

"Er muss in die Wärme, sonst ist es um ihn geschehen", sagte Freder, während er den bewusstlosen Fremden nachdenklich betrachtete. Sein Blick wurde von einer filigranen Brosche angezogen, die den Mantel des Mannes an der Brust zusammenhielt. Sie war geformt wie ein zerborstenes Schwert, das von fremdartigen Blumen umrankt wurde. Freder zog die Stirn in Falten. Irgend etwas sagte ihm, dass dieser Mann kein gewöhnlicher Mensch war, so wie die Bauern und Händler, die jenseits der Grenzen des Auenlandes lebten. Während er auf die Brosche starrte erschienen vor Freders geistigem Auge plötzlich Bilder. Er sah ein gewaltiges Schlachtfeld unter einem düsteren Himmel, auf dem sich Menschen und Elben tummelten und Geschöpfe, die Freder nie zuvor gesehen hatte. Sie waren scheußlichen Angesichts, grobknochig und roh, in zerfetzte Gewänder und Kettenhemden gekleidet und mit grässlichen Waffen bewehrt. Freder vermeinte sogar den Lärm der Schlacht zu vernehmen; das Klirren der Waffen, die Schreie der Kämpfenden ...

Der Anblick nahm ihn gefangen und verwirrte und ängstigte ihn.
"Freder?"
Lero fasste seinen Freund am Arm.
"Freder! Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um mit offenen Augen zu träumen!"
"Was?"
Freder sah Lero entgeistert an. Der deutete mit dem Kopf auf den Mann vor ihnen im Schnee.
"Du hast selbst gesagt, dass er in die Wärme muss." Lero klang ein bisschen ungeduldig.

In der Zwischenzeit hatten sich auch die übrigen Hobbits eingefunden und standen in einem Kreis um den Menschen. "Wir könnten ihn tragen", schlug Bolfo Kleinfeld vor. "Genügend Leute sind wir ja."
"Sei nicht albern, Bolfo!" wies ihn Datho zurecht. "Sieh dir den Kerl an. Er ist schon unverschämt groß. Keiner von uns würde es durchhalten, und wenn, dann würde es zu lange dauern, bis wir ihn ins Warme schaffen können. Und da nur der 'Glückliche Hobbit' als Unterkunft in Frage kommt, müssten wir ihn außerdem noch zu weit schleppen."
Betreten sahen sich die Hobbits an.

Plötzlich hellte sich Leros Gesicht auf. "Ich habe eine Idee! Der alte Hettelmann hat doch seit ewigen Zeiten einen Schlitten in seiner Scheune stehen, mit dem man Brennholz fahren kann.
Das Ding mag zwar nicht mehr besonders ansehnlich sein, aber es ist groß genug, um den Menschen zu transportieren. Und da ich jeden Herbst nach den Kufen sehen muss, ist der Schlitten auch funktionstüchtig."
"Und was willst du davorspannen?" ließ Bolfo sich vernehmen. Der Schlitten wurde eigentlich von zwei Ponys gezogen. Aber die Tiere mussten bei der extremen Kälte und dem verharschten Boden in ihren Ställen bleiben. Die Hobbits kannten die Gepflogenheit, Hufeisen zu verwenden nicht, so dass die Hufe ihrer Ponys zu empfindlich waren.

Nachdenklich warfen alle dem Pferd einen Blick zu. Aber das Tier würde jedes Geschirr sprengen, das man ihm anzulegen versuchte. Es war einfach zu mächtig für ein Ponygeschirr.
Darüber hinaus trug es genug Last, denn am Sattel war ein ovaler, schmuckloser Schild befestigt, der fast die Größe eines Hobbits hatte und daneben baumelte ein ellenlanges Schwert in einer abgenutzten Scheide und dazu waren am hinteren Teil des Sattels zwei Proviantsäcke und eine Decke befestigt.

"Wir werden den Schlitten wohl selber ziehen müssen", sagte Freder. "Das ist allemal einfacher, als den Menschen zu tragen. Doch wenn wir hier noch lange herumreden und überlegen, dann können wir den armen Kerl auch gleich liegen lassen."
Die anderen Hobbits nickten, denn Freder hatte nur zu recht.
"Lero, Nico!" befahl Datho. "Ihr holt euch den Schlitten und kommt so schnell wie möglich wieder zurück. Jetzt ist Eile geboten."
Die beiden Hobbits machten sich sofort auf den Weg.
Der alte Hettelmann wohnte günstigerweise recht nah am Ortsausgang in einer großen Höhle.
Neben ihr befand sich eine gepflegte Scheune, die allerlei Gerätschaften enthielt – und besagten Schlitten.
Ein brummiger Hettelmann öffnete Lero und Nico, die mit den Fäusten an die Tür geschlagen hatten und damit so viel Lärm machten, dass sogar in einigen Nachbarhöhlen das Licht anging.
Er war mehr als ein wenig verärgert, denn die Beiden hatten ihn aus dem wohlverdienten Schlaf geholt – Hettelmann ging früh zu Bett und stand früh wieder auf – und redeten atemlos auf ihn ein. Es dauerte ein bisschen, bis er begriff, dass nach seinem Schlitten verlangt wurde.
Achselzuckend wies er mit dem Kopf zur Scheune.

"Das Tor ist offen", grummelte er und sah Lero und Nico ein wenig schief an, so als wollte er sagen "Warum holt ihr euch den Schlitten nicht einfach?" Damit schlug er den beiden verdutzten Hobbits die Tür vor der Nase zu. Sie hörten ihn murmelnd davon schlurfen.
Lero machte eine hilflose Geste mit dem Armen und sah Nico an. "So ist er nun mal. Los, sehen wir zu, dass wir den Schlitten aus der Scheune bekommen. Wir haben Glück, dass es auf der Straße nach Westen hin ein wenig abschüssig und vereist ist ..."
Nach kurzer Zeit war der Schlitten also da, wo er gebraucht wurde.

Das Gefährt war über einen Meter hoch und fast zweieinhalb Meter lang und mit eisenbeschlagenen, breiten Kufen ausgestattet. Um die Ladefläche zogen sich einige hohe, dicke Balken, die ein Geländer bildeten und die es erlaubten, mehrere Schichten Holz zu transportieren.

Lero und Nico hatten sich aus Hettelmanns Scheune statt der Ponygeschirre auch einige feste Seile mitgenommen, die sie an den vorne hochgebogenen Kufen befestigt hatten. Sie sollten den Hobbits zum Ziehen dienen. Der Schlitten war ein großes Fahrzeug; eins der wenigen dieser Art in Michelbinge und in der Vergangenheit so selten in Gebrauch gewesen, dass einige dem alten Hettelmann schon des Öfteren den Vorschlag unterbreitet hatten, ihn zu Brennholz zu verarbeiten, anstatt darauf zu warten, einmal Brennholz damit zu fahren. Glücklicherweise hatte der Bauer sich nicht auf diese Vorschläge eingelassen.

Während Lero und Nico sich aufgemacht hatten, den rettenden Schlitten zu holen, waren die anderen Hobbits nicht müßig gewesen. Freder war es gelungen, die Decke vom Sattel zu ziehen – dankenswerterweise hatte das Pferd stillgehalten, als der Hobbit mehrmals an der dicken Rolle aus gewebter Wolle gezerrt hatte – und gemeinsam mit den anderen hatte er den Mann darin eingewickelt.
Der Fremde hatte das Bewusstsein noch immer nicht wiedererlangt, aber dann und wann murmelte er Worte in einer Sprache, derer die Hobbits nicht mächtig waren. Freder hielt sie für Elbisch, war sich jedoch nicht sicher, denn warum sollte ein Mensch in der Sprache der Elben reden.

Nach einigem Hin und Her gelang es den Hobbits mit vereinten Kräften den Mann auf den Schlitten zu heben. Dort betteten sie ihn möglichst bequem auf die Ladefläche und machten sich daran, das Gefährt und seine Last nach Michelbinge und zum Wirtshaus zu ziehen.
Das Pferd trottete hinter der Prozession her und ließ sich nach einer Weile vom sehr vorsichtigen Lero am Zügel ergreifen und führen.

Es dauerte geraume Zeit, bis die Gruppe das Wirtshaus erreichte, denn die Hobbits taten sich ein wenig schwer damit, den großen Schlitten auf der vereisten Straße zu ziehen, weil sie immer wieder ausrutschten. Sie wechselten sich ab und so konnte jeder zwischendurch wieder Kräfte sammeln, aber das machte die Aufgabe nur unwesentlich leichter.
Sie legten bei Hettelsmanns Scheune eine kurze Pause ein, um das Pferd dort unterzustellen.
Die Scheune war der einzige Ort in unmittelbarer Nähe, der sich dazu eignete. Dort hatte das Pferd es bis zum nächsten Morgen erst einmal am Besten, dann würde man weitersehen.

Das Tier war anfangs nicht begeistert darüber von seinem Herrn getrennt zu werden, aber Lero – zu dem es Vertrauen gefasst zu haben schien - konnte es beruhigen und als die Hobbits die Scheune leise schlossen, war das Pferd friedlich, was vielleicht auch mit daran lag, dass es eine Traufe voller Heu entdeckt hatte.
Mit einer Sorge weniger setzten die Hobbits ihren Weg zum Gasthaus fort. Als sie es schließlich geschafft hatten, war selbst Lero ein wenig außer Atem und musste einen Moment verschnaufen.

Datho, der sich erstaunlich gut gehalten hatte, riss wenige Augenblicke später die Tür des Wirtshauses auf und bevor er noch etwas sagen konnte – dieses Schicksal schien ihm heute öfter zugedacht zu sein –, hatte man ihn entdeckt und bestürmte ihn mit Fragen. Es dauerte ein Weilchen bis den Anwesenden klar wurde, dass sie auf diese Weise nie etwas aus ihrem Bürgermeister herausbekommen würden und so verstummtem die Neugierigen mit einem Mal - nur das Knacken des Kaminfeuers war noch zu vernehmen.

Datho holte tief Luft.
"Nicos unheimliche Gestalt hat sich als Pferd entpuppt", sagte er gewichtig und sofort waren wieder unzählige Stimmen zu vernehmen, die durcheinander riefen.
Datho schüttelte mit ein wenig Resignation den Kopf, dann erhob er seine Stimme über den Tumult und rief: "Das Pferd gehört einem Menschen und dieser Mensch ist halb erfroren, darum werden wir ihn ins Wirtshaus bringen!"
Ohne sich um die Hobbits weiter zu kümmern, von denen manche jetzt mit offenen Mündern auf ihren Bürgermeister starrten oder ihren Nachbarn verwunderte und ungläubige Blicke zuwarfen, kehrte Datho der Versammlung den Rücken, um dabei zu helfen, den Menschen in den "Glücklichen Hobbit" zu schaffen.

Da ihnen nach kurzer Zeit zahlreiche Hände Unterstützung boten, dauerte es nicht lange, bis der Fremde unter Getuschel und Fragen und so manchem misstrauischen Blick in einem der Gästezimmer verschwunden war.
Die Gespräche in der Wirtsstube wurden nun nur noch leise geführt und nach gar nicht langer Zeit machten die meisten Hobbits sich auf und davon, um den Rest des Abends in ihren Höhlen zu verbringen. Sie fühlten sich mit einem Mal etwas befangen in der Gegenwart des Menschen, auch wenn er sich in einem der Nebenzimmer befand und auch wenn er bewusstlos war - er war und blieb ein Fremder und damit unheimlich, vielleicht sogar verdächtig und plötzlich empfanden viele nicht mehr die erhebende Neugier, die häufig ein angenehmes Kribbeln im Bauch erzeugen konnte, sondern ein wenig Beklemmung, der man am Besten dadurch entging, indem man die eigene Höhle aufsuchte und sich ins Bett legte.

Immerhin war es ja auch schon spät.
So kam es, dass nur Freder, Lero und die anderen, die an der Rettung des Menschen beteiligt gewesen waren, blieben. Gemeinsam entledigten sie den Mann seines dicken Mantels, der eisig kalt war und sehr schwer. Darunter trug der Fremde feingewebte bräunliche Kleidung - die Hose war mit Wildleder verstärkt, während das leinene Hemd von Stickereien verziert war, die Kragen und Ärmel umschmeichelten. Alles wirkte zart, aber wenn man den Stoff berührte, war er auf wundersame Weise sehr dick und sehr angenehm.

Die Hobbits bereiteten dem Menschen ein Lager aus vielen Decken und einigen Fellen auf dem Boden des Zimmers, denn ihre Betten waren einfach zu klein. Vorsichtig legten sie ihn darauf und dann betrachteten sie ihn das erste Mal genauer.
Just in diesem Moment schlug der Mann die Augen auf.
Die Hobbits wichen zurück und der Fremde richtete sich mühsam auf seinem Lager auf, seine schlanke Hand tastete nach dem vertrauten Schwert, das er fast immer an seiner Seite hatte.
Er blickte sich einen Moment lang verwirrt um, dann ließ er sich erschöpft wieder auf das Lager sinken, aber seine Augen blieben offen und funkelten im Licht des kleinen Kamins, der das Zimmer in wohlige Wärme tauchte.

Der Fremde war hochgewachsen; selbst für einen Menschen. Seine Gestalt war schlank, fast hager, aber man spürte die Kraft, die ihr innewohnte. Der Mann hatte gebräunte Haut und dunkle Haare, durch die sich erste graue Strähnen zogen. Seine meergrauen Augen blickten aufmerksam in die Runde und trotz der Erschöpfung, die ihn noch immer schwächte, war der Mensch wachsam und angespannt.
Allerdings ließ seine Wachsamkeit nach, als ihm zu Bewusstsein kam, wo er sein musste und als er in die Gesichter der Hobbits sah, die um sein Lager herumstanden und warteten. Kein einziges zeigte einen Anflug von Feindseligkeit; nur Neugier lag darin - mal mehr, mal weniger gut verborgen. Der Mensch erinnerte sich an die Geschichten, die er über die Halblinge gehört hatte und lächelte.

Die Hobbits sahen sich an und dann wanderten ihre Augen wie auf einen stummen Befehl hin zu ihrem Bürgermeister.
"Äh ..."
Datho trat ein wenig widerwillig hervor und spielte nervös mit seinen Händen. "Willkommen in Michelbinge, Fremder. Was führt dich zu uns?" begann er, der sonst nie um ein Wort verlegen war. Aber der Mensch machte ihn nervös – es tröstete ihn ein wenig, dass es den anderen Hobbits genauso ging – und er wusste nicht, wie er sich einem von den Großen Leuten gegenüber geziemend verhalten sollte.
Da war es wohl das Klügste, nach dem Naheliegendsten zu fragen.

"Gebt mir ein wenig Zeit und Ruhe und ich werde all Eure Fragen beantworten", entgegnete der Mann leise. Er sprach mit einem fremdartigen Akzent, aber seine klare und melodische Stimme war angenehm und vertrauenserweckend.
Datho nickte eifrig. "Natürlich, mein Herr. Wie unhöflich von uns, Euch mit Fragen zu belästigen. Wir werden uns jetzt zurückziehen. Wenn Ihr etwas braucht, dann ruft einfach und ..."

Datho verstummte. Es war ganz offensichtlich, dass der Fremde im Moment nur eins brauchte und das war ein erholsamer Schlaf, denn er hatte schon wieder die Augen geschlossen und sein Atem war ruhig und gleichmäßig, wenn auch sein Antlitz von Sorgen umwölkt war.
Achselzuckend wandte Datho sich an die anderen.
"Lasst uns gehen," flüsterte er. "Wenn der Tag anbricht, dann werden wir unsere Antworten bekommen." Leise schlichen die Hobbits aus dem Zimmer und bis auf Freder und Lero waren sie schnell aus der Gaststube hinaus. Auf der Türschwelle blieb Freder plötzlich stehen.
"Ich bleibe bei ihm. Wer weiß, ob er nicht bald wieder aufwacht und dann mag er Hunger haben oder Durst oder will wissen, was mit seinem Pferd ist."

Lero sah seinen Freund verwundert an. "Er ist hier doch nicht alleine. Marga und Fitz werden sich um ihn kümmern, wenn wir sie darum bitten. Du weißt doch welche Mutterinstinkte in Marga schlummern. Sie wird mit Freuden eine Nacht hier im Gasthaus verbringen und auf den Fremden aufpassen und Fitz wird es sich auch nicht nehmen lassen."
Freder konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen, als er sich Marga, die gemütliche Wirtin vorstellte, wie sie ihren ungewöhnlichen Gast umsorgte, während ihr Mann Fitz, der nicht minder gemütliche Wirt, becherweise warmes Bier bringen würde, um dem Menschen etwas Gutes zu tun.

Aber dann wurde Freder wieder ernst.
"Ich kann es nicht erklären, Lero, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich bei ihm bleiben muss. Einfach so ... Marga und Fitz haben auch sonst schon viel zu tun, wenn Gäste hier übernachten. Gönn' ihnen einen ruhigen Abend daheim."
Lero nickte, obwohl er nicht genau verstand, was Freder bewegte und schlug seinem Freund aufmunternd auf die Schulter. "Tu, was du nicht lassen kannst. Ich werde jetzt jedenfalls so schnell wie möglich nach Hause eilen und meiner Frau eine neue Geschichte erzählen. Gute Nacht und bis morgen!"

Freder stand noch eine Weile nachdenklich im Eingang, um Lero nachzusehen, dann kehrte er ins Gasthaus zurück und schloss die Höhlentür leise. Marga, die noch in der Küchennische herumwirbelte, während Fitz schon nicht mehr zu sehen war, warf ihm nur einen kurzen wissenden Blick zu.
"Nimm dir, was du brauchst, Freder", sagte sie und deutete mit dem Kopf auf Brot, Käse und Butter und eine Flasche Wein, die sie auf einen der Tische nahe am Gästezimmer gestellt hatte.
"Du bist ein guter Junge, Freder."

Marga lächelte, als sie Freders verwundertes Gesicht sah und dann nahm sie schnell die Lampe, die neben ihr gestanden hatte und zog sich zurück, ehe Freder etwas erwidern konnte.
Der junge Hobbit sah ihr nach, bis sie durch die Tür des Wirtshauses verschwunden war. Marga und Fitz bewohnten eine Höhle gleich neben dem "Glücklichen Hobbit", aber viele Nächte verbrachten die beiden auch in diesem, denn wenn Gäste da waren, musste jemand im Hause sein und sei es auch nur, um die Weinfässer im Keller zu bewachen, denn mancher Gast legte keine sehr guten Manieren an den Tag, wenn er sich in Versuchung geführt sah.
Aber dieser Abend gehörte dank Freder für Marga und Fitz zu den geruhsamen in der eigenen Höhle.

Freder machte sich daran, die Lichter in der Wirtsstube zu löschen. Nur noch der Schein des glimmenden Kaminfeuers war da und Freder sah Schatten über die Höhlenwände huschen.
Manche schienen für wenige Augenblicke Gestalt anzunehmen, nur um dann wieder zu zerfließen, sich neu zu formen und wieder zu vergehen. Es war seltsam und Freder zog sich ein wenig beunruhigt in das Gästezimmer zurück, in dem das Kaminfeuer noch zünftig brannte und die langen Scheite knackten. Freder hatte sich Brot, Wein und Käse genommen und stellte alles auf einen recht breiten, dafür aber flachen Schrank, der als Nachttisch diente.

Dorthin hatte auch jemand den Mantel des Fremden gelegt und Freders Blick wurde wieder von der Brosche gefangen, die jetzt geöffnet auf dem dunklen Stoff zu schweben schien. Schnell wandte der Hobbit die Augen ab, er wollte nicht wieder Zeuge dieser seltsamen Schlacht sein, die ihm so greifbar in Erinnerung war, als sei er selbst dabei gewesen - denn hier gab es niemanden, der ihn in die Wirklichkeit zurückholen würde, wenn sein Geist erst einmal gefangen war und davor fürchtete er sich.

Um sich abzulenken, legte Freder einige Holzscheite nach und zog sich dann einen Stuhl an das Feuer. Versonnen sah er den Menschen an, der friedlich schlief und so gar nichts Unheimliches mehr an sich hatte, sondern eher etwas Verletzliches, das den Hobbit tief berührte.
Wer auch immer der Mann sein mochte, ihn umgab ein düsteres Geheimnis und Freder hatte das ungute Gefühl, dass mit dem Menschen eine Veränderung ins Auenland gekommen war, die so schnell nicht wieder in Vergessenheit geraten würde. Freder grübelte noch eine Weile vor sich hin und dann fielen ihm die Augen zu und ein tiefer, traumloser Schlaf hüllte ihn ein.

Als Freder am nächsten Morgen aufschreckte, war er einen Moment lang verwirrt. Das fahle Licht, das durch das kleine Fenster schien, das dem Kamin gegenüber die andere Wand der Höhle zierte, zeigte ihm nicht die vertraute Umgebung des Zimmers, das er in Leros Heim bewohnte, sondern fremde Umrisse, in Schatten getaucht.
Das leise Atmen eines zweiten Lebewesens ließ den Hobbit vollends wach werden.
Freder rieb sich die Augen und langsam erinnerte er sich. Leise rutschte er von seinem Stuhl und tappte durch das dämmrige Zimmer. Der erloschene Kamin spendete schon seit Stunden keine Wärme mehr, aber die Luft war immer noch angenehm.

Freder beugte sich zu dem Menschen hinunter und betrachtete ihn. Er lag noch immer so da, wie am Abend zuvor, jetzt war sein Gesicht jedoch von gesunder Farbe und zeigte einen entspannten Ausdruck.
Der Hobbit sah sich schläfrig um und sein Blick streifte den Mantel auf dem kleinen Schränckchen neben dem Lager des Mannes – und die Brosche auf dem dunklen Stoff und ehe Freder sich versah, war er schon drei Schritte gegangen.

Behutsam streckte Freder die Hand aus und griff nach dem Schmuckstück. Es war sehr leicht und seltsamerweise nicht kühl, wie er es erwartet hatte, sondern warm. Das Metall, das er für Silber hielt, schmiegte sich in seine Handfläche und erzeugte ein kaum wahrnehmbares Kribbeln, das sich bis in den Arm des Hobbits zog. Freder begann das Gefühl angenehm zu finden, aber plötzlich stieg ein Strudel aus Dunkelheit vor seinen Augen auf und er vernahm ein fernes Brausen, wie von einem starken Sturm oder einer Gewitterböe, die über das Land jagte und dann sah er etwas ...

"Ein schönes Stück, nicht wahr."
Freder fuhr erschrocken herum und fast ließ er dabei die Brosche fallen, die er behutsam auf der Handfläche gehalten hatte. Der Fremde war wach geworden und beobachtete ihn mit kritischen, aber nicht unfreundlichen Augen.
"Es ... es ist so ... seltsam", begann Freder verlegen. "Ich wollte die Brosche nicht nehmen, Herr!"
Der Mann lächelte leicht. "Das weiß ich ... und ich weiß auch, warum sie Euch anzieht. Sie ist von Elbenhand gefertigt, mein Freund. Die Elben haben sie mit Magie erschaffen und viel Traurigkeit und ihren Erinnerungen. Was Ihr seht, wenn Ihr sie berührt und Euch von ihr verzaubern lasst, ist längst vergangen – aber es wird niemals vergessen werden, solange noch einer von meinem Geschlecht lebt."

Der Mensch schaute durch Freder hindurch in weite Ferne, während er sprach und über seine Züge breitete sich Trauer aus, aber auch Entschlossenheit und eine innere Kraft wurde sichtbar, die den Hobbit in Erstaunen versetzte.
"Wer seid Ihr?" fragte Freder zaghaft.
Der Mann sah ihn einem Moment unergründlich an, dann sagte er: "Einstweilen will ich Euch nur meinen Namen nennen, denn was ich zu sagen habe, ist für die Ohren aller aus dem Kleinen Volk bestimmt. Ich bin Arvenor."

Freder nickte stumm und legte dann die Brosche vorsichtig wieder an ihren Platz. Nachdem er Arvenor einen letzten Blick zugeworfen hatte, verneigte er sich vor dem Menschen und verließ das Zimmer.
Arvenor sah dem jungen Hobbit nach und als sich die Tür leise hinter ihm schloss, ließ er sich wieder auf sein Lager sinken. Versonnen schaute er an die mit dünnem Holz ausgelegte Decke der Höhle und schüttelte langsam den Kopf.
"Wäre unsere Lage nicht so verzweifelt, so hätte ich niemals einen Fuß in dieses wundervolle Land gesetzt. Es ist wahrhaftig ein schwerer Gang", sprach er leise zu sich selbst und dann ergab er sich wieder dem Schlaf, denn bald würden die Hobbits kommen und ihre Fragen stellen und dann musste er gewappnet sein.
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